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Der letzte Judenälteste von Theresienstadt

Mit "Shoah" wurde der Regisseur Claude Lanzmann bekannt. Nun hat er aus einem Interview mit Benjamin Murmelstein, dem letzten der jüdischen Ältesten in Theresienstadt, einen Film gemacht. Und entfaltet dabei ein ungewöhnlich vielschichtiges Panorama des Holocaust.

Von Josef Schnelle | 22.05.2013
    Der Eingang des Konzentrationslagers Theresienstadt in Tschechien
    Der Eingang des Konzentrationslagers Theresienstadt in Tschechien (picture alliance / dpa / Peter Kneffel)
    Die ganz großen Momente eines Festivals sind nicht die kühl kalkulierten Auftritte mit rotem Kleid und Fliege zum Smoking auf dem roten Teppich. Auch nicht die frechen missverständlichen Witze auf der Pressekonferenz. Die ganz großen Momente sind die, bei denen einer seine ganze Lebensleistung in die Waagschale wirft. Für den Dokumentarfilmer Claude Lanzmann, der 1985 mit seiner monumentalen Chronik des Holocausts "Shoah" Film- und Zeitgeschichte schrieb, war sogar Valérie Trierweiler, die First Lady Frankreichs gekommen.

    Der 87-Jährige gab sich gerührt und konnte mit seinem Film "Der letzte der Ungerechten" sicher davon ausgehen, dass er auch außerhalb des Wettbewerbs um die Goldene Palme einen ganz besonderen Höhepunkt des Festivals präsentieren würde. Nach langem Zögern hatte er sich endlich entschlossen, aus dem Interview mit Benjamin Murmelstein, dem letzten der jüdischen Ältesten im Vorzeigelagergetto Theresienstadt, das er 1975 geführt hatte, einen Film zu machen.
    "Wo Theresienstadt beginnt, beginnt die Lüge. Die Leute können nicht von der Lüge loskommen. Das ist ein Fluch. Die ganze Stadt ist aufgebaut als Fluch. Der Jude hat nicht gelebt. Das war geliehen. Der Jude hat nicht gewohnt. Das war keine Wohnung. Er hat sich eingebildet, er wohnt. Aber es gab einen Strohsack und im vierten Stock ein kleines Holzbett. Er hat sich eingeredet, er arbeitet. Und hat nicht gearbeitet. Er hat sich eingeredet, er bekommt einen Kaffee und das war nur schwarz gefärbtes Wasser. Er hat sich eingeredet, er bekommt ein Fleisch und da war kein Fleisch drin. Das war alles erlogen von Kopf bis Fuß."

    Mit Adolf Eichmann hatte Murmelstein schon ab 1938 als Ansprechpartner der jüdischen Seite in Wien zusammengearbeitet, was ihm nach dem Ende der Nazibarbarei den Ruf eines Kollaborateurs einbrachte. Auf der anderen Seite hatte er mehr als 120.000 Juden die halbwegs legale Ausreise ermöglicht. Claude Lanzmann ist ein gnadenlos präziser Interviewer, der keine leichten Erklärungen durchgehen lässt. Murmelstein hingegen ist ein rhetorisch brillanter Erzähler, der die Vorgeschichte der Judenvernichtung durch die Nazis mit vernebelnden Propagandacoups wie dem Plan der Ausreise der polnischen Juden nach Madagaskar ausbreitet und auch mit der Legende vom schlichten Bürokraten Eichmann aufräumt.

    Neben den alten Interviewaufnahmen mit fast verblichenem Filmmaterial begibt sich Lanzmann immer wieder an die Orte des Geschehens in ihrer heutigen Gestalt und beschreibt die Gräueltaten und das System des Konzentrationslagers Theresienstadt, das keines zu sein vorgab, in eindrucksvollen Monologen, für die er manchmal auf die Manuskriptseiten schaut, die er mit sich herumträgt. Unter dem Galgen von Theresienstadt liest er zum Beispiel die Neujahrsrede von Paul Eppstein vor - dem Vorgänger Murmelsteins als Judenältester - der wenig später mit einem Genickschuss getötet wurde. Und alles können wir uns plötzlich vorstellen. Die angetretenen Gettoinsassen, deren Angst und auch die der Nazibewacher, die Botschaften zwischen den Zeilen und der persönliche Mut ebenso wie die Verzweiflung.

    Das Kino ist eine große Illusionsmaschine. Manchmal braucht man nur einen, der überzeugend erzählt. Benjamin Murmelstein musste sich nach dem Krieg rechtfertigen und kommt in diesem fast vierstündigen Film aus seiner Verteidigungshaltung kaum heraus. Und so entfaltet sich ein ungewöhnlich vielschichtiges Panorama der "Shoah", als sie gerade erst sich zu vollziehen begann. Mittendrin der Rabbi, der sich ironisch gerne als "Der letzte der Ungerechten" wie im Filmtitel bezeichnet.

    "Übrigens wissen Sie, ich hab nachgedacht. Sie haben mir unlängst vorgelesen den Adler mit dem Falstaff. Ich würde mich vergleichen mit einer anderen Gestalt aus der klassischen Literatur. Nicht mit Orlando Furioso, nicht mit dem Cid. Wissen Sie mit wem? Mit Sancho Pansa. Der Realist, der rechnet, während die anderen Don Quichote nachmachen mit den großen Plänen. Der berechnende Realist, der immer am Fußboden der Tatsachen bleibt."

    Natürlich ging es auf dem roten Teppich des Grand Théâtre Lumière – gleich nebenan – zu wie immer. Steven Soderbergh stellte seine Hommage an den legendären schwulen Pianisten Liberace "Behind the Candelabra" vor. Die Coen-Brüder hielten mit "Inside Llewin Davis" die frühe Geschichte der Folkmusik in New York hoch. Aber das wahre Highlight dieser Tage war der respektvolle Beifall für einen klugen und leidenschaftlichen alten Mann, weswegen ihm allein dieser Zwischenbericht aus Cannes, vier Tage vor den Pauken und Trompeten der Preisverleihung, gewidmet ist.