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Der Kandidat

SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier fällt die schwere Aufgabe zu, bei der Bundestagswahl aus einem Umfragetief heraus zu einer furiosen Aufholjagd zu starten - ähnlich wie sein Vorgänger Gerhard Schröder, der 2005 schließlich nur knapp den Sieg verpasste.

Von Wolfgang Labuhn | 04.09.2009
    Gestern Abend in Magdeburg:

    "Meine Damen und Herren, liebe Gäste der SPD!"

    Vierter Auftritt des SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier seit dem offiziellen Wahlkampfauftakt am vergangenen Montag. Mehrere Hundert Menschen haben sich eingefunden, doch der Magdeburger Domplatz ist höchstens halb gefüllt:

    "Liebe Gäste der SPD, liebe Freunde, die, die es angeht, auch ein herzliches: Genossinnen und Genossen ..."

    Routiniert hält der Hoffnungsträger der Sozialdemokraten eine halbstündige Rede mit lokalen und regionalen Bezügen, würdigt den Beitrag der Ostdeutschen zur deutschen Wiedervereinigung:

    "Nicht Helmut Kohl hat die Mauer eingerissen, sondern mutige Bürgerinnen und Bürger der damaligen DDR! Das bleibt so, das ist so, und das wird nicht umgeschrieben!"

    Steinmeier beschwört die Gefahr eines sozialen Kahlschlags im Falle einer schwarz-gelben Bundesregierung, wirft der CDU im Wahlkampf ein "lausiges Theaterstück" vor nach dem Motto: "Bloß nicht auffallen", lobt die Leistung der SPD bei der gegenwärtigen Krisenbewältigung, macht den Genossen Mut:

    "Das Wahlergebnis am 27. September wird ein anderes sein als die Umfragen von gestern und vorgestern. Ich sehe eine starke SPD am 27. September."

    Angriffe auf die Kanzlerin allerdings fehlen. Als Bundeskanzler Gerhard Schröder vor vier Jahren und ebenfalls in Magdeburg auf seine damalige Herausforderin Angela Merkel zu sprechen kam, klang das anders:

    "Diejenigen, die wie die Regierung Kohl, in der Frau Merkel war, die Entwicklung verschlafen hat, diese Verschlafenen von gestern sind nicht in der Lage, den Aufbruch von heute und morgen zu organisieren, meine Damen und Herren!"

    Jetzt muss Steinmeier den Schröder geben, muss er versuchen, aus dem Umfragetief der SPD heraus zu einer ähnlich furiosen Aufholjagd zu starten wie Schröder, der 2005 schließlich nur knapp den Sieg verpasste. Steinmeier lernte Schröder erstmals 1991 kennen, als er nach seinem Jura- und Politikstudium in Gießen Hilfsreferent für Medien- und Presserecht in der niedersächsischen Staatskanzlei wurde. Dort entdeckte der kurz zuvor zum Ministerpräsidenten gewählte Gerhard Schröder rasch die Talente des jungen Juristen. Rolf Kleine, Leiter des Hauptstadtbüros der "Bild"-Zeitung, der Steinmeiers Werdegang seit vielen Jahren beobachtet, über den SPD-Kanzlerkandidaten:

    "Zunächst einmal ist Frank-Walter Steinmeier ein nachdenklicher Mensch. Er ist jemand, der zunächst einmal zuhört und sich dann eine Meinung bildet, die aber weiter variabel ist. Wenn neue Argumente dazukommen, baut er sie ein und revidiert auch unter Umständen seine Meinung. Und dabei ist er ein Mensch, der, wie ich finde, immer eins geblieben ist durch seine verschiedenen Tätigkeiten hindurch, nämlich authentisch. Das ist keine Politikermaske, der wir hier begegnen, sondern es ist ein Mensch in einer Funktion, bei dem aber die äußere Wirkung den Menschen auch widerspiegelt."

    Steinmeier selbst sieht sich offenbar auch als Widerspiegelung jener Ecke Ostwestfalens, in der er 1956 geboren wurde und über die er in seinem autobiografisch geprägten Buch "Mein Deutschland - Wofür ich stehe" schrieb:

    "Unsere Gegend zwischen dem Teutoburger Wald und dem Weserbergland war nie wohlhabend gewesen. Das macht die Leute nicht gerade schwärmerisch. Karge Landstriche prägen ihre Charaktere. Wenn du etwas haben willst, musst du lange dafür arbeiten - auch das gehörte bei uns zu den Lehren. Es erzog zur Beharrlichkeit, dazu, die Dinge langfristig zu betrachten und nicht in Unruhe und Übereifer zu verfallen, wenn etwas nicht sofort klappt."

    Brakelsiek heißt der kleine Ort in der Nähe von Detmold, in dem Steinmeier als Sohn eines Tischlers und einer aus Schlesien stammenden Fabrikarbeiterin aufwuchs:

    "Ich komme aus einer Familie, zu denen sagt so gemeinhin, stammt aus kleinen Verhältnissen - was ja eigentlich so gar nicht stimmt, weil die Anforderungen, die Herausforderungen, die dort in der deutschen Provinz und überall anders in Deutschland zu bewältigen sind, nicht wirklich klein sind. Und sie waren insbesondere nicht klein in den 50er Jahren."

    Eine ideologische Verortung, die er nach Ansicht Rolf Kleines mit seinem langjährigen Chef teilt:

    "Die ist im Grunde genommen ganz ähnlich der des Gerhard Fritz Kurt Schröder aus Mossenberg, was, glaube ich, 15 Kilometer von Brakelsiek entfernt ist. Das Herkommen aus kleinen Verhältnissen und der Beweis, dass es möglich ist, daraus etwas relativ Großes, etwas relativ Ordentliches zu machen und - daraus abgeleitet - die Forderung, dass anderen das auch möglich sein muss, also die Frage beispielsweise der Gebührenfreiheit von Studium bzw. der Gebührenfreiheit vom Kindergarten bis zum Studium - das ist für ihn keine Folie, das ist für ihn keine Masche, das ist für ihn keine politische Grille, sondern das ist eine ganz tief verwurzelte Forderung, hinter der er voll und ganz steht, genauso wie Schröder. Niemand darf wegen seines Herkommens benachteiligt sein, ob das in der Gesundheitspolitik ist, ob das in der Bildungspolitik ist oder ob das andere Themenfelder sind. Das ist bei ihm wirklich ein Herzensanliegen."

    Frank-Walter Steinmeier: "Ich selbst bin zur SPD gekommen vielleicht gar nicht so sehr mit Blick auf Ostpolitik Willy Brandts. Das hat auch eine Rolle gespielt, aber ich gehöre zu jener Generation, die ihren Weg machen konnten, weil es eine sozialdemokratische Bildungsoffensive in den späten 60er Jahren gab, in den frühen 70er Jahren. Und hätte es sie nicht gegeben, hätte es kein Schüler-BAföG gegeben und keine Studienförderung, dann säße ich nicht hier und vieles andere auf meinem Lebensweg wäre auch nicht möglich."

    Steinmeiers Ansichten zu diesem Thema bilden auch einen zentralen Teil des SPD-Wahlprogramms, das er als Kanzlerkandidat im April dieses Jahres präsentierte:

    "Wir wollen Gebührenfreiheit vom Kindergarten bis zur Universität. Das ist und bleibt unsere Forderung. Deshalb sind wir nicht nur für BAföG, liebe Freunde, deshalb kämpfen wir gegen Studiengebühren. Und das ist mehr wert als folgenlose Steuersenkungsparolen, davon bin fest überzeugt!"

    Doch eine solche biografische Begründung einer politischen Grundüberzeugung gelingt bei Steinmeier nicht oft. Überhaupt wusste man wenig über ihn, bis er 2005 als Außenminister ins politische Rampenlicht trat und nach Franz Münteferings Rückzug aus dem Kabinett 2007 auch Vizekanzler wurde. Als rechte Hand Gerhard Schröders in der niedersächsischen Staatskanzlei und später im Bundeskanzleramt hatte er sich im Hintergrund gehalten. Effizient, aber für die Öffentlichkeit fast unsichtbar koordinierte er die Arbeit erst der niedersächsischen Landesregierung, dann des rot-grünen Bundeskabinetts. Sein Name ist mit den Verhandlungen über den deutschen Atomausstieg ebenso verbunden wie mit der Reformagenda 2010.

    Dass er daneben auch ein Privatleben hatte, erfuhr man erst, als der Kanzlerkandidat die potenzielle First Lady präsentierte - die Verwaltungsrichterin Elke Büdenbender, mit der er seit 1995 verheiratet ist und mit der eine Tochter im Teenageralter hat. Und es kam schon einer kleinen Sensation gleich, als das Ehepaar Büdenbender-Steinmeier im Juni in der ZDF-Talkshow "Johannes B. Kerner" auftrat. Man erfuhr, wie Elke Büdenbender ihren künftigen Gatten traf, als sie an der Universität Gießen im 2. Semester Jura studierte, während Frank-Walter Steinmeier dort bereits Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Wissenschaftliche Politik war:

    "Da ist er mir schon aufgefallen, weil er so unglaublich freundlich und ansprechbar war. Er saß überhaupt nicht auf irgendeinem hohen Roß, sondern man hatte das Gefühl, der hört zu, man kann ihn fragen, er ist zugänglich."

    In derselben Sendung erlebte eine breitere Öffentlichkeit, dass der oft als hölzerner Beamtentyp beschriebene Steinmeier auch durchaus witzig und schlagfertig sein kann, als er etwa seine schlohweißen Haare auf den Stress einer Augenoperation zurückführte:

    Frank-Walter Steinmeier: "Wenn die Mediziner recht haben, gibt es solche Stressfaktoren, die sich dann so auch auf die Haarpigmentierung auswirken."
    Johannes B. Kerner: "Aber Sie sind zufrieden, so wie es ist? Es wird nicht gefärbt?"

    Frank-Walter Steinmeier: "Vor allem bin ich mit den Augen zufrieden."

    Doch diese Seite Steinmeiers, der im kleinen Kreis auch gerne zur Zigarette und zum Bier greift, bekommt die Öffentlichkeit nur selten zu sehen. Auch sein Wirken als Bundesaußenminister spielte sich zumeist hinter den Kulissen ab, bei geduldigen Gesprächen im Nahen Osten, beim Bemühen, im Atomstreit mit dem Iran für eine geschlossene Haltung der Völkergemeinschaft zu werben, bei langen Nachtsitzungen auf EU-Gipfeltreffen:

    "Für mich war der glücklichste Zeitpunkt der deutschen Außenpolitik der Tag, an dem wir nach langen Kämpfen und Streitigkeiten in einer europäischen Nacht die politische Einigung über den europäischen Reform-Vertrag erreicht haben und damit 90 Prozent dessen, was für eine europäische Verfassung erarbeitet worden ist, jetzt in Kraft treten kann."

    Hinter den Kulissen war Steinmeier als Kanzleramtschef auch an einer Entscheidung beteiligt, die ihm heftige Vorwürfe in der Öffentlichkeit und diverse Auftritte vor einem Bundestagsuntersuchungsausschuss einbrachte, sich nämlich gegen die Rückkehr des im US-Gefangenenlager Guantanamo schmorenden Bremer Türken Murat Kurnaz nach Deutschland ausgesprochen zu haben. War es das schlechte Gewissen des Sozialdemokraten Steinmeier, das ihn in dieser Sache später dünnhäutig erscheinen ließ?

    "Die lange Leidensgeschichte von Herrn Kurnaz in Guantanamo ist erschütternd und lässt auch mich in der Tat nicht kalt. Aber daraus den Vorwurf abzuleiten, die deutsche Bundesregierung sei dafür verantwortlich - das ist doch erstens falsch und schlicht auch infam!"

    Doch das interessiert seit dem 7. September 2008 kaum noch jemand, seit jener SPD-Klausurtagung am Schwielowsee bei Potsdam, als Parteichef Kurt Beck entnervt zurücktrat. Steinmeiers Rolle beim Sturz Becks ist unklar. Keinen Zweifel ließ er jedoch daran, wie er die ihm angetragene Kanzlerkandidatur betrachtete:

    "Ich trete, das kann ich Ihnen versichern, nicht an, um auf Platz zu spielen. Wir werden gemeinsam und geschlossen dafür kämpfen, dass in 365 Tagen wieder ein Sozialdemokrat Deutschland regiert."

    Steinmeier hatte sich während seiner politischen Karriere noch nie einer Wahl gestellt, auch die Ochsentour durch die Parteigliederungen vermieden. Nun kandidiert er gleich doppelt - für den Bundestag in einem Wahlkreis in Brandenburg, ein Selbstläufer. Und für das höchste Regierungsamt - die bislang größte Herausforderung. Gespannt beobachten Chronisten der Berliner Republik, wie sich der als Außenminister international hoch angesehene Mann aus Brakelsiek nun im Härtetest auf den Plätzen und in den Hallen des eigenen Landes bewährt:

    "Was ihm bisher noch etwas gefehlt hat, war der Umgang mit Öffentlichkeit, die Ansprache von großen Marktplätzen, von großen Hallen, das Reden vor sehr vielen Menschen, das Zuspitzen, was in der Politik und im Wahlkampf zumal natürlich unumgänglich ist. Aber Frank-Walter Steinmeier hat immer bewiesen, dass er ein sehr schnell lernfähiges System ist", "

    meint Rolf Kleine. Das wahlkämpfende System Steinmeier imitierte freilich zunächst unverkennbar seinen politischen Lehrmeister. Fremden Menschen bei der Begrüßung auf die Schulter klopfen, laut meckerndes Lachen bei jeder Gelegenheit:

    " "Oh, das ist ja nett, dass wir uns hier mal getroffen haben ... Ja dass Sie extra gekommen sind ...(Lachen) ... Viel Spaß noch!"

    Und Steinmeiers erster Auftritt als Kanzlerkandidat im bayerischen Landtagswahlkampf in einem Regensburger Bierzelt im September 2008 hätte auch einer Gerhard Schröders sein können:

    "Wir Sozialdemokraten, wir wollen ein Land, in dem die Starken den Schwachen helfen und in dem wir den Schwachen helfen, stark zu werden. Das ist unsere Idee, das treibt uns jeden Tag an in Regensburg und in Berlin."

    Und war es Gerhard Schröders höchst medienwirksames Engagement bei der zeitweiligen Rettung des Holzmann-Konzerns, die Steinmeier schon früh vor das Werktor der bedrohten Adam Opel AG in Rüsselsheim trieb?


    "General Motors hat lange und vor allen Dingen gut mit Opel verdient. Die europäischen Standorte jetzt sozusagen wie eine ausgepresste Zitrone wegzuwerfen - das wäre eine Zumutung, das wäre unanständig, und wir erwarten von dem Management von General Motors Verantwortung für die Zukunft von Opel, liebe Kolleginnen und Kollegen."

    Doch Steinmeier ist nicht Schröder.

    "Frank-Walter Steinmeier ist sehr, sehr akribisch, sehr, sehr genau, sehr, sehr kenntnisreich, hochintelligent, blitzgescheit. Er versteht auch den politischen Betrieb, jedenfalls in dessen operativen politischen Teil. Aber er hat Schwierigkeiten mit dem Teil der Politik, der was mit der Rampe zu tun hat, also der Bühne, mit den Marktplätzen. Er versucht, diese Attitüde einzunehmen. Er hat ja eine Zeit lang fast schon wie eine persiflierende Kopie von Gerhard Schröder geredet. Er hat versucht diesen Impetus, diese Stimme zu imitieren", "

    so der "Spiegel"-Reporter Christoph Schwennicke zum Versuch Steinmeiers, als Wahlkämpfer endlich aus Schröders Schatten zu treten. Der "Bild"-Korrespondent Rolf Kleine gelangt zu einem ähnlichen Urteil:
    " "Frank-Walter Steinmeier ist ein Mensch, der immer überzeugen will und der immer glaubt, dass - wenn die Vernunft nur einfach sich Bahn bricht - die Menschen schon von selbst darauf kommen, dass ein Weg richtig oder eine Entscheidung richtig oder falsch ist. Er ist niemand, der Leute überrumpelt, so wie das Gerhard Schröder gewesen ist. Er ist niemand, der versucht, mit Polemik Leute auf seine Seite zu ziehen nach dem Motto: Die merken das sowieso nicht. Er ist jemand, der einfach glaubt, dass - wenn die Vernunft Platz greift - die Menschen zu den richtigen Entscheidungen kommen."

    Doch der Kandidat scheint hinzuzulernen. Schon auf dem SPD-Wahlparteitag eine Woche nach der verheerenden Niederlage der Sozialdemokraten bei der Europawahl im Juni bewies Steinmeier, sonst ein Großmeister des von Interviewern gefürchteten komplizierten Satzbaus, mit einer fulminanten Rede, dass er zumindest das eigene Lager begeistern und motivieren kann. Nun muss er noch die Wählerschaft überzeugen:

    "Guten Abend, Hannover!"

    Auf der Auftaktveranstaltung zur heißen Phase des Bundestagswahlkampfes am vergangenen Montag zeigte Steinmeier, dass ihm auch Populismus nicht fremd ist:

    "Dass da auf der einen Seite eine Kassiererin, die mit einem Pfandbon von 3 Euro 50 erwischt wird, fristlos entlassen wird und ein Manager, der vorher für sein Unternehmen Milliarden versenkt hat, dann auch noch steuerbegünstigt mit der Abfindung nach Hause geht - das kann keine Gesellschaft aushalten, meine Dame und Herren, da müssen wir etwas ändern!"

    Was, das sagte er nicht. Aber:

    "Das Signal von Hannover ist klar, meine Damen und Herren. Die SPD ist zurück! Die SPD will siegen, und seid sicher: Die SPD kann siegen, meine Damen und Herren!"

    Doch ob auch Steinmeier siegen kann, versehen professionelle Beobachter wie Christoph Schwennicke mit einem Fragezeichen:

    "Den ersten Fehler hat Frank-Walter Steinmeier für meine Begriffe schon damals am Schwielowsee gemacht. Denn am Schwielowsee lag plötzlich nicht nur die Kanzlerkandidatur auf dem Tisch, sondern ganz überraschend auch der Parteivorsitz. Und für meine Begriffe hätte er damals nicht sagen sollen: Ich mache es nur mit Franz Müntefering, sondern er hätte sagen sollen, sagen müssen meiner Ansicht nach: Dann mache ich jetzt beides, den Parteivorsitz und die Kanzlerkandidatur. Das hat auch eine natürliche, organische Verbindung, ist die ideale Machtposition. Schon da hat sich aber für meine Begriffe die politische Schwäche des großartigen politischen Beamten Frank-Walter Steinmeier offenbart, nämlich der fehlende Machtinstinkt und der fehlende Wille, dann wirklich auch sich alles zu nehmen, wenn alles zu haben ist."

    Und daran hat sich nach Schwennickes Ansicht seitdem auch nichts geändert. Aktuelles Beispiel: die sogenannte "Dienstwagen-Affäre" von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, die Steinmeier nach einigem Zögern schließlich doch in sein Kompetenzteam berief:

    "Hier hat er gewartet, erst wie Ulla Schmidt sich äußert und dann, wie der Bundesrechnungshof beurteilen würde. Das ist nicht Führung, das ist kein Machtwille, das ist Abwarten, das ist Zaudern, das ist sehr redlich, aber nicht politisch."

    Die entscheidende Frage aber stellt jemand, der den Menschen, Beamten und Politiker Frank-Walter Steinmeier schon seit der Gießener Studienzeit kennt - Justizministerin Brigitte Zypries:

    "Es ist ja im Grunde, muss man sagen, auch nie von irgendjemandem bestritten worden, dass Frank-Walter Steinmeier ‚Kanzler kann'. Die Frage war ja immer: Kann er Kandidat sein?"

    Zögernd etwa wendet sich der Kandidat und Vizekanzler nun der delikaten Aufgabe zu, im Wahlkampf seine eigene Regierungschefin und möglicherweise auch künftige Partnerin in einer großen Koalition herauszufordern. Auch hier bleibt er argumentativ, meidet er den Frontalangriff auf Angela Merkel:

    "Als die Krise losging im vergangenen September, hat Peer Steinbrück gesagt, wir brauchen eine Sicherung der Spareinlagen. Was hat Frau Merkel gesagt? Finde ich auch. Dann, als die Lage schwieriger wurde, und als die Renten gekürzt zu werden drohten, da hat Olaf Scholz gesagt, wir brauchen eine Rentengarantie. Und da hat Frau Merkel gesagt, finde ich eigentlich auch."

    Nur einmal, lange vor dem Bundestagswahlkampf, feuerte Steinmeier eine echte öffentliche Breitseite auf die Kanzlerin ab, nachdem deren Empfang des Dalai Lama im Kanzleramt zu einer Verstimmung im deutsch-chinesischen Verhältnis geführt hatte:

    "Menschenrechtspolitik ist keine Schaufensterpolitik. Wir fordern Menschenrechte nicht für die schnelle Schlagzeile zuhause, sondern um Menschen, die in Unfreiheit leben müssen, die politisch verfolgt werden, konkret zu helfen."

    Hier entsprang die Empörung nicht Wahlkampfkalkül, sondern diplomatischem Entsetzen - und gewiss auch persönlicher und politischer Überzeugung auf der Grundlage seiner sozialdemokratischen Wertevorstellungen. Und mit diesen Pfunden könnte er eigentlich wuchern, so Christoph Schwennicke:

    "Er hat eine inhaltliche Grundierung und er hat eine persönliche Grundierung, und auf dieser Grundierung Farbe aufzutragen, ist einfacher, als im Zweifel die ganze Leinwand wegzuwerfen und eine neue anzufangen. Ich glaube, das ist ein Momentum, mit dem er auch spielen kann, mit dem er auch agieren kann, auch im Wahlkampf. Ob das am Ende verfängt, ob das transportabel ist, ob die Menschen das merken, ob die Menschen das begreifen oder überhaupt wollen, ist eine ganz andere Frage. Das wird sich am 27. September entscheiden."