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Der Künstler als krankes Wesen

Fernando Pessoa sammelte sämtliche Schriftstücke in einer riesigen Truhe. Dieser chaotische Nachlass war bislang der Grund, weshalb eine kritische Edition zu Fernando Pessoa als unmöglich erschien. Nun hatte ein kolumbianischer Forscher Fragmente aus Pessoas Frühzeit ausfindig gemacht. Die Publikation "Genie und Wahnsinn" geht auf diesen überraschenden Fund zurück.

Von Klaus Englert | 29.11.2010
    In der Lissaboner Nationalbibliothek steht eine legendäre Truhe, die einst im Besitz Fernando Pessoas war. In ihr fand sich der umfangreiche literarische Nachlass des 1935 verstorbenen portugiesischen Dichters – ein Konvolut von 27.000 Fragmenten. Es bedurfte einer immensen philologischen Fleißarbeit, die verstreuten Schriftdokumente zu ordnen und schließlich eine verlässliche Edition zu ermöglichen. Hatte Pessoa zu Lebzeiten nur ein einziges Buch publiziert, erlangte er nach seinem Tod plötzlich Weltruhm. Vor einigen Jahren gelang es dem kolumbianischen Sprachwissenschaftler Jerónimo Pizarro, dem Nachlass 3000 weitere Seiten hinzuzufügen, die aus dem Besitz der Familie stammen. Die Funde komplettieren das Wissen um den seltsamen Einzelgänger Fernando Pessoa, denn sie verdeutlichen erstmals, aus welchen geistigen Quellen der junge Dichter schöpfte. Nun publizierte der Schweizer Ammann-Verlag den Titel Genie und Wahnsinn, der sich auf Texte stützt, die Pessoa bereits zwischen 1907 und 1911 verfasste. Dazu äußert sich der Verleger Egon Ammann, der Fernando Pessoa 25 Jahre lang im eigenen Verlag betreute:

    "Ich habe sehr viele Jahre auf die Auseinandersetzung und das Lesen von Fernando Pessoa verwendet, aber der Abschluss ist noch nicht ganz abzusehen. Es werden noch Bände kommen, die leider nicht mehr im Ammann-Verlag erscheinen können, aber sehr gut aufgehoben sind im S. Fischer Verlag."

    Die frühesten Texte aus Genie und Wahnsinn fallen mit der Rückkehr des jungen Fernando aus dem südafrikanischen Durban zusammen, wo er die Schulzeit verbrachte. In Lissabons Chiado gründete der 19-Jährige mit dem Erbe der Großmutter eine Buchdruckerei, die nach kurzer Zeit pleite ging. Das hielt Pessoa nicht davon ab, mehr und mehr in die Welt der Bücher einzutauchen und sich mit Shakespeare, Edgar Allen Poe, Lord Byron und John Keats zu beschäftigen, die er allesamt auf Englisch las. Mit der Zeit kamen neue intellektuelle Leitsterne hinzu, beispielsweise Friedrich Nietzsche, Ernst Haeckel und Max Nordau. Das ermöglichte ihm, die eigene Zurückgezogenheit und Kontaktscheu zur ästhetischen Daseinsform zu stilisieren. Als ein Dasein, das literarisch durch die saudade verbrämt ist – durch jene typisch portugiesische Melancholie, die Pessoa mit vielen seiner Landsleute verbindet.

    So lässt Pessoa sein literarisches alter ego, den Hilfsbuchhalter Bernardo Soares, sagen:

    "Das ist meine Moral oder meine Metaphysik oder mein Ich: Ich gehe an allem vorbei – sogar an meiner eigenen Seele – ich gehöre zu nichts, ich wünsche nichts, ich bin nichts – ich bin ein abstrakter Mittelpunkt unpersönlicher Empfindungen, ein fühlender zu Boden gefallener Spiegel, der der Mannigfaltigkeit der Welt zugekehrt ist. Bei alledem weiß ich nicht, ob ich glücklich oder unglücklich bin; und mir liegt auch nichts daran."

    Egon Ammann verfolgt die Entstehung von Pessoas Melancholie zurück in seine Jugendzeit:

    "Er ist 1905 aus Durban, Südafrika, nach Lissabon zurückgekommen, nachdem er die Schule absolviert hatte in Durban, und hat sich beschäftigt mit der psychopathologischen Frage, eben 'Wo grenzt das Genie den Wahnsinn ab?' Er wusste, ich bin ein Außenseiter. Und da kam dann die Frage auf: 'Bin ich denn wahnsinnig?' Und er hat sich sehr früh mit verschiedenen einschlägigen Texten beschäftigt, in der Übersetzung aus dem Französischen zum großen Teil, zum Beispiel Max Nordan, den hat er französisch gelesen, über die décadence. Diese Schriften die wir im Band Genie und Wahnsinn zusammengefasst haben, die von 1907 bis 1911 geschrieben worden sind, kreisen alle um dieses Thema 'Was ist das Genie?', 'Was zeichnet das Genie aus?', 'Wer ist ein Genie?', Was ist Wahnsinn?'."

    In Pessoas jetzt vorliegenden Frühschriften folgt der junge Dichter einem ästhetischen Diskurs, der bestimmend für die Jahrhundertwende war – für die Zeit eines Nietzsche, Böcklin oder Klimt. Viele Künstler zelebrierten die décadence, sie stimmten ein in den vorherrschenden Moll-Grundton, der am Vorabend des Ersten Weltkrieges den Werteverfall begleitete. Gleichzeitig priesen viele den todessüchtigen Künstler, der aus dem Gleichmaß der Mittelmäßigkeit emporragt. Deswegen der Geniekult der Zeit, den der Psychoanalytiker Otto Rank in den dreißiger Jahren als Vergöttlichung des Künstlers deutete. Diese "Geniereligion" fiel bei dem aristokratisch empfindenden Pessoa, der den Niedergang des portugiesischen Imperiums und der Monarchie vorausahnte, auf fruchtbaren Boden. Schließlich kam bei dem jungen, nach geistiger Orientierung suchenden Pessoa ein antisozialer Impuls hinzu – der Hang zur Einsamkeit.

    Die Einsamkeit hat sich ergeben, wenn er sich dem Schreiben überließ. Das ist die Einsamkeit des Kreativen, des Künstlers.

    Als Fernando Pessoa schon eine gewisse Bekanntheit erlangt hatte, gab er einer Zeitschriftenredaktion Auskunft über seine künstlerischen Beweggründe. Er schrieb, einzig "der radikalen Anormalität des Genies" gelinge "eine überlegene Interpretation des Lebens". Den wahren Künstler empfand Pessoa als anormal, krank – als Phänomen der décadence.

    "Der Künstler hat gegenüber der Natur die Pflicht, seine Rolle als Künstler, also als ein Kranker, zu erfüllen. Wie ein pflichtbewusster Patient hat er in seinem Geiste alles zu zerstören, was es in ihm noch als Gesundheit, an Brüderlichkeit und an Gerechtigkeit gibt. Indem er einsieht, dass ihn die Natur krank macht und nur sie durch die Krankheit sein Künstlerdasein ermöglicht, sollte er sorgfältig die Rolle des Kranken ausleben, die ihm im absurden Drama des Lebens zuerkannt wurde."

    In diesem "absurden Drama des Lebens" galten sogar – wie Pessoa meint - die Liebesgefühle als unwichtig:

    "Er war ein bewusst bescheidener Mensch, der einzig und allein für sein Werk gelebt hat. Das bezeugen auch die Liebesbriefe an Ophélia. Er gibt die (Liebe) auf, weil es das Werk erfordert. Er muss das Werk schreiben und nicht die Liebe zu einer Frau leben."

    Fernando Pessoa sieht den Künstler zwangsläufig außerhalb des normalen gesellschaftlichen Gefüges – als antisoziales und krankes Wesen. Offenbar hat sich Pessoa immer mehr mit diesem Bild des kranken Künstlers identifiziert. Das zeigt sich an einem kleinen Textstück, dass die Sammlung Genie und Wahnsinn einleitet:

    Das Mysterium des Universums, die Komplexität des Lebens, die Zukunft eines jeden einzelnen, all das sind Probleme, die bei wacher Betrachtung zum Wahnsinn führen werden. Alle Formen des Wahnsinns sind Formen einer klaren Sicht. Die Gesunden des Geistes sind die Blinden und Verwirrten der Seele. Verrücktwerden bedeutet, sich dem Mysterium entgegen zu bewegen, es von Weitem zu erblicken. Verrücktwerden bedeutet, dass man zu leben beginnt. Wer verfügt über die Anschauung des Lebens – des Mysteriums? Die genialen Menschen. Und wer sind sie? Menschen auf dem Wege zum Wahnsinn.

    Als Fernando Pessoa diese Zeilen schrieb, lebte er an der Schwelle zu einer Zeit, die ein neues Bild des Künstlers entwarf. Der moderne Künstler musste sein wie der blinde Teiresias, dem sich Wahrheiten offenbarten, die dem normalen Menschen verborgen bleiben. Er musste sein wie Hölderlin, Nietzsche und van Gogh, die dem Wahnsinn verfallen waren und deswegen die Wahrheit der Wörter und Dinge aussprechen konnten, die sich anderen entzog. Fernando Pessoa entwarf die Grundzüge der modernen Kunst, von der man im monarchistischen Portugal lediglich eine schwache Ahnung hatte. Der portugiesische Dichter war der älteste Wahlverwandte der Surrealisten um Salvador Dalí, André Breton und Max Ernst: In den Träumen sah er die archaische und schweigende Wahrheit hinter den sichtbaren Erscheinungen. Über zehn Jahre vor Bretons "Surrealistischem Manifest" lieferte Fernando Pessoa eine vergleichbare Rechtfertigung der modernen Kunst:

    Wer in nur einem Wort die hauptsächliche Charakteristik der modernen Kunst zusammenfassen wollte, würde sie völlig hinreichend in dem Wort Traum finden. Die moderne Kunst ist die Kunst des Traumes. Im Mittelalter und in der Renaissance hat ein Träumer wie Heinrich der Seefahrer seinen Traum in die Praxis umgesetzt. Es genügte, mit Nachdruck zu träumen. Die menschliche Welt war klein und einfach. Die großen Männer aus früheren Zeiten waren Männer des Traumes und der Handlung. Nachdem die moderne Kunst zu einer persönlichen Kunst geworden ist, ist es auch ganz logisch, dass sie sich zu einer größeren Verinnerlichung hin entwickelt hat – zu einem jedes Mal größeren Traum. Der größte Dichter der Neuzeit [!] wird der sein, der über die größte Traumfähigkeit verfügt.

    Fernando Pessoa: Genie und Wahnsinn. Schriften zu einer intellektuellen Biografie, aus dem Portugiesischen und Englischen übersetzt, mit Anmerkungen und Nachwort versehen von Steffen Dix, Ammann Verlag, Zürich 2010, 448 S., 39,95 Euro.