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"Der Kick"

In Potzlow ermordeten drei junge Männer im November vor zwei Jahren den 16-jährigen Marinus Schöberl auf brutalste Art und Weise. Der Filmemacher und Autor Andres Veiel, der mit "Black Box BRD" einen Film über die RAF drehte, hat zusammen mit Gesine Schmidt monatelang Recherchereisen nach Potzlow unternommen. Herausgekommen ist eine Art Dokumentarttheater, das am Samstag am Theater in Basel uraufgeführt wurde.

Von Christian Gampert | 24.04.2005
    Aus unendlich vielen Gesprächsprotokollen, aus 1500 Seiten transkribiertem Text haben der gelernte Dokumentarfilmer Andres Veiel und die Dramaturgin Gesine Schmidt einen Theaterabend montiert, der nur noch 40 Seiten umfasst. Eine immense Fleißarbeit, das Eindampfen der so genannten Realität, der immer auch verzerrten, schrägen Zeugenschaft, die sich aus Interviews, Zeitungsartikeln und Polizeiverhören zusammensetzt, zu einem lakonischen, nüchternen Bild. Veiel sagt im Programmheft, er sei zu den Eltern und Freunden der rechtsradikalen Täter von Potzlow, 60 Kilometer von Berlin entfernt in der Uckermark gelegen, zunächst einfach so hingegangen, um Kontakt zu bekommen; erst beim vierten Besuch habe er sich überhaupt getraut, ein Mikrofon mitzubringen.

    Obwohl "Der Kick" von Anfang an ein Theaterprojekt war, hat es den Anschein, als hätte man die Bewohner von Potzlow, die da zum Reden gebracht werden, sowieso nie vor eine Kamera setzen können, ohne diese Menschen für ihr restliches Leben zu desavouieren. Zudem: Eine Verschlossenheit aufbrechen, das geht nicht mit Kamera, das geht nur mit Vertrauen. Welt-Vertrauen aber ist das, was all den Interviewten völlig fehlt, die den Mord an einem 17-jährigen entweder begangen oder mitangesehen oder beschwiegen haben und nun auch im Rückblick allerlei Beschwichtigungs- und Verharmlosungsformeln finden. Projektion und Verdrängung: "Wir haben unsere Kinder gut erzogen", sagen die Eltern der Täter. Der Marinus, das Opfer, der hat ja auch geklaut. Er war schon ein bisschen seltsam, hat gestottert, sich die Haare wasserstoffblond gefärbt, statt Glatze zu tragen. Was ihn dazu prädestinierte, für die Altersgenossen zum Juden zu werden, den man aus einer Augenblickslaune heraus vernichten muss, aus Langeweile, Überdruck, aus einer hochgedrehten, alkoholisch umnebelten, sich verselbständigenden Situation heraus.

    Wie bekommt man den ultimativen Kick? Indem man seinen Frust und seine inneren Ängste an anderen ablässt, sie in den Beton eines Futtertrogs beißen lässt und ihnen auf den Kopf springt. Das tut man natürlich nicht allein, sondern im Rudel - und mit stummer Billigung der Erwachsenen, die hinterher nichts gesehen und gehört haben. Wie kann man das aufs Theater bringen? Andres Veiel hat sich für eine asketische, strenge, brechtische, mönchische Form entschieden: er steckt die beiden Schauspieler Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch in schwarze Kleider und lässt sie, mit virtuos wechselndem Sprachgestus, in einer leeren Fabriketage, einer früheren Druckerei die Protokolle sprechen. Das sind jeweils sehr grobe Andeutungen einer Figur, pubertär berlinernd oder kleinlaut wie die Jugendlichen, depressiv enttäuscht wie die ältere Generation dieser arbeitslosen Wende-Verlierer aus Potzlow, selbstgerecht wie der Staatsanwalt.

    Ein in die Tiefendimensionen gehendes Psycho-Portrait einer rechtsradikal verseuchten, verwahrlosenden Ex-DDR-Subkultur hätte das werden können - aber Veiels Stück kratzt nur ein bisschen an der Oberfläche. Das liegt einmal an der monologischen Struktur: Veiel bietet Archivmaterial, ein Hörspiel, und begibt sich des wichtigsten Theatermittels überhaupt, des Dialogs. Im Vergleich zu den immer unter Sozialkitsch-Verdacht stehenden Stücken wie Nigel Williams’ "Klassenfeind" kommt das bewusst klösterlich daher, und man erhält so ein grobes Raster des Unterschichtdenkens, erfährt aber nichts über die Entstehung individueller Bösartigkeit. Im Vergleich zu den frühen Faßbinder-Filmen, den großen Sozialstudien von Franz Xaver Kroetz, den Stücken Edward Bond, in dessen "Gerettet" ein Baby von Jugendlichen gesteinigt wird, selbst im Vergleich mit Romuald Karmakars Verhörstudie über den Massenmörder Haarmann wirkt Veiels Doku-Stück wie ein Aktenberg, wie ein pietistisches Exerzitium. Und es transportiert auch eine falsche Theorie: es sind nämlich nicht nur die gewaltbestimmten Verhältnisse, die die Menschen böse machen, wie Veiel uns weismachen will; es sind ja auch, ein bisschen wenigstens, die Individuen, die ihre Geschichte selbst gestalten.

    Das Theater handelt mit Individualität. Veiel handelt, hier wenigstens, mit sozialen Klischees und der Erkenntnis, dass die deutsche Welt grau, banal und böse ist. Das ist nicht genug.