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Der Klang der Geschichte

Stimmen und Töne sind wichtige Quellen für Historiker. Aber auch Beschreibungen vom Lärm in einer Stadt oder die Wirkung einer 60 Jahre alten Rede. Erst in den letzten Jahren hat sich das Forschungsfeld in Deutschland etabliert. Auf dem Deutschen Historikertag präsentierten Geschichtswissenschaftler den aktuellen Stand der Sound History.

Von Barbara Weber | 04.10.2012
    "Eine Sache, die wir uns als Zeithistoriker bewusst machen müssen ist, dass uns Geschichte auch akustisch präsent ist","

    sagt Dr. Daniel Morat, Historiker an der Freien Universität Berlin.

    ""Wir leben mit überlieferten Klängen, und wir verbinden mit bestimmten historischen Ereignissen auch ganz bestimmte historische Klänge. Es gibt ganz berühmte Zitate: 'Ich bin ein Berliner' oder 'Wollt Ihr den totalen Krieg?', also es gibt so bestimmte Sätze, die hören wir alle, wenn wir sie zum Beispiel auch lesen, und die lösen in uns eine andere Art von Präsenz von Geschichte aus als nur das geschriebene Wort."

    Sätze von Kennedy, Goebbels oder das Tor von Rahn bei der Weltmeisterschaft 1954, für die damaligen Radiohörer präsentiert in einer unvergessenen Reportage, verkörpern mehr als klingende Geschichte: Sie spiegeln Lebensgefühl und Alltag von Generationen. Diejenigen, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben, werden nie mehr vergessen, wie Luftschutzsirenen und Geschützdonner klingen. Elvis Presley symbolisiert mit seinen Melodien eine andere Epoche als der Künstler Michael Jackson. Der Soundtrack der späten 1960er und frühen 70er-Jahre lieferte die Begleitmusik zu mancher Demo, und wer sein Leben lang am Hochofen gearbeitet hat, weiß, wie es klingt, wenn sich das glühende Metall in die Form ergießt.

    All das ruft ein historisches Wissen hervor - eine Erkenntnis, die erst in den letzten Jahren auch hierzulande den Weg in die Forschung fand
    Woran liegt es, dass die auditive Dimension der Geschichte erst jetzt von den Historikern entdeckt wird?

    "Da gibt es eine theoretische und eine pragmatische Antwort","

    meint der Historiker.

    ""Die theoretische ist die, dass es durchaus die Annahme gibt, dass die Moderne durch eine Hegemonie des Visuellen gekennzeichnet sei, dass also in der Moderne die Wissensübermittlung und –produktion durch Bilder vorherrschend gewesen ist, das wird dann zurückgeführt auf die Erfindung des Buchdrucks, auf die Entdeckung der Perspektive in der Renaissance, und dann geht man davon aus, dass in der Moderne die Bilder besonders wichtig sind oder das Sehen, und deswegen hat man sich lange Zeit vor allen Dingen damit beschäftigt. "

    Und die pragmatische Antwort?

    "Dass es schwieriger ist, sich mit Klängen zu beschäftigen als Historiker. Wir sind gewohnt, Texte zu analysieren. Wir haben in den letzten Jahren gelernt, auch Bilder zu analysieren. Aber da hat man immer einen konkreten Gegenstand vor sich während der Klang von sich aus flüchtig ist."

    Wie lässt sich Klang aus der Zeit reproduzieren, in der es noch keine Tonträger gab? In der Musikwissenschaft scheint das kein Problem zu sein. Es gibt Noten, die die Grundlage für die Aufführung eines Musikstücks bilden. Wenn man zum Beispiel wissen will, wie etwa die Musik zur Zeit Friedrichs II. geklungen hat, bietet sich eine möglichst originalgetreue Aufführung an, gespielt auf alten Instrumenten jener Zeit.

    Aber was ist mit jenen Klängen, die damals den Alltag bestimmten? Anders als die heutigen lassen sich historische Alltagsgeräusche schwer hörbar machen.

    So klingt eine moderne Großstadt, zum Beispiel Berlin. Um allerdings herauszufinden, wie eine Großstadt um 1800 geklungen hat, müssen Historiker auf andere Quellen zurückgreifen.

    Dr. Jan-Friedrich Missfelder, Historiker an der Universität Zürich, erforscht die Klanggeschichte Zürichs während der "Sattelzeit", das ist die Zeit zwischen Früher Neuzeit und Moderne. Da keine Klangkonserven aus jener Zeit existieren, nutzt Missfelder andere Quellen: zum Beispiel einen Roman von Gottfried Keller mit dem Titel "Der grüne Heinrich".

    Der Protagonist der Geschichte nähert sich auf einem Boot der Stadt und beobachtet auf der Straße am Ufer zunächst einige Honoratioren, die von Passanten gegrüßt oder ignoriert werden. Dann fährt er fort:

    "Jetzt ertönt das Getöse des Marktes von einer breiten Brücke über unserem Kopfe. Gewerk und Gewerb summt längst des Flusses und trübt ihn teilweise bis die rauchende Häusermasse einer der größten industriellen Werkstätten voll Hammergetönes und Esse sprühend das Bild schließt."

    Gottfried Keller koppelt die Wahrnehmung mehrerer Sinnesreize. Er beschreibt ein Bild und setzt es durch eine Klangkulisse gleichzeitig in Szene. Die Wissenschaftler nennen so etwas Synästhesie.

    "Ein pfeilschnell vorüber geflossenes Gemälde ist die Stadt, aber ein Gemälde zusammengesetzt aus Höreindrücken","

    sagt Jan-Friedrich Missfelder.

    "Vom Boot aus ist ein Zürich der ökonomischen und infrastrukturellen Moderne zu hören, exemplifiziert durch die Werkstätte der Maschinenfabrik Escher Wies, neben welcher Kellers akustisches Porträt der politischen Ordnung Zürichs um die Mitte des 19.Jahrhunderts, in welcher die regierende Elite 'gegrüßt oder ungegrüßt ihr Amt ausübt', sozusagen fast als alteuropäisches Relikt erscheint."

    Gottfried Keller beschreibt die Eidgenössische Variante aus erfolgreicher industrieller und gescheiterter politischer Revolution, denn nach einem kurzen republikanischen Intermezzo regieren in Zürich wieder restaurative Kräfte.

    Kellers Reisender deutet die von ihm wahrgenommenen akustischen Signale. Nur sie weisen auf die politischen, sozialen und ökonomischen Strukturen jener Zeit.

    Dr. Daniel Morat von der Freien Universität Berlin schließt mit seinen Studien der "Kulturen des Auditiven in Berlin und New York 1880-1930" zeitlich an:

    ""Meine Frage ist einfach, wie sich diese enorme Verdichtung des Verkehrs der bebauten Umgebung, der Menschen, die auf der Straße unterwegs waren, wie sich das eigentlich ausgewirkt hat auf die Klangumwelt und welche kulturellen Folgen das dann wieder hatte, welche sozialen, wie sind die Leute damit umgegangen?"

    Ein Ergebnis der noch laufenden Untersuchung: Der Vergleich zwischen der historischen Lärmbelästigung in einer Großstadt mit der von heute, fällt anders aus als zunächst erwartet.

    "Eigentlich würde ich davon ausgehen, dass es leiser geworden ist - um 1900 waren die Großstädte lauter als heute - also erstens sehr viel unternommen worden ist, um diesem Lärmproblem zu begegnen. Motorengeräusche waren damals noch nicht so verbreitet, aber die Gummibereifung zum Beispiel hat eine enorme Lärmreduzierung gebracht."

    Und außerdem ist das Leben auf der Straße nicht mehr so vielfältig wie damals: Es gibt Fußgängerzonen, da hat man dann nicht die Verkehrslärmproblematik, und es gibt die Verkehrsstraßen, die Autostraßen, auf denen dann aber auch nicht so viel anderes stattfindet. Das Durcheinander und die Gleichzeitigkeit von Pferdekutschen, Straßenbahnen, ersten Automobilen, Händlern, Straßenmusikanten, Passanten, auf Kopfsteinpflaster mit Metall beschlagenen Reifen. Das war sehr viel stärker verdichtet und hat dadurch einen sehr viel höheren und auch sehr vielschichtigeren Klang- oder Geräuschpegel hergestellt.

    Auch im historischen Berlin und New York beklagen Zeitgenossen diesen vielschichtigen Klang- und Geräuschpegel. Mit einzelnen Klängen verbanden sie aber auch eine bestimmte Bedeutung.

    Schon Ende des 18. und zu Beginn des 19.Jahrhunderts gab es Versuche, alt vertrauten Klängen eine neue Bedeutung zu geben, wie ein Beispiel aus Frankreich
    zeigt:

    "Das hat der französische Historiker Alain Corbin untersucht in seiner Studie über die Sprache der Glocken. Der hat untersucht, wie nach der französischen Revolution das Nationalkomitee, also die Revolutionäre, versucht haben, die Bedeutung der Kirchenglocken zu verändern, weil natürlich die Französische Republik gänzlich säkular sein sollte. Und zum Teil wurden dann Kirchenglocken eingeschmolzen, ganz entfernt, aber vor allen Dingen gab es die Versuche, dieses Kirchengeläut umzudeuten, also man sollte dann eben nicht mehr zu christlichen Feiertagen läuten sondern zu Republikfeiertagen und Ähnliches."

    "Und da hat Corbin sehr schön gezeigt, dass das eigentlich nicht funktioniert hat, also dass das Kirchengeläut für die Gemeinden im ländlichen Frankreich so eine hohe Bedeutung hatte, nicht allein weil es religiös war, christlich konnotiert, sondern auch, weil es eine praktische Funktion zur Einteilung des Alltags hatte, morgens auf das Feld, abends zurück, das sind alles Sachen, die dann auch durch die Glocken gesteuert waren, und der Versuch von oben diese symbolische und auch alltagspraktische Bedeutung der Glocken umzudeuten, hat in der Regel nicht funktioniert."

    Andere Beispiele zeigen, dass Klänge sich sehr wohl umfunktionieren lassen. So gibt es Musikstücke, die im historischen Prozess zum Beispiel als propagandistische Waffe genutzt wurden. Prof. Gerhard Paul von der Universität Flensburg zeigt das an einem Beispiel:

    "Ein schönes Beispiel für den Gebrauch von Musik ist dieses bekannte, relativ kurze Stück von Richard Wagner, der Walkürenritt, Vorspiel zum 3.Akt seiner Oper Walküre Teil Ring des Nibelungen, ein ausgesprochen tonmalerisches Stück, das eine interessante Karriere in Film und Politik gemacht hat. Dieses Stück von Wagner schafft es, um das auf eine griffige Formel zu bringen, im Grunde aus dem Orchestergraben des 19. Jahrhunderts auf das Schlachtfeld des 21. Jahrhunderts."

    Während Musikwissenschaftler sich überwiegend mit einem Tonstück als solchem beschäftigen, ist für Historiker interessant, wann und wie es eingesetzt wird.

    Gerhard Paul hat recherchiert, dass der Walkürenritt zum ersten Mal während des Ersten Weltkrieges als Filmmusik auftaucht. Wagners tonmalerische synästhetische Musik eignete sich als Begleitung von Stummfilmen des ausgehenden 19. beginnenden 20. Jahrhunderts.

    "Ist sehr populär gewesen, Wagner in den USA, hat zum hundertjährigen Jubiläum der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ein Marsch komponiert, ist in Amerika sehr breit rezipiert worden, und taucht nun mit seinem Ritt der Walküren in dem ersten großen Geschichtsfilm, den es überhaupt gibt, Birth of a Nation, 1915 wieder auf, wo ein Film, ein sehr rassistischer Film, wo im Grunde die Geschichte der Südstaaten heroisiert wird. Und wir sehen oder wir hören die Wagnermusik zu den Bildern des Ritts der Ku-Klux-Klan Männer, die gegen eine Kohorte von befreiten Sklaven anreiten. Der Regisseur und der Filmkomponist benutzen diese Musik, um den Ku-Klux-Klan zu verherrlichen."

    Dieser Film ist im Deutschland der 20er-Jahre recht populär. Der Historiker vermutet, dass die Regisseure und Komponisten der deutschen Wochenschau des Zweiten Weltkrieges, diese Nutzung kannten.

    "Der Walkürenritt taucht nämlich dann zu Beginn des Krieges auf bei den großen deutschen Kriegswochenschauen, beim Überfall auf Kreta, beim Überfall auf Stalingrad, beim Überfall auf die Bahnlinie Moskau-Leningrad, und sie machen aus dieser Musik was ganz Neues: Wenn man diese Musik hört, dann hören sie lange Pfeiftöne, sie hören Sirenentöne, und das wird im Grunde gemischt mit dem Geräusch der startenden Sturzkampfbomber. Manchmal sind die Motorengeräusche nehmen Überhand oder das Abwehrfeuer, dann wird wieder in den Walkürenritt reingeblendet. Im Grunde ist es eine Neukomposition, wo die modernen Aufnahmetechniken des Radios oder des Films verkoppelt werden mit der Originalmusik."

    Schon vor dem Krieg - so der Historiker - legten die Nationalsozialisten ein großes Tonarchiv an, um die Wochenschauen komplett nachzusynchronisieren. Die Filme funktionierten nur mit dem Ton, der so prägnant ist, dass er auch ohne Bild beeindruckt.

    Diese Propagandastreifen haben den Walkürenritt in die Populärkultur eingeführt. Es bedienen sich dann nach dem Zweiten Weltkrieg sehr viele bekannte Filme wie "Eins, Zwei, Drei" von Billy Wilder oder "Achteinhalb"von Federico Fellini der Komposition.

    "Und die eigentliche Karriere macht er dann Ende der 70er-Jahre bei Francis Coppola 'Apokalypse Know', der sehr ähnlich diese Wagnermusik benutzt beim Angriff einer Hubschrauber Kavallerie, bei der Air Cavallery No One, auf einen Strandabschnitt, auf ein kleines Dorf in Vietnam. Und er benutzt jetzt die Musik wieder als Hintergrund, mischt sie aber mit den neuen Tönen des Krieges, also mit den Rotorengeräusch der Hubschrauber, das ist ja das Kampfmittel gewesen im Vietnamkrieg, und jetzt wird also diese Wagnermusik mit der zeitgenössischen Kriegsakustik im Grunde vermischt. Und damit ist der Walkürenritt, hat eine Karriere gemacht wie vermutlich kein anderes Stück der Musikgeschichte."

    Die große emotionale Kraft, die die Komposition entwickelt, nutzt auch das Militär. Der Walkürenritt wechselt aus der Film-Fiktion in die Realität des Krieges:

    "2004 taucht er in einem ganz anderen Zusammenhang auf, die amerikanischen Streitkräfte praktizieren seit den 80er-Jahren eine, ja man könnte es nennen, eine Schallpolitik, die haben in Panama mit Hochleistungslautsprechern bis 120 bis 130 Dezibel schicken sie Töne in den Dschungel, um Menschen zum Aufgeben zu zwingen, das Trommelfell zerplatzt etc., die sind nur noch aus ihren Verstecken herausgekrochen, und jetzt wird 2004 Wagners Walkürenritt benutzt, beim Einfall in Falucha, in die Hochburg des irakischen Widerstandes. Man weiß es von den Briten, die haben so was in Afghanistan auch gemacht, wo Musik jetzt plötzlich zur Waffe geworden ist. Sie war zunächst Untermalung, und jetzt ist sie plötzlich Waffe geworden."

    An dem Walkürenritt lässt sich exemplarisch zeigen, wie ein kleines Musikstück aus seinem Kontext herausgelöst dazu führt, dass die Menschen, die es in einem Film oder einer Werbung hören, gar nicht mehr wissen, wo es seinen Ursprung einmal hatte.

    Sound History steht erst am Anfang der Forschung in Deutschland.
    Neuen Schub könnte dieser Zweig der Geschichtswissenschaft durch eine Veröffentlichung der Bundeszentrale für Politische Bildung bekommen. Gerhard Paul schreibt gemeinsam mit einem Kollegen das - wie er sagt - größte und europaweit erste Buch zur Soundgeschichte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts.