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Der Mensch als Summe seiner Tondokumente

Heiner Müller, einen der bekanntesten deutschen Dramatiker kann man jetzt auf 36 Stunden größten Teils unveröffentlichte Tonmaterials hören. Auf vier CDs spricht er über seine Zeit als Künstler in der DDR und im Nach-Wende-Deutschland.

Von Florian Felix Weyh | 21.04.2011
    "Mich stört ein bisschen die Vorstellung, dass es harmonische Persönlichkeiten gibt. Ich kann mir das nicht wünschen, eigentlich."

    " Man kann's auf eine Formel bringen: In 50 Jahren ist nicht wichtig, wo und wann ich mich wie ein Schwein verhalten habe. Es ist wichtig, wo ich wie ein Schwein geschrieben habe."

    "Wenn ich gesagt hätte, ich reise nicht, bevor nicht alle reisen können, hätte ich eine ganze Menge Dinge nicht schreiben können, die ich geschrieben hab, weil ich reisen konnte. Und meine erste moralische Verpflichtung ist die meiner Arbeit gegenüber."

    "Das einzige Territorium, was mich interessiert, bin ich."

    Versuchsanordnung: Der Mensch als Summe seiner Tondokumente. Möglich seit Beginn der akustischen Aufzeichnungstechnologie, also frühestens auf Biografien des 20. Jahrhunderts anwendbar. Ein Mann Jahrgang 1929 muss freilich schon prominent gewesen sein, um für diese Versuchsanordnung etwas herzugeben. Nicht nur Dramen und Gedichte, Bücher und Reden, sondern Magnetbänder muss er hinterlassen haben, verrauschte, verhallte, verzerrte Aufnahmen von Gesprächen, Diskussionen, Interviews, mal mit, mal ohne Publikum. Ohne Publikum, im engen Kreis von Theaterwissenschaftlern, spricht es sich anders als vor laufender Kamera. Aber das gehört zur Versuchsanordnung dazu:

    "Ich zitiert mal jetzt was ganz Schlimmes, einen Satz von Bloch, den ich immer sehr einleuchtend fand, aus der Zeit, als er noch hier war: "Die moralische Überlegenheit des Kommunismus beruht darin, dass er für den Einzelnen keine Antwort hat." Das finde ich einen sehr guten Satz.

    "Was spricht eigentlich gegen ein schlechtes Gewissen als Schreibimpuls oder als ein Schreibimpuls? Das gehörte zu diesem Erfahrungsdruck in der DDR, und das schlechte Gewissen schärft auch den Blick für das eigene Bewusstsein oder Gefühlsleben und auch den Blick für gesellschaftliche Strukturen."

    "Und ich finde positiv auf jeden Fall, dass bei uns die Scheidungsquote so hoch ist, das ist ein sehr gutes Zeichen, und dass die meisten Scheidungsanträge von Frauen ausgehen. Das spricht sehr für die DDR, glaube ich. "

    Die Versuchsanordnung ist unfair, ja konsequent auf unser Medienzeitalter angewandt sogar erschreckend. Wer will schon haften für Sätze, die er irgendwann einmal in irgendeiner Situation gesagt hat? Wer will überhaupt, dass diese Sätze bleiben? Nie hätte Heiner Müller mit einem Massenpublikum rechnen müssen, als er die Scheidungsquote hinter dem Eisernen Vorhang als Zeichen vorgeschrittener Frauenemanzipation pries. Zudem mit einem Massenpublikum, das anderen Wertmaßstäbe als jene des Dichters 1972 in der DDR besitzt. Die Frage nach den Wertmaßstäben stellt sich immer wieder:

    "Wir haben eine ungeheure Selbstmordquote in der DDR, das spricht einmal für die Dynamik unserer Entwicklung und so, auch die Selbstmordquote. Spricht auch für einiges andere, ist auch klar. Andererseits ist das eigentlich schon beinah ein gesunder Instinkt, finde ich, dass das bei uns nicht so ernst genommen wird, diese Selbstmordquote."

    Das Urteil könnte klar sein: Ein Zyniker und unbelehrbarer Anhänger jener Spielart des Kommunismus, die sich um individuelles Leid nicht schert, so lange das Kollektiv keinen Schaden nimmt. Aber dieser Eindruck hält nicht lange vor, denn die 36 Stunden der gigantischen Originaltonedition des Alexander Verlags unterminieren alle vorgefassten Meinungen über diese schillernde Figur der deutschen Nachkriegsliteratur, an der sich nach wie vor die Geister scheiden. Das wird die Edition "Müller MP3" nicht ändern. Müllers Anhänger und Jünger finden hochintelligente Kommentare zu Kunst, Geschichte und Zeitgeschehen, böse Apercus und noch bösere Zynismen - und in jeder Lebensphase ein klares Bekenntnis zum Kommunismus, freilich zu einem, der mit der DDR wenig gemein hatte. Seine Gegner erleben einen Mann, der diese Kommunismusträume nicht zu konkretisieren vermag, der sich prinzipiell übers Dagegensein definiert - ob gegen die SED-Führung im Osten oder gegen die Marktwirtschaft im Westen -, der mit Worten laviert und immer, wenn er Farbe bekennen muss, auf Formeln wie "Alles eine Frage der Definition" ausweicht und sich in launige Anekdoten flüchtet. Ein Mauerbefürworter und Wiedervereinigungsgegner - aber dann doch wieder ein scharfer, den kleingeistigen Funktionären überlegener Opponent des DDR-Systems. Kann es staatstragenden Widerstand geben? Bei Heiner Müller gibt es alles, sogar etwas, das man angesichts der Tiefgründigkeit seiner Texte - oder Tiefgründelei, wie die Gegner argwöhnen - gar nicht erwartet: Unterhaltungswert.

    "Ich les jetzt doch mal mein kürzestes Stück noch vor, sind zwei Clowns:"

    Zugegeben, das "Herzstück" ist unter den sonst auf den vier MP3-CDs vorhandenen Müllerlesungen - sie machen etwa zwei Drittel der Edition aus - nicht nur die kürzeste, sondern auch die lustigste und damit wenig repräsentativ fürs Gesamtwerk. Die häufigen Anwürfe, er schreibe unverständlich, kontert Müller mit der für einen selbstbewussten Autor einzig möglichen Entgegnung:

    "Keiner glaubt, dass einfach das gemeint ist, was da steht. Alle denken, da ist noch was dahinter. Der meint noch irgendwas ganz Schlimmes, was er nicht direkt sagt. Und ich hab eigentlich immer das geschrieben, was ich meine. So weit ich das beurteilen kann, das ist ja wieder eine andere Sache, das Verhältnis zwischen Intension und Text, das ist für den Autor selbst auch nicht ganz durchschaubar."

    Tatsächlich beantwortet auch diese mit umfangreichem Begleitbuch vorzüglich ausgestattete Edition keiner der vielen Fragen, die sich zum Werk oder zur Person Heiner Müllers ergeben. Ungeschnitten und unkommentiert - das ist ihre eigentliche Stärke! - führt sie vor, wie sich einer gekonnt selbst inszenierte, als Vierzigjähriger Formulierungen fand, die er als Mittsechziger noch immer wirkungssicher verwendete. Viel Narzissmus ist im Spiel, aber auch erstaunlich viel Aufrichtigkeit. Der westdeutschen Hörerschaft erschließt sich vor allem im dreistündigen, nichtöffentlichen Gespräch von 1972 jener Resonanzraum, in dem Heiner Müller seine Provokationen in der DDR platzierte. Selbst der metasprachliche Teil der Aufzeichnungen erweist sich da als aufschlussreich. Wenn die Universitätsangestellten über scharfe Pointen hinter vorgehaltener Hand lachen, als wüssten sie, die Stasi höre mit, erkennt man auch 40 Jahre später ihre Ängstlichkeit. In der Summe aller Dokumente dürfte der "Meister" selbst seinen Verächtern sympathischer werden, was nicht zuletzt an seinem funkelnden Intellekt liegt, und ganz zum Schluss beweist er etwas, wofür er wirklich nicht berühmt war: Selbstironie. Er liest eine Satire des Autorenkollegen Bernd Wagner über den Müller-Personenkult - der übrigens in der Kulturschickeria des Westens größer war als im ernsthaften Osten - und findet die Verhohnepipelung seiner selbst richtig komisch:

    "Wir müssen in seinem eigenen Interesse und dem der Allgemeinheit verhindern, dass er weiter Interviews gibt. Ich halte es nicht mehr aus! (lacht) Welche Zeitung oder Illustrierte man auch immer aufschlägt, es steht ein Interview mit ihm darin. (lacht) Welche Talkshow man auch einschaltet, der neue Meister sitzt dabei, erzählt Anekdoten und hat alles schon immer gewusst. Mir reicht es!"

    Müller MP3, Heiner Müller Tondokumente 1972-1995, 4 CD im mp3-Format, ca. 36 Stunden. Begleitbuch mit 192 Seiten. Alexander Verlag, 78 Euro