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Der Mann von Übermorgen

Als Bahr seinerzeit von der "Moderne" sprach, konnte sich kaum jemand etwas darunter vorstellen. Durch sein Eintreten für Autoren wie Arthur Schnitzler oder Hugo von Hofmannsthal gilt er aber als Miterfinder der Moderne.

Von Christian Linder | 19.07.2013
    "Ich bin modern … das heißt, ich hasse alles, was schon da gewesen ist, jedes Vorbild, jede Nachahmung und lasse kein anderes Gesetz gelten in der Kunst als das Gebot meiner augenblicklichen künstlerischen Empfindung."

    Dieser Anspruch der Ausschließlich- und Einzigartigkeit hat den am 19. Juli 1863 als Sohn eines Notars in Linz an der Donau geborenen Hermann Bahr zu Lebzeiten zu einer europäischen Berühmtheit gemacht. Er galt als der "Mann von übermorgen", der nach den Worten Maximilian Hardens "immer in der Zukunft lebte, in der Temperatur des übernächstes Tages". Das Leben als Prozess, in dem alle produktiv erscheinenden Veränderungen ausgekundschaftet werden müssen – das war Bahrs Devise. Er predigte das Unterwegssein und schrieb zum Beispiel eine "Betrachtung über das Gehen":

    "Der Arzt sagte mir: "Sie gehen zuwenig, da schläft Ihnen ja das Blut ein. Natürlich legt es sich dann schwer auf das Gemüt … Statt Zigaretten rauchend auf dem Sofa Fragen der Kunst zu betrachten, tun Sie es doch lieber draußen peripatetisch." … Und so kann man mich jetzt gegen meine sonstige, lieber sitzende, meditativ herumliegende Art fleißig in unserer lieben Stadt spazieren sehen."

    Die Stadt war Wien. Dort schrieb Bahr, nach seinen langen Spaziergängen zurückgekehrt an den Schreibtisch, den Großteil seiner Romane, Feuilletons, Theaterkritiken, auch Theaterstücke. Sein erfolgreichstes, 1909 uraufgeführt, heißt "Das Konzert" und verrät nicht nur einen komödiantischen, sondern auch pragmatisch-deftigen Zugriff aufs Leben:

    "Pollinger: "Wie viel Fleisch soll denn geholt werden, gnädige Frau?"
    Marie: "Frau Delfine, der Pollinger fragt Sie."
    Delfine: "Mich?"
    Pollinger: "Ja, wie viel Fleisch bestellt werden soll."
    Delfine: "Ich weiß doch nicht!"
    Heink: "Pollinger!"
    Pollinger: "Ja?"
    Heink: "Bist du schon am frühen Morgen besoffen?""

    Arthur SchnitzlerNeben den Wiener Theatern – 1918/19 arbeitete er sogar als Chefdramaturg am Burgtheater – war Hermann Bahrs Lieblingsort das Kaffeehaus "Griendsteidl". Wien im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, das war die Zeit des Fin de Siècle, als noch niemand ahnte, wer Arthur Schnitzler war oder was von einem jungen Hugo von Hofmannsthal zu erwarten war oder von einem gewissen Psychoanalytiker namens Sigmund Freud – Hermann Bahr ahnte es. Sobald er die Witterung für einen neuen Ausdruck des Lebens und seiner Zeit aufgenommen hatte, schrieb er große werbende Grundsatzessays. Er reiste auch viel und wusste später im "Griendsteidl" durch Erzählungen zu beeindrucken, wie er etwa in Paris den Dichter Stéphane Mallarmé entdeckt hatte oder in Italien Gabriele d’Annunzio. Niemand zweifelte, wenn Bahr stolz verkündete:

    "Die europäische Seele hat keine Geheimnisse vor mir."

    Nicht nur in Wien, Paris oder Rom wusste man, wer Hermann Bahr war, man wusste es auch in Berlin. Die Stadt kannte Bahr aus seiner Studentenzeit, er hatte von 1884 bis 1887 erstmals dort gelebt und auch dort sein erstes Theaterstück "Die neuen Menschen" geschrieben.

    "Ich habe heute noch das Gefühl, dass diese drei Berliner Jahre … alles, was ich bin, aus mir hervorgeholt haben. Damals bin ich frei geworden, … und ich weiß seitdem, was mir vom Schicksal zugewiesen ist: von meinem Platz aus, soviel ich kann, mitzuhelfen an der Form der neuen Menschheit."

    War er Wien ein bisschen überdrüssig, zog es Bahr immer wieder nach Berlin. So folgte er der Einladung Max Reinhardts, 1906 bis 1907 Dramaturg und Regisseur am Deutschen Theater zu werden. Bahrs "nervöse Unruhe" ließ ihn aber nie dauerhaft an einem Ort verweilen. Als einer der Cheftheoretiker der damaligen Moderne hat er alle neuen literarischen Strömungen wie den Naturalismus oder Ex- und Impressionismus gefördert und begleitet, aber sobald sie nur noch als Mode gehandelt wurden, schrieb er Aufsätze zum Beispiel "Zur Überwindung des Naturalismus" und ging weiter.

    "Nun habe ich erst, seit ich um des Gehens willen gehe, begreifen gelernt, was das Gehen ist, man glaubt gar nicht, wie eine Sache ganz anders ausschaut, wenn man sie nicht als bloßes Mittel behandelt, dann tut sie erst ihr Wesen auf, gibt ihren Sinn her und lässt ihre heimliche Schönheit sehen."

    Gestorben ist Hermann Bahr am 15. Januar 1934 in München. Er war sich zwar seiner Verdienste als einer der anregenden Schlüsselfiguren der Moderne bewusst, begnügte sich rückschauend jedoch mit der Position des Dabeigewesenseins:

    "Ich war dabei. Von welchem Wahn immer diese … Jahre verblendet wurden, ich war dabei."