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Der Krieg hinter der Hügelkette

Beschreibungen von den Frontgemetzeln des Ersten Weltkriegs sucht man in Philippe Claudels Roman vergeblich. Zeitzeugen wie die Schriftsteller Ernst Jünger oder Erich Maria Remarque sind für den Lothringer da nicht zu übertreffen. Deshalb hat er als Ort der Handlung einen kleinen Ort hinter der Front gewählt. Der Krieg spielt sich jenseits der nächsten Hügelkette ab: als fernes, permanentes Geschützdonnergrollen. Und noch aus einem anderen Grund haben die Bewohner Glück: Fast alle arbeiten in einer kriegswichtigen Fabrik und sind deshalb vom Wehrdienst freigestellt. Trotz aller Soldatenkonvois hin zur Front, trotz aller Leichen- und Verletztentransporte zurück ins Land gibt es noch so etwas wie Alltagsnormalität.

Von Christoph Vormweg | 04.02.2005
    Die Gegenwart des Krieges als eine Art Ungeheuer: das hat mich interessiert. Man sieht es nicht, aber es ist da. Ich wollte wissen, wie die Menschen in seiner unmittelbaren Nähe weiter leben. Im Grunde ist das unsere Situation. Wir haben ja schon viele Kriege aus sicherer Distanz beobachtet: den Vietnamkrieg, den Völkermord in Kambodscha, die Kriege in Ex-Jugoslawien, im Kosovo, in Tschetschenien, im Irak. Wir haben das Glück, in reichen Ländern zu leben, in Demokratien, wo Frieden herrscht. Aber ein paar Flugstunden, ein paar tausend Kilometer entfernt ist das anders. Da leiden ganze Völker. Da sterben die Menschen. Ich habe all diese Kriege immer mit einem Gefühl des Wohlbefindens und mit einem Gefühl der Scham erlebt. Und darum geht es in meinem Buch. Wir alle, die in Ländern leben, wo Frieden herrscht, befinden uns in dieser kleinen Stadt.

    "Die grauen Seelen" - das ist kein Kriegsroman im traditionellen Sinne, sondern ein Seelenkrimi. Der Ich-Erzähler wagt erst nach zwanzig Jahren über die Ereignisse zu berichten, die sich im Dezember 1917 zugetragen haben. Nicht etwa das Massensterben in den Schützengräben brachte damals den Alltag der Bürger aus dem Takt, sondern die Erdrosselung der zehnjährigen Wirtstocher "Belle de jour". Zwar wurde offiziell ein Deserteur der Tat überführt. Doch alle wussten, dass er es nicht war. Das Kreisen der Mutmaßungen über den wirklichen Täter verdichtet Philippe Claudel zu einem Kaleidoskop ganz unterschiedlicher Porträts. Jede dieser Figuren lebt dabei mit einem inneren Abgrund: der sadistische Richter und Ex-Kolonialist Mierck, der den Hauptverdächtigen, den mittlerweile verstorbenen, von allen "Bluttrinker" genannten Staatsanwalt Destinat entlastet, genauso wie der Kriegsprofiteur Bassepin oder die Witwe Blanchard, die sich den Verzweifelten des Krieges reihenweise hingibt. Und es ist Josephine, die sich nach zahllosen Enttäuschungen als Tierenthäuterin durchs Leben schlägt, die zum ersten Mal von den "grauen Seelen" spricht:

    Sie gibt einen Schlüssel zum Verständnis des Titels, indem sie sagt: Niemand ist nur Heiliger, niemand nur Dreckskerl, niemand nur schwarz oder weiß. Wir sind alle grau. Die ganze Menschheit schlägt sich in dieser Zone zwischen dem absolut Bösen und dem absolut Guten herum, die sich wie Pole außerhalb der Menschheit befinden. Das fasziniert mich am Menschen: Für ihn ist sehr schwierig, sich niemals im Leben zu irren. Wie soll man das schaffen? Zumal in Kriegszeiten, wo man von höheren Umständen erschüttert wird? Wie soll man da immer die richtige Wahl treffen?

    Es gibt keine Unschuldigen im Roman "Die grauen Seelen": nicht einmal den Erzähler, dessen Frau 1917 ein Kind von ihm erwartete.

    Letztlich ist das Buch auch ein Buch über das Schreiben. Der Erzähler wird zum Schriftsteller wider Willen: aufgrund der Ereignisse. Er ist hin- und her gerissen von seinem schlechten Gewissen. Er schreibt, um etwas zu gestehen, das nicht zu gestehen ist. Er schreibt, wie man am Ende sieht, an seine Frau. An niemanden sonst. Er durchstöbert die Geschichte, sein eigenes Geheimnis, das Geheimnis des Verbrechens, das Geheimnis der Menschen. Und das rührt alles von seinem Verlangen, zu der zu sprechen, die nicht mehr da ist, von dem Verlangen, die Toten wieder lebendig zu machen, um noch ein wenig mit ihnen zu sein, selbst wenn sie nicht mehr da sind.

    Die Schuld des Erzählers, die nichts mit dem Tod der Wirtstochter oder dem seiner geliebten Frau zu tun hat, aber an dieser Stelle nicht verraten sei, ist der innere Motor des Romans "Die Grauen Seelen". Doch nicht nur sein Schuldgefühl erzeugt einen permanenten Erzählsog. Philippe Claudel versteht es, die kriminalistischen Hintergründe und das Porträt einer französischen Kleinstadtgesellschaft während des Ersten Weltkriegs zu einem vieldeutigen Geflecht zu verweben. Sein Stil ist dabei nur scheinbar einfach, das Eingängige immer wohl komponiert. "Die grauen Seelen" - das ist ein Roman, der den Leser nie bevormundet. Schließlich bleibt man zuletzt allein mit den Abgründen der Kleinstädter hinter der Front, Abgründen, die in jedem Leben wieder aufbrechen können - zumal in Krisenzeiten, wenn die Hemmschwellen fallen, wenn den vermeintlich Zivilisierten Räume eröffnet werden, um dem Tier im Menschen freien Lauf zu lassen.