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Der Meister des Anti-Hollywood-Kinos

Als das Kino vor zehn Jahren seinen hundertsten Geburtstag feierte, fehlte es nicht an Gratulanten. Unter ihnen befanden sich auch Martin Scorsese und Jean-Luc Godard. Während der Amerikaner ein jeweils vierstündiges Panorama des amerikanischen und italienischen Films vorstellte, präsentierte sein französischer Kollege einen Beitrag mit dem lapidaren Titel "2x50 ans de cinéma français". Es war ein relativ kurzer Prolog zu seinem späteren Mammutwerk "Histoire(s) du cinéma", einer verwirrenden Mischung aus Dokumentation und Fiktion. In den Anfangsszenen der französischen Produktion setzen sich Godard und Michel Piccoli, der als Präsident der Jubiläumsfeierlichkeiten eingeführt wird, an den Tisch eines Restaurants. Der Regisseur beginnt den Dialog:

Von Klaus Englert | 30.11.2005
    "Warum wollt Ihr das Kino feiern? Ist es noch nicht oder nicht mehr berühmt genug?"
    "Nein, man hat ihm sozusagen eine ganz andere Richtung gegeben."
    "War das Deine Idee?"
    "Nein, das war nicht meine Idee."
    "Also was feiert Ihr? Ich habe Dich unterbrochen."
    "Wir feiern das erste Jahrhundert des Kinos. Wir haben als Datum das Jahr 1895 genommen. Da fand die erste öffentliche Vorführung mit Zuschauern statt, die für den Film bezahlten."
    "Das heißt, Ihr feiert die Vermarktung des Films und nicht die Produktion?"
    "Wir feiern die erste Vermarktung der Erfindung durch die Brüder Lumière. (...)"
    "Wenn man etwas feiert, heißt das nicht gewissermaßen, einer Sache einen übertriebenen Wert geben, weil man ihr nicht gerecht geworden ist, sie vergessen hat? Aber wenn man sie feiert, kauft man sich frei. Steckt darin nicht eine Art Wiedergutmachung gegenüber einer Sache, die man im Stich gelassen hat"

    Wenig später bemerkt Godard gegenüber Piccoli, das Kino sei sterblich und es sei normal, dass es aufgehört habe. Es sei gestorben, als Hollywood das Diktat der Vermarktung über alles andere stellte, als der Tonfilm den Stummfilm und schließlich die Vorherrschaft der Bilder verdrängte. In der Produktion "2x50 ans de cinéma français", der anmutet wie ein Film im Prozess seines Entstehens, macht Godard unmissverständlich klar, dass es kein Zurück hinter diesen Sündenfall geben kann. Ganz im Gegenteil, seit "Außer Atem" von 1959 arbeitet Godard unentwegt daran, die Geschichte des Kinos neu zu erfinden. Wenngleich er weiß, dass der Kampf um die Macht im Kino entschieden ist, und Godard, Truffaut und Rivette ihn verloren haben.

    Trias-Afroditi Kolokitha schreibt nun in ihrem Buch "Im Rahmen. Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards", das Motto dieses sperrigen Regisseurs sei eine "Kritik des Bildes durch das Bild". Wenn Godard im Gespräch mit Piccoli die Produktion einklagt, dann möchte er die Zuschauer an der Entstehung der Bilder und Töne beteiligen. Sieht man sich die viereinhalbstündige Videoserie "Histoire(s) du cinéma" an, dann wird Kolokithas These verständlich: Der Regisseur steht in seinem Filmstudio "Sonimage", vor Schneidetisch, Schreibmaschine, Mikrophon und Videorecorder. Man sieht, wie er den Beziehungen zwischen akustischem und visuellem Material größte Aufmerksamkeit widmet. Wie er Bilder mit Bildern, Bilder mit Tönen montiert. Und wie er die vorhandenen Bilder und Töne mit weiteren Schnitten traktiert.

    Godards Kino ist Anti-Hollywood. Dies wurde schnell deutlich, als 1968 auf der Berlinale die brennenden Autos in "Week-End" zu den erregtesten Diskussionen führten. Damals wollten die Festivalteilnehmer am liebsten die Verleihfirmen enteignen und die Eintrittspreise abschaffen. Diese Forderungen unterstützten im Mai ’68, während der Filmfestspiele in Cannes, auch Jean-Luc Godard und François Truffaut. Beide dachten aber nicht - wie die Kollegen in Berlin - an ein alternatives Festival. Godards "A la grande salle!", gerichtet an die protestierenden Studenten und streikenden Arbeiter, führte zum Skandal - die Festspiele wurden abgebrochen. 1968 gehörten Godards "Week-End" und Jean-Marie Straubs "Chronik der Anna Magdalena Bach" zu den am heftigsten diskutierten Filmen. Beide stellten sich deutlich außerhalb der kommerziellen Filmindustrie.

    Bis heute ist sich Godard treu geblieben: Bilder, so sein Credo, sollen nicht der Logik der Narration untergeordnet, sondern frei verkettet werden. Nur dann könne Kino als reflexives, denkendes Medium wiedererobert werden. In "Histoire(s) du cinéma" heißt es:

    " Dass das Kino zunächst gemacht wurde, um zu denken, wird man sogleich vergessen. Aber das ist eine andere Geschichte. Die Flamme erlischt in Auschwitz. Aber diese Geschichte ist gerade einmal einen Pfifferling wert "

    Godard sieht das andere Kino als Herkulesarbeit einiger weniger, als einen Beitrag, gegenüber den kommerziellen Spielregeln, dem Diktat der Einschaltquoten, den Bereich der Kunst zu sichern. Lange vor dem Manifest der dänischen "Dogma"-Regisseure Lars van Trier und Thomas Vinterberg hatte Godard ihre Forderungen in "Außer Atem" umgesetzt: Die bewegliche Handkamera sorgte für einen ganz eigenen Rhythmus der Bilder. Auf offener Straße entstanden Aufnahmen voll flackernder Unruhe, entäußerter Emotionalität und fiebriger Bewegung. Der "plot" ist hier reine Nebensache.

    Der englische Filmwissenschaftler Colin MacCabe hat Godards Entwicklung seit "Außer Atem" nochmals nachgezeichnet - in seiner Biographie "Godard. A Portrait of the Artist [at Seventy]". MacCabe schildert Godards erste Kontakte mit der einzigartigen Filmszene im Paris der fünfziger Jahre - mit Henri Langlois, dem Begründer der Cinémathèque française, und André Bazin, dem maßgeblichen Filmkritiker und Begründer der "Cahiers du cinéma". Der Autor rekonstruiert das intellektuelle Koordinatensystem aus Maoismus, Sartre und Althusser, in dem sich die Werke von Godard und Jean-Pierre Gorin bewegten, die gemeinsam die "Groupe Dsiga Vertov" gründeten. Eine lineare Entwicklung, so MacCabe, gab es im Filmschaffen Godards nicht. Denn nachdem sich die Gruppe 1968 auflöste, begab sich Godard auf die Suche nach einer filmischen Neuorientierung. Sie führte schließlich zu seinem "Hauptwerk", den in acht Folgen gedrehten "Histoire(s) du cinéma". MacCabe meint, dieser Film sei nicht nur eine Geschichte des Kinos, sondern ihre einzigartige Verschränkung mit den Ereignissen des 20. Jahrhunderts. Kurz: "Eine genuin neue Form, Geschichte zu präsentieren".

    Gegen Ende des Films gibt Godard sein ganz eigenes Bekenntnis ab:

    " Das ist es, was ich am Kino liebe: Eine Unmenge herrlicher Zeichen, die im Lichte ihrer Unerklärlichkeit baden" "

    Jean-Luc Godard & Anne-Marie Miéville: "2x50 ans du cinéma français", 52 min., DVD, Absolut Medien; 17,90Euro.

    Trias-Afroditi Kolokitha: "Im Rahmen. Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards; Transcript, Reihe "medienkulturanalyse", Bielefeld 2005, 252 S.

    Colin MacCabe: Godard. A Portrait of the Artist at Seventy. Filmography and Picture Research by Sally Shafto. Ferrar, Straus and Giroux, 432 S., New York 2004, 25 Dollar.