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Der Meister macht's

VW und IG Metall wagten sich vor fünf Jahren auf Neuland. Das war auf beiden Seiten nicht unumstritten und darum vereinbarten die Akteure eine wissenschaftliche Begleitforschung durch das Soziologische Forschungsinstitut an der Universität Göttingen. Die Wissenschaftler sollten herausfinden, ob die ehrgeizigen Zielsetzungen des Projekts realisiert werden konnten.

Von Ulrich Kurzer | 22.06.2006
    War es noch möglich, Autos am Standort Deutschland zu wettbewerbsfähigen und sozialverträglichen Bedingungen zu produzieren? Noch dazu mit einer Belegschaft aus ehemals Arbeitslosen, die über keine Erfahrungen im Automobilbau verfügte und erst qualifiziert werden musste? Eigens zu diesem Zweck wurde damals die VW-Tochter "Auto 5000 GmbH" gegründet. Dort verlassen heute täglich 900 VW-Touran die Werkshallen.

    Das Wagnis hat sich gelohnt, das Projekt ist ein voller Erfolg, urteilt Michael Schumann vom Soziologischen Forschungsinstitut an der Universität Göttingen. Er hat die wissenschaftliche Begleitforschung zu "Auto 5000" geleitet:

    "Wir haben als Soziologen ja vor allem eine Bilanz gezogen für dieses Projekt, ob es tatsächlich gelingt, einen Fortschritt gleichermaßen bezogen auf Wirtschaftlichkeit und im Bezug auf die sozialen Bedingungen, die Arbeitsbedingungen zu erreichen, und kommen dort zu einem positiven Ergebnis. Das Unternehmen hat eigentlich, bezogen auf die betriebswirtschaftliche Bilanz, auch schon Schlussfolgerungen gezogen, nämlich dadurch, dass sie festgestellt haben, dass mindestens ein Drittel des Zugewinns bei dieser Touranfertigung nur aus den innovativen Bestandteilen des Projektes gewonnen werden, wie etwa auch ein Drittel durch diese Einschränkungen bei Lohn und die Erhöhung der Arbeitszeit."

    Während im Haustarifvertrag für die deutschen VW-Werke die 28,8-Stunden-Woche festgeschrieben ist, müssen die Beschäftigten bei Auto 5000 durchschnittlich 35 Stunden in der Woche arbeiten. Und ihr Lohn liegt um 20 Prozent unter dem der Stammbelegschaft bei Volkswagen. Das haben VW und IG Metall in einem eigenen Tarifvertrag für das Projekt Auto 5000 vereinbart. - Hinzu kommen drei Stunden Qualifizierung pro Woche, die nur zur Hälfte bezahlt werden.

    Doch die Göttinger Forscher haben herausgefunden, dass 68 Prozent der Beschäftigten mit diesen Arbeitsbedingungen und der Bezahlung zufrieden sind. Schließlich waren sie vorher alle arbeitslos; und außerdem entsprechen Arbeitszeit und Entlohnung trotz aller Abstriche immer noch dem, was in der niedersächsischen Metallindustrie üblich ist.

    Ursprünglich wollte Volkswagen den Touran in einem Werk im Ausland fertigen lassen, dort, wo vor allem die Lohnkosten niedriger sind als hierzulande. Für die Vergabe der Produktion nach Deutschland verlangte das Management materielle Abstriche gegenüber dem VW-Haustarifvertrag.

    Zum Ausgleich dafür, dass die IG Metall dem Unternehmen bei Löhnen und Arbeitszeiten entgegenkam, verständigten sich beide Seiten auf eine neue Arbeitsorganisation, auch sie festgeschrieben in dem eigenen Tarifvertrag für Auto 5000. Der Belegschaft wurden größere Mitwirkungsmöglichkeiten und mehr Eigenverantwortung einräumt. Das sollte die Arbeitsplätze attraktiver machen, die Arbeitszufriedenheit steigern und die Motivation der Beschäftigten erhöhen. Und natürlich erhoffte sich das Management über diesen Anreiz zusätzliche Kostenvorteile in der Produktion.

    Die Untersuchung der Göttinger Soziologen zeigt, dass diese Rechnung aufgegangen ist. Michael Schumann:

    "Unabhängig von den Einzelbewertungen, die wir gefunden haben, (....) zeigt sich, dass die ganz überwiegende Mehrzahl der bei Auto 5000 Beschäftigten sich auf das Gesamtkonzept dieses Tarifvertrages eingelassen hat. Das heißt, man sieht schon, man verdient etwas weniger als bei VW, man sieht schon, man (...) muss etwas länger arbeiten, aber man sieht auch, man ist in einer qualifizierteren Arbeit, die Arbeit ist spannender, die Arbeit ist sehr viel selbstverantwortlicher, selbständiger und man ist auch ein Stück in einer betrieblichen Situation, wo traditionelle Statusdifferenzen (...) zu den Vorgesetzten etwas abgebaut sind und dabei sind, mehr abgebaut zu werden. Das heißt, man fühlt sich in einer besseren betrieblichen Situation und das drückt sich aus sowohl in einem Arbeitsverständnis, dass sich ein Stück weit identifiziert mit dem was man macht und das drückt sich auch aus in einem Betriebsverständnis, das (...) gewisse Interessen des Betriebes, nämlich wettbewerbsfähig zu sein, Prozesse zu optimieren, zu verbessern, dass man dort Mitspieler ist, dass man in der Weise wirklich Modernisierungsmitspieler geworden ist, und das ist bei normalen Belegschaften sehr viel schwieriger zu erreichen."

    So gesehen haben also beide Seiten gewonnen: VW bekam motivierte Mitarbeiter, denen das Schicksal des Unternehmens nicht gleichgültig ist. Und die Beschäftigten neue Arbeitsplätze zu guten Arbeitsbedingungen. Aber was macht die Arbeit am Band bei Auto 5000 spannender, qualifizierter, selbstverantwortlicher und ein wenig gleichberechtigter als anderswo im Automobilbau? -
    Im Mittelpunkt des Projekts Auto 5000 steht ein neues Fabrikkonzept, erklärt Hans Joachim Sperling aus dem Team der Göttinger Forscher:

    "Man hat sich gemeinsam verständigt, auf ein innovatives Konzept, was beinhaltet, eine umfassende, selbstorganisierte Gruppenarbeit, eine flache Hierarchie, eine Qualifizierung, die sowohl zunächst erstmal die Voraussetzungen für eine vorher ja nicht automobilerfahrene Belegschaft geschaffen hat, wie aber auch eine Qualifizierung, die während der Arbeit und für die Arbeit stattfindet, die auf eine Kompetenzverbreitung und Optimierung der Arbeitstätigkeiten und -prozesse zielt."

    Dadurch unterscheidet sich das Projekt von den Verhältnissen in den VW-Stammwerken in entscheidenden Punkten, sagt Hans Joachim Sperling:

    "Im Unterschied etwa zu Volkswagen, wo man in einer Fabrik etwa 6-7 Hierarchiestufen hat, gibt es bei Auto 5000 lediglich drei Hierarchiestufen. Das heißt: die unterste Ebene, die Mitarbeiter in Teams organisiert, darüber die erste Vorgesetztenebene, was traditionell in Fabriken der Meister ist, der bei Auto 5000 Betriebsingenieur heißt, und dadrüber die Bereichsleitung, das heißt, die Leitung der einzelnen Bereiche Montage, Lack und Karosseriebau."

    Natürlich lassen sich sechs bis sieben Hierarchiestufen nicht einfach so auf nur noch drei reduzieren. Damit auch bei dieser Betriebsorganisation eine reibungslose Produktion gewährleistet ist, musste die bisherige Aufgaben- und Kompetenzverteilung an die flache Hierarchie angepasst werden. Dabei wurde besonders die erste Ebene aufgewertet. Michael Schumann vom Soziologischen Forschungsinstitut:

    "Das Besondere bei Auto 5000 ist sicherlich, dass sie die Meisterposition, also die erste Position dieser Hierarchie sehr stark aufgewertet haben, weil an die Gruppe, an die Arbeiter sehr viel an Aufgaben, insbesondere der Arbeitsplanung, der Arbeitseinsatzplanung, der Personalplanung übergeben worden ist. Dadurch ist der Meister entlastet, kann andere Tätigkeiten übernehmen, wie Technikplanung, wie Controlling, wie Kostenplanung, die vorher in übergeordneten Hierarchieebenen waren. Nur durch diese Aufwertung des Meisters ist es tatsächlich hier möglich, zu einer Dreierhierarchie zu kommen und das ist ein schwieriges Unterfangen, das ist so nicht ohne Weiteres jetzt etwa auf andere Werke zu übertragen."

    Im Zusammenspiel der einzelnen Maßnahmen liegt für die Göttinger Wissenschaftler der Schlüssel zum Erfolg bei Auto 5000: Qualifizierung der Belegschaft vor und bei der Arbeit und ein Mehr an Eigenverantwortung für die Beschäftigten durch selbstorganisierte Teamarbeit. Das erhöht die Arbeitszufriedenheit. Die Motivation der Mitarbeiter steigt und sie identifizieren sich stärker mit dem Unternehmen.

    Die Aufwertung der Meister schafft eine flache Hierarchie, reduziert Statusdifferenzen und legt den Grundstein für eine neue Betriebsorganisation:
    Bei Auto 5000 wurden Bereiche in die Produktion integriert, die im Automobilbau normalerweise fernab in den Verwaltungsgebäuden angesiedelt sind. Für Michael Schumann ist das eine entscheidende Neuerung, die den modernen Zuschnitt des Projekts belegt:

    "Sie haben üblicherweise ja alles was zur Produktion gehört und dann die so genannten indirekten Bereiche. Also Instandhaltung, Controlling, Qualitätssicherung und (...) industrial engineering als separte Bereiche. Bei Auto 5000 ist es, soweit wir sehen, in so konsequenter Form zum ersten Mal gelungen, die ganzen indirekten Bereiche in die Fertigung reinzunehmen. Sie habens organisiert (...) vor Ort, dort sitzen auch die meisten dieser Indirekten in ganz enger Kooperation mit den Produktionsverantwortlichen wie aber auch mit den Mannschaften."

    Für die Göttinger Wissenschaftler ist Auto 5000 ein Vorzeigeprojekt. Mit einer Reihe innovativer Elemente ermöglicht es die wirtschaftliche und sozialverträgliche Produktion des VW-Touran am Standort Wolfsburg.
    Produktion und Beschäftigung sind tarifvertraglich zwischen Unternehmen und Gewerkschaft ausgehandelt. Auch wenn die Mitarbeiter dort für weniger Geld länger arbeiten müssen als die VW-Stammbelegschaft, so entsprechen Entlohnung und Arbeitszeit doch immer noch dem Niveau des Tarifvertrags in der niedersächsischen Metallindustrie.

    Die wissenschaftliche Begleitforschung kommt vor diesem Hintergrund zu folgendem Schluss: Wettbewerbsfähige Produktion und tarifvertragliche Regelungen schließen einander nicht aus!

    Doch in der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte wird genau das häufig bestritten. Tarifliche Öffnungsklauseln werden verlangt. Und manche wollen die Tarifverträge sogar völlig abschaffen. Anders sei eine wettbewerbsfähige Produktion am Standort Deutschland nicht möglich, heißt es dann immer wieder. - Doch in der Bilanz der wissenschaftlichen Begleitforschung finden diese Positionen keine Bestätigung.

    Andererseits sind die Verhältnisse bei Auto 5000 aber auch nicht im Verhältnis von Eins zu Eins auf andere Unternehmen übertragbar, schränkt Michael Schumann ein:

    "Man wird in der Frage der Übertragbarkeit der Erfahrungen, die bei Auto 5000 gemacht wurden, vorsichtig sein müssen, weil es in Vielem ein Projekt sui generis war, ein Projekt war, das einen Einzelfall darstellt. Schon allein dadurch, dass man hier im großen Stil Arbeitslose rekrutiert hat, auch dadurch, dass man ein Management hat, das in ganz besonderer Weise sich herausgefordert gesehen hat und versucht hat, (...) zu einem positiven Ergebnis zu kommen."

    Doch trotz dieser Einschränkungen lassen sich aus dem Projekt wichtige Einsichten darüber gewinnen, wie eine moderne Fertigung am Standort Deutschland aussehen könnte:

    "Man kann aus unserer Sicht überhaupt nicht davon absehen, dass im Moment die Standortverlagerungen ins Ausland, vornehmlich in Länder mit einem sehr niedrigen Lohn, aber doch relativ auch qualifizierten Arbeitskräften eine sehr große Bedrohung ist. Und man wird darauf eine Antwort finden müssen. Und diese Antwort, wenn sie erfolgreich sein soll, kann wohl nur heißen, die Stärken des Modells Deutschland, die Stärken des rheinischen Kapitalismus nochmal wieder auszuspielen. Und diese Stärken sind, dass man zu(r) Konsens zwischen Kapital und Arbeit fähig ist, und dass man insgesamt die Qualifizierung breiter und besser nutzen kann."

    Das meint nicht allein die Qualifizierung der Beschäftigten in der Produktion, das schließt vor allem das Zusammenspiel aller Beteiligten ein: vom qualifizierten Facharbeiter bis zum Techniker und Ingenieur, betont Michael Schumann:

    "Dieses Zusammenspiel wird über ein solches Modell besser und bringt damit ein Gesamtpotential, ein Gesamt-Know how, für auch eine solche Fertigung wie bei Automobilen ins Spiel, wo wir doch meinen, gerade wenn man auch sieht, dass die Produkte immer komplexer werden, immer technisierter werden, wo man sehr viel Wandel, Innovation in den Produkten hat, es bringt damit also ein Arbeitskräftegesamtspektrum ins Spiel, das vielleicht schon die besonderen Standortvorteile, die wir in dieser Hinsicht haben, auch so stark macht, dass dadurch Verlagerungen ins Ausland verhindert werden können."

    Im September letzten Jahres entschied die Konzernleitung einen neuen Golf-Geländewagen ab 2007 nicht in Portugal, sondern in Wolfsburg bei Auto 5000 produzieren zu lassen. 1000 Ausgelernte werden neu eingestellt.
    Dem Betriebsrat und der IG Metall beweist das, die VW-Tochter produziert wettbewerbsfähig. Und auch nach Meinung der Göttinger Forscher steht diese Entscheidung für den Erfolg des Projekts Auto 5000.

    Doch - ist Auto 5000 ein Modell, das auch mit der VW-Stammbelegschaft funktionieren würde? Es gibt da einen entscheidenden Unterschied: Die Beschäftigten bei Auto 5000 waren vor ihrer Einstellung arbeitslos. Und die Begleitforschung hat ergeben, dass sie sich an dieser Erfahrung orientieren, wenn sie ihre Arbeits- und Entlohnungsbedingungen beurteilen.

    Also: 20 Prozent weniger Lohn und längere Arbeitszeiten demnächst auch für die altgedienten VW-Werker? - In den Verhandlungen zwischen Volkswagen und IG Metall über Kostensenkungen an den deutschen Standorten steht diese Forderung des Managements bereits auf der Tagesordnung.