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Der Lyriker T.S. Eliot
Ein Haufen zerbrochener Bilder

T.S. Eliot war ein zerrissener Mensch. Die Tiefendimension seiner Lyrik macht ihn zu einem Jahrhundertdichter. 1948 erhält er den Nobelpreis. Kurz davor wird er anglikanischer Christ. Sein Werk ist durchzogen von der brüchigen Hoffnung auf eine spirituelle Erneuerung.

Von Burkhard Reinartz | 07.11.2018
    Der Schriftsteller T.S. Eliot vor einer Schreibmaschine
    Der Schriftsteller T.S. Eliot (imago stock&people)
    April is the cruellest month, breeding
    Lilacs out of the dead land, mixing
    Memory and desire, stirring
    Dull roots with spring rain.
    Winter kept us warm, covering
    Earth in forgetful snow, feeding
    A little life with dried tubers.
    April ist der übelste Monat von allen, treibt
    Flieder aus der toten Erde, mischt
    Erinnerung mit Lust, schreckt
    Spröde Wurzeln auf mit Frühlingsregen.
    Der Winter hielt uns warm, hüllte
    Das Land in vergeßlichen Schnee, fütterte
    Ein wenig Leben durch mit eingeschrumpelten Knollen.
    Der Sommer kam als Überraschung, über den Starnberger See
    Mit Regenschauer; wir flüchteten unter die Kolonnaden,
    Die Sonne kam wieder, wir gingen weiter zum Hofgarten
    Tranken Kaffee und redeten eine Stunde.
    Bin gar keine Russin, stamm' aus Litauen, echt deutsch.
    So beginnt das wohl berühmteste Gedicht des 20. Jahrhunderts: "The Waste Land" - "Das öde Land". Geschrieben 1921 von Thomas Stearns Eliot, kurz T.S. Eliot, dem in den USA geborenen und später in England lebendem Schriftsteller. Schon die ersten Zeilen des Gedichts: "April ist der grausamste Monat", in denen der Dichter die Aufbruchsstimmung des Frühlings verdunkelt, ziehen den Leser in die Tiefe des öden Landes.
    What are the roots, that clutch, what branches grow
    Out of this stony rubbish? Son of man,
    You cannot say or guess, for you know only
    A heap of broken images, where the sun beats
    Was sind das für Wurzeln, die krallen, was für Äste wachsen
    aus diesem steinernen Schutt? Menschensohn,
    Du ahnst es nicht und kannst nicht wissen, du siehst doch nur
    einen Haufen zerbrochener Bilder, wo die Sonne sticht
    Und der tote Baum kein Obdach bietet, die Grille keine Hilfe
    Und der trockene Stein kein Wassergeräusch. Nur
    dort ist Schatten unter dem roten Fels.
    Komm in den Schatten unter dem roten Fels,
    Und ich werde Dir etwas zeigen, das anders ist als
    der Schatten, der dich abends einholt;
    Ich zeige Dir die Angst in einer Handvoll Staub
    "'The Waste Land' ist für mich das Gedicht, mit dem ich am allerwenigsten fertig werde von allen Gedichten des 20. Jahrhunderts. Das ist so ein großer Gesang und nichts, was man abhaken kann."
    Sagt der Lyriker und Übersetzer Norbert Hummelt. Er hat "The Waste Land" 2008 ins Deutsche übertragen. 2015 folgte die Übersetzung von Eliots zweitem lyrischen Hauptwerk, den "Vier Quartetten".
    Neigung zu depressiver Verstimmung
    "Es ist ja "ein Haufen zerbrochener Bilder", wie es an einer berühmten Stelle heißt, eine Bilanz der zerrütteten, vollkommen aus dem Gleichgewicht geratenen europäischen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, die in Trümmern liegt und in Trümmern spricht, in Fragmenten."
    T.S. Eliot wird am 26. September 1888 in St. Louis im US-Bundesstaat Missouri geboren. Er studiert Mathematik, Philosophie sowie europäische und asiatische Sprachen am Harvard College in Cambridge, Massachusetts sowie an der Pariser Sorbonne. 1914 zieht er nach England und arbeitet dort erst als Lehrer und dann sieben Jahre lang als leitender Angestellter der Lloyd's Bank. Im März 1915 kommt es in Oxford zu einer einschneidenden Begegnung: Er lernt Vivienne Haigh-Wood kennen. Drei Monate später heiratet er die exzentrische Frau, die an nervösen Erschöpfungszuständen leidet, was wiederum Eliots Neigung zu depressiver Verstimmung aufbrechen lässt.
    "Bin heute Abend völlig mit den Nerven runter."
    Plötzlicher Kreativitäts-Schub
    Die Krankheit seiner Frau, die anstrengende Arbeit in der Bank, der Versuch, trotz aller Widrigkeiten zu dichten, bringen Eliot an seine Grenzen. Er begibt sich in ärztliche Behandlung. Diagnose: Nervenzusammenbruch. Eliot fährt zu einem längeren Kuraufenthalt in die Schweiz. Am Genfer See: ein plötzlicher Schub von Kreativität. 1922 kehrt er nach London zurück und übergibt seinem Förderer, dem Dichter Ezra Pound ein Manuskript von 54 Seiten. Die sind die Grundlage dessen, was noch im Laufe des Jahres als lyrisches Pendant zu James Joyce' "Ulysses", Picassos "Mädchen von Avignon" und Strawinskis "Sacre du Printemps" in die Geschichte der Moderne eingehen wird:
    "The Waste Land" - "Das öde Land".
    "Bleib bei mir, Sprich mit mir. Warum sprichst du nie? Los, Sprich.
    Woran denkst Du jetzt? Was denkst du? Was?
    Ich weiß nie, woran du denkst. Los, Denk."
    Ich denke, wir sind in der Rattenallee,
    Wo die Toten ihre Knochen ließen.
    "Was ist das für ein Geräusch?"
    Der Wind unter der Tür.
    "Und was ist jetzt für ein Geräusch? Was tut der Wind?"
    Nichts, es ist gar nichts.
    "Weißt
    Du gar nichts? Siehst Du gar nichts? Fällt Dir nichts mehr
    Ein?"
    Wie ein verschachteltes kubistisches Gemälde
    New York City Museum of Modern Art, MOMA, Les Demoiselles d Avignon (The Young Ladies of Avignon, and originally titled The Brothel of Avignon) by Pablo Picasso (1907), Vereinigte Staaten, USA
    Picassos "Les Demoiselles d' Avignon – Mädchen von Avignon" im New Yorker MOMA (imago stock&people)
    Ezra Pound ist von Eliots Langgedicht begeistert: "Complimenti, Du Hurensohn", schreibt er. "Ich bin von allen sieben Eifersüchten geplagt. Könnte dazu führen, dass der Rest von uns den Laden dichtmachen kann". Pound kürzt das Manuskript intuitiv um fast zwei Drittel und stellt einige Passagen um, bis das Werk aus einem Guss ist. "The Waste Land" hebelt alles aus, was man sich bis dahin unter einem Gedicht vorgestellt hat. Keine Strophen, kaum Reime, ein permanenter Perspektivenwechsel. Wie in einem verschachtelten kubistischen Gemälde stehen endzeitliche Landschaften neben Großstadtbildern, Kneipenszenen werden überlagert von mythologischen Zitaten.
    "Es gibt ganz verschiedene mythische Bezüge in Eliots großem Gedicht. Es gibt die Anspielung auf die Suche nach dem heiligen Gral und es gibt auch die Anspielung auf die alten Fruchtbarkeitsriten in Ägypten und im alten Zweistromland", so Norbert Hummelt.
    Reflexionen über Sexualität
    Und Reflexionen über die Spiegelung des "Waste Land" in der inneren Verödung der Menschen und der Entfremdung zwischen den Geschlechtern - nicht zuletzt in der Sexualität.
    "Sex ist ja das existentiellste, was wir als Menschen erleben können, um über uns selbst hinaus zu gelangen. Und gerade wenn es da Barrieren gibt, dann ist das etwas, worunter wir alle leiden - und da bildet T.S. Eliot keine Ausnahme. Und da gibt es diese wunderbare Stelle im dritten Teil, in der Feuerpredigt, der Fire Sermon,…"
    wo geschildert wird, wie eine Stenotypistin und der Angestellte eines kleinen Bankhauses, der "Akne-Prinz", sich zu einem Abendessen treffen, kein Wort miteinander reden und gefühllosen Sex haben, den die Frau über sich ergehen lässt. Selbst die erotischen Räume zwischen Mann und Frau sind im "Waste Land" eingefroren.
    Der Lyriker und Übersetzer Norbert Hummelt
    Der Lyriker und Übersetzer Norbert Hummelt (imago stock&people)
    "Das ist eine Stelle, die nimmt mich und sicher auch andere Leser sehr stark mit und gleichzeitig ist sie die längste durchgereimte Stelle in diesem Gedicht."
    Sie dreht sich um und schaut kurz in den Spiegel.
    Denkt an den Lover kaum, der eben durch die Tür;
    Ihr Hirn formt nur den einen Halbgedanken:
    "Geschafft und ich bin froh, jetzt hab ich's hinter mir"
    Wenn Pretty Woman sich getäuscht hat
    Und ein paar Runden dreht in ihrem Raum, allein
    Streicht sie die Haare automatisch glatt
    Und legt noch einmal die Kassette ein.

    "Waste Land ist sicher ein ganz persönliches Buch, gerade weil Eliot versucht hat, es zu verdecken. Und gerade in seiner Fragmentarität ist es zutiefst persönlich, weil das genau Eliots Zustand entsprach", sagt Norbert Hummelt.
    "In unserer gegenwärtigen Zivilisation muss Dichtung schwierig sein, weil der Dichter in ihr höchst Verschiedenartiges vereinen muss."
    Einspruch gegen die Gottlosigkeit der Moderne
    Eliots Langgedicht in fünf Teilen ist nicht nur eine große poetische Reflexion über das Elend der Epoche nach dem Ersten Weltkrieg. Es ist nicht zuletzt ein Ringen um eine sich im Innen und Außen auflösende Spiritualität, ein Einspruch gegen die Gottlosigkeit der Moderne.
    "Eliot hatte zu dem Zeitpunkt, als er an dem Gedicht gearbeitet hat, seinen Glauben verloren, aber dieser Verlust hat ihn geschmerzt. Er hat in fernöstlichen Religionen gesucht. Er hat in den antiken und vorgeschichtlichen Religionen gesucht und er hat aus den Bruchstücken des christlichen Glaubens geschöpft, wie sie literarisiert vorlagen durch Dante. Und ein ganz langer schmerzhafter Prozess führt am Ende zu den "Vier Quartetten"; und eine Station darin ist seine Konversion, wo er 1928 zum Anglikanismus übergetreten ist", erzählt Norbert Hummelt.
    "Die Welt ist mit dem Versuch beschäftigt, eine Kultur ohne Christentum zu schaffen. Dieser Versuch wird nicht gelingen; aber wir müssen sein Scheitern mit Geduld erwarten und inzwischen die Zeitlichkeit erlösen: sodass der Glaube in den dunklen Jahren, die vor uns liegen, lebendig bleibt, um die Kultur zu erneuern und die Welt vor dem Selbstmord zu retten."
    Trost in der Musik
    Trost findet Eliot in seinen Krisenjahren in der Musik, insbesondere in den letzten Streichquartetten Beethovens. Dem dritten Satz des Opus 132 gab der Komponist den Titel: "Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit".
    "Ich habe Beethovens a-moll-Quartett auf dem Grammophon. Es liegt eine himmlische oder zumindest nicht mehr menschliche Freudigkeit über einigen seiner späten Sachen, die einen, stelle ich mir vor, als Frucht der Versöhnung und der Linderung geschenkt wird, nachdem man sehr gelitten hat."
    Zwischen der Veröffentlichung des "Waste Land" und Eliots zweitem großen lyrischen Werk, den "Vier Quartetten" im Jahr 1944 liegen 22 Jahre. Eliot gibt die Literaturzeitschrift "Criterion" heraus und leitet das Londoner Verlagshaus Faber&Faber. Er wird englischer Staatsbürger, tritt der Church of England bei, trennt sich von Vivienne Haigh-Wood und schreibt das Drama "Murder in the Cathredal", das ein Welterfolg wird. Eliot nennt die "Vier Quartette" sein wichtigstes Werk, durch das er die Ausweglosigkeit des "Waste Land" zu überwinden versucht.
    Die vier Quartette: Burnt Norton
    Zeit Gegenwart und Zeit Vergangenheit
    Sind vielleicht beide in Zeit Zukunft gegenwärtig,
    Und alle Zeit Zukunft enthalten in Vergangenheit.
    Wenn alle Zeit für immer gegenwärtig ist
    Kann nichts die Zeit erlösen.
    Zeit Vergangenheit und Zeit
    Zukunft
    lassen nur wenig Bewusstsein zu.
    Bewußt zu sein heißt der Zeit enthoben.
    Doch nur in der Zeit kann der Moment im Rosengarten,
    Der Moment in der Laube unter prasselndem Regen,
    Der Moment in der zugigen Kirche bei Dunsteinbruch,
    erinnert werden; verwoben mit Vergangenheit und Zukunft.
    Nur durch die Zeit läßt Zeit sich überwinden.
    "Wenn er am Anfang von "Burnt Norton" über die Zeit nachdenkt - das ist ja eher eine Gedankenmusik als eine begrifflich funktionierende Philosophie. Es ist eigentlich eine Bewegung in verschiedenen Kreisen, wo er sich einer Hoffnung auf Erlösung entgegen bewegt. Seine Hoffnung hat er doch immer stärker in den christlichen Glauben, im Kern in die Menschwerdung Christi, gesetzt. Und im dritten Teil der Quartette gibt es den Begriff der Fleischwerdung, der Inkarnation, und das ist der zentrale Begriff, wo er sagt, hier kreuzen sich die Zeitlinien. Die Ewigkeit und die verrinnende Zeit kreuzen sich an dieser Stelle. Aber das ist so dahin getuscht. Und man kann es beinahe überlesen", sagt Norbert Hummelt.
    What is that sound high in the air
    Murmor of maternal lamentation
    Who are those hooded hordes swarming
    Over endless plains, stumbling in cracked earth
    ringed by the flat horizon only
    What is the City over the mountains
    Cracks and reforms and bursts in the violent air
    Falling towers
    Jerusalem Athens Alexandria
    Vienna London
    Unreal
    Was ist dieser Ton hoch in der Luft?
    Gemurmel wehklagender Mütter
    Wer sind nur diese vermummten Horden, die schwärmen
    Über die endlose Steppe, bleiben in rissiger Erde stecken
    Die nur der flache Horizont umgibt
    Was ist diese Stadt dort über den Bergen
    Bricht und baut sich und birst in der lila Luft
    Fallende Türme
    Jerusalem Athen Alexandria
    Wien London
    Unwirklich
    Brüchige Hoffnung auf spirituelle Erneuerung
    "Es ist so viel Rätselhaftes in "The Waste Land", dass wir es vielleicht in ein paar Jahren wieder ganz anderes verstehen werden. So ist das mit allen großen Texten: Sie verändern sich eigentlich mit uns und mit dem Fortgang der Geschichte."
    In den letzten Versen von "East Coker", dem dritten Teil der "Vier Quartette", deutet sich 1944 - noch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges - vorsichtig und tastend etwas Neues an: T.S. Eliots brüchige Hoffnung einer spirituellen Erneuerung des "Öden Landes". Eliot hatte lyrisch alles für ihn Wichtige gesagt. Danach hat er keine Gedichte mehr geschrieben.
    "Mit ihnen stehe oder falle ich."
    East Coker
    Hier und dort sind einerlei
    Wir müssen still sein und uns still bewegen
    in eine andere Eindringlichkeit
    Zu weiterer Einheit, vertiefter Gemeinschaft
    Durch dunkle Kälte und durch leere Verheerung,
    Schrei der Welle, Schrei des Winds, weite Wasser
    Des Sturmvogels und des Tümmlers.
    Der Schriftsteller konzentriert sich fortan auf Theaterstücke und Essays. 1948 erhält er den Nobelpreis für Literatur. Thomas Stearns Eliot stirbt am 4. Januar 1965 in London.
    T. S. Eliot (rechts), nachdem er seinen Nobelpreis von Kronprinz Gustav erhalten hat, der applaudiert. (von links nach rechts) Prinz Bertil, Prinzessin Louise, der Kronprinz und Prinzessin Sibylla.
    Nobelpreis für Literatur 1948 für T.S. Eliot (imago stock&people)
    Als letzte Ruhestätte verfügt er das südenglische Dorf East Coker, von dem aus seine Ahnen vor langer Zeit nach Amerika ausgewandert waren. Auf dem Grabstein die Inschrift: "In meinem Anfang ist mein Ende - in meinem Ende ist mein Anfang." Der Kreis hat sich geschlossen.
    "Eliot ist ein schwieriger Dichter, und ihm ist das Dichten zu allen Zeiten auch schwer gefallen. Er hat ein sehr schmales, aber glühendes und leuchtendes Werk hinterlassen. Eliot war ein ganz zerrissener Mensch, eigentlich von Anfang an. Und ist es auch sehr lange geblieben. Er sieht sich eigentlich schon als zertrümmert und tot daliegen und gibt einfach die Hoffnung auf Erneuerung nicht auf."
    Wir werden nicht ablassen vom Erkunden
    Und am Ende allen Erkundens
    kommen wir da an, wo wir losliefen
    und erkennen den Ort zum ersten Mal.
    Und alles wird gut und
    jede Art Ding wird bald gut sein
    Wenn die Flammenzungen sich zusammenfalten
    Im gekrönten Feuerknoten
    Sind das Feuer und die Rose eins.

    Literatur:T.S. Eliot: The Waste Land Das öde Land, Suhrkamp Verlag 2008, aus dem Englischen übertragen von Norbert HummeltT.S. Eliot: Four Quarters Vier Quartette, Suhrkamp Verlag 2015, aus dem englischen übertragen von Norbert HummeltDanke für die Aufnahmen T.S. Eliots an den Hörverlag, "The Waste Land und andere Gedichte", Der Hörverlag 2013