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Der Meister des Schreckens wird 100

Fantômas - Der Meister des Schreckens und Grauens beschränkt sein Unwesen nicht mehr nur auf Paris und Bordeaux. Er erweitert sein Betätigungsfeld nun auch Belgien und Deutschland. Und versucht wie bisher Inspektor Juve zu entkommen.

Von Sabine Peters | 28.10.2011
    Es gibt Namen, die immer mit einem lustvollen Schauer verbunden bleiben, weil kindliche oder jugendliche Allmachtsfantasien sich an ihnen entzünden konnten. Fantômas, der Meister der Verwandlungen, der Mann mit der Maske! Eine wunderbare Identifikationsfigur, die dabei half, zumindest in der Fantasie die eigenen kriminellen Energien auszuleben. Als Fantômas streckte man seine Feinde nieder, danach raste man in einem schnellen Wagen halsbrecherische Serpentinen entlang, während die Verfolger mehr oder weniger einfältig hinterherkeuchten. Als Fantômas erreichte man die Startbahn eines Flughafens, beschleunigte noch einmal das Tempo, drückte ein paar Knöpfe auf dem Armaturenbrett, man lächelte teuflisch, während das Auto sich in ein Flugzeug verwandelte und in den Lüften entschwand.

    Das Autorenduo Souvestre & Allain schrieb in den Jahren 1911 - 1913 ganze 32 Fantômas-Romane, darunter auch den jetzt noch einmal aufgelegten Band mit dem Titel "Ein Zug verschwindet". Das Massenpublikum, aber auch expressionistische und surrealistische Künstler waren begeistert. Der Dichter Guillaume Apollinaire gehörte zu den Gründern einer Fantômas-Freundschaftsgesellschaft. Fantômas taucht im Werk des Malers Magritte auf, Kurt Weill vertonte ein Fantômas-Gedicht. Der "Herr des Grauens" schien einerseits aus einer längst überwundenen Vergangenheit zu kommen, als wundergläubige Menschen nichts dabei fanden, wenn ihnen berichtet wurde, dass andere, vom Teufel auserwählte Menschen sich nach Belieben in Luft auflösten und dergleichen mehr. Andererseits verkörperte Fantômas die jüngste Gegenwart und Zukunft, er beherrschte die neuen technischen Errungenschaften. In den Romanen von Souvestre & Allain spielen Telegramme, Autos und Flugzeuge eine wichtige Rolle. Der Beginn des 20. Jahrhunderts: Fortschrittsbegeisterung und archaische Ängste; das "Unbehagen an der Kultur" und die Leidenschaft von mehr oder weniger sanftmütigen, staatstreuen, bürgerlichen Leuten für einen gewalttätigen, staatsfeindlichen, antibürgerlichen Verbrecher mit tausend Gesichtern - diese Phänomene lassen sich trefflich untersuchen und analysieren. Und von den Höhen der Theorie aus zeigen ja tatsächlich selbst schlichte, übel zusammengeschusterte Machwerke wie die Fantômas-Romane oft individuelle oder gesellschaftliche Strukturen, die viel vom Unbewussten, von Ängsten und Wünschen erzählen.

    Bleibt man aber ohne Zuhilfenahme irgendwelcher Theorien stur bei der konkreten Geschichte vom verschwundenen Zug, dann überwiegt die Enttäuschung. Souvestre und Allain standen beim Schreiben ihrer monatlichen Romane unter ungeheurem Zeitdruck und es heißt, sie hätten die je abwechselnd geschriebenen Kapitel nicht oder nur höchst flüchtig gegengelesen. Die Folgen sind entnervende Wiederholungen. Das Breittreten von Informationen diente den Autoren sicherlich auch dazu, einem Roman wie dem vom verschwundenen Zug den gewünschten Umfang zu geben - aber als Leser kommt man bald ins Gähnen. Dabei klingt doch das Gerüst der Handlung nach reichlich viel Action: Fantômas will einen englischen Lord um fünf Millionen Pfund erleichtern und muss seine Pläne mehrfach schleunigst ändern; ein berühmter Zirkusdirektor wird einschließlich seiner fürchterlichen Löwen ins Geschehen verwickelt, Inspektor Juve verfolgt den Herrn des Schreckens, und schließlich fährt ein Zug in einen Tunnel, ohne je herauszukommen.

    Diese Ereignisse könnten sich aufs Schönste überschlagen, wenn der Roman nicht ständig durch einfältige Kurzkommentare und rhetorischen Fragen à la "warum wandte sich der Zirkusdirektor an den scharfsinnigen Polizisten?" gebremst würde. Die wimmelnden Superlative - Fantômas der böseste Bösewicht, sein Gegenspieler Juve der klügste und anständigste aller Polizisten - diese Superlative sind ok. Auch die Irrationalität der Handlung ist ok - man will nicht wissen, warum, man will einfach glauben, dass immer im rechten Augenblick allerschärfste Rasierklingen zur Hand sind und funkelnde Automobile bereitstehen. In der trivialen fantastischen Krimiliteratur darf und soll groß aufgetragen werden.

    Wirklich ärgerlich an der Lektüre vom verschwundenen Zug ist die "Verwischtheit" des Fantômas. Damit sind nicht seine ständigen Verkleidungen und seine wechselnden neuen Identitäten gemeint. Gerade da, wo Fantômas in andere Rollen schlüpft und das Gesicht seiner Feinde annimmt, schillert er, da überzeugt einen die Figur. Im Übrigen sollen er und seine Bande stehlen, chloroformieren, schlitzen und erdolchen - dafür sind sie da. Aber was soll das, wenn Fantômas seine vermeintliche Tochter Hélène stammelnd um Freundlichkeit bittet, wenn er, Zitat, "demütig wie ein ertappter Schüler vor ihr steht"? Warum muss ihm einmal ein "keusches, zärtliches Gefühl" für eben diese Hélène angehängt werden? Wenn Schurke, dann bitte richtig.

    Die Verfilmungen mit Jean Marais und Louis de Funès in den 60er-Jahren waren bereits mehr oder weniger familientaugliche, weich gespülte Versionen der originalen Episoden. Das jetzt wieder aufgelegte Original selbst aber enttäuscht durch Langatmigkeit und Unschärfe. Und was den schwarzen Humor anlangt, so findet man den sehr viel eleganter und spritziger bei einem der Vorgänger des Fantômas, bei Maurice Leblancs Meisterdieb Arsène Lupin.

    Kurz: Wer sich in Kindheit und Jugend aus ein paar Filmbildern seinen eigenen Fantômas zusammengeschustert hat, bleibt besser bei den eigenen Fantasien, als sich durch diesen allzu redundanten Roman zu kämpfen.

    Souvestre & Allain: Fantômas. Ein Zug verschwindet. Roman. Aus dem Französischen von Lea Rachwitz. Edition Epoca, 400 Seiten, 32,90 Euro