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Der Klassenraum als Wohnzimmer

"Der Klassenraum als Wohnzimmer" war eines der Schlagworte, mit denen der Pädagoge Peter Petersen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts traditionsbewusste deutsche Schulmeister in Rage brachte: Während sie in ihren Anstalten die preußischen Ideale von Zucht und Ordnung verfochten, entwickelte Petersen einen pädagogischen Ansatz von einer Schule ohne Drill und Rohrstock.

Von Jacqueline Boysen | 11.11.2005
    Petersen wünschte sich und seinen Schülern ein Schulklima, in dem der natürliche Wissensdurst der Kinder gestillt wird, in dem sie ihre Persönlichkeit entfalten können und ihre Gefühlswelt nicht unterdrückt wird. Dem Lehrer kommt in dieser Schule nicht die Rolle des Zuchtmeisters zu, vielmehr leitet und regt er die Kinder an, unterweist sie, aber indoktriniert sie nicht. Auch die Rolle der Eltern wird von ihm beschrieben: sie sollten tunlichst davon absehen, Kinder zum Unterricht zu treiben, sondern die Schule als Teil auch ihres Lebensraums begreifen - so räumt der Reformer Petersen ihnen das Recht ein, jederzeit ohne Anmeldung am Unterricht teilnehmen zu können.

    Peter Petersen sammelte selbst zunächst Erfahrungen als Lehrer. Unter anderem war er verantwortlich für die Modernisierung des Gymnasialzweigs der reformorientierten Hamburger Lichtwark-Schule. An der Universität Jena übernahm er einen eigenen Lehrstuhl und zugleich die Leitung einer so genannten Versuchsschule. Hier begann Petersen mit der Verwirklichung des später Jena-Plan genannten Konzepts von einer Schule, die ihre Schüler zum selbständigen Lernen, Denken und Handeln anregt.

    Diese Schule bricht mit bekannten Normen: So begreift Petersen die Unterschiedlichkeit seiner Schüler nicht als Belastung, sondern als Chance. Die vermeintliche Homogenität der Schüler eines Jahrgangs sei eine Fiktion, befindet er und löst die Klassen mit Gleichaltrigen auf. Seine Schüler bilden jahrgangsübergreifende Stammgruppen, in denen sie voneinander und miteinander lernen. Dazu sitzen die Kinder nicht an aufgereihten Pulten und repetieren. Vielmehr bilden sie einen Stuhlkreis, sind aufgerufen, frei zu sprechen, zu fragen und zu erklären. Schüler und Lehrer hangeln sich nicht an einem für das Halbjahr fixierten Stundenplan entlang, vielmehr beschreiben Wochenarbeitspläne die Aufgaben der Schüler in überschaubaren Dimensionen - schließlich gilt es, ihren Lebens- und Arbeitsraum verständlich und freundlich zu gestalten. Praktische Fächer ergänzen den Kanon der klassischen Schulfächer. Auch verschwindet der Druck der Zensuren, stattdessen beschreiben Leistungsberichte das individuelle Können der Schüler, die in ihrer Schule eine Erziehung zum Leben genießen sollten.

    Heute erscheint die Auseinandersetzung mit dem theoretischen Werk Petersens nicht unproblematisch: Zentrale Worte seiner Pädagogik wie "Führer" - für den modernen Lehrer - oder "Gemeinschaft" wurden im Nationalsozialismus missbraucht - was den grundsätzlichen Wert von Peter Petersens Überlegungen zur Reformschule freilich keinen Abbruch tut. Seine Ideen haben überdauert - und zwar nicht allein deshalb, weil ein am Wohnzimmer orientierter Klassenraum kaum Ecken bietet, in denen Schüler bis zur Ohnmacht stehend ihre Strafen abbüßen müssen.