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"Der Mensch ist ständig Opfer von Suggestion und Verheißungen"

Mit der Analyse der ostdeutschen Seele in "Der Gefühlsstau" landete der Hallenser Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz einen Bestseller. In seinem neuen Buch "Die narzisstische Gesellschaft" holt er weiter aus, legt nicht nur alle Deutschen, sondern alle Menschen auf die Couch.

Von Henry Bernhard | 23.07.2012
    Die Ostdeutschen, so schrieb Hans-Joachim Maaz 1990 in seinem Bestseller "Der Gefühlsstau", seien autoritäre, gebückte, gebrochene Charaktere, die nicht nur unterdrückt, sondern auch emotional eingemauert gewesen seien. Indem jeder die Diktatur verinnerlichte, egal, ob als Unterdrücker oder Unterdrückter, seien alle auf ihren wirklichen, tiefen, inneren Gefühlen sitzen geblieben. Am Ende gab Maaz einen Ausblick - gleich dem Schluss eines Horrorfilms, in dem das Böse zwar vorerst besiegt, aber immer noch lebendig ist - und unheilschwanger um die Ecke lugt.

    Das Mangelsyndrom ist im Westen sicher auch zu diagnostizieren, doch dürfte der äußere Wohlstand eine wesentliche kompensatorische Funktion einnehmen. Es ist zu befürchten, dass die inneren Probleme länger und geschickter unter dem äußeren Glanz verborgen bleiben. Die Zukunft wird uns lehren, ob die leichtere und bessere äußere Befriedigung einen Segen oder einen Fluch darstellt.

    Man ahnt es schon: Hans-Joachim Maaz ist für sein neues Buch "Die narzisstische Gesellschaft" fündig geworden: Der Fluch lastet nicht nur auf Ost- oder Westdeutschen, sondern auf allen Menschen. Der Fluch des gekränkten Narzissten, er schreibt:

    Nur etwa 20 Jahre nach dem Untergang des real existierenden Sozialismus ist auch die "narzisstische Gesellschaft" ökonomisch und vor allem politisch-ideell am Ende. Und wieder sind es die Menschen selbst, die ihre Lebensform ruinieren. Der innere Mangel hat ein Verlangen nach immer mehr Äußerlichkeiten, nach immer mehr Konsum und Verbrauch angeheizt, in der illusionären Hoffnung, das seelische Defizit materiell auffüllen zu können.

    Maaz' grundlegende These ist so einfach wie allumfassend: Wir alle seien als Kind nicht genug geliebt worden, falsch geliebt, aus den falschen Gründen geliebt. Deshalb hätten wir nur zwei Auswegmöglichkeiten: Entweder wir gieren immer weiter danach, geliebt und bewundert zu werden. Oder wir beweisen uns tagtäglich, dass wir es nicht würdig sind, geliebt zu werden: Maaz geht davon aus: Keiner, weder der Liebe Suchende noch der Liebe Abwehrende hat eine Chance, wirklich befriedigt zu werden. Einzig der, der narzisstisch gesättigt ist, also als Kind bedingungslos um seiner selbst willen geliebt, gefördert und ermutigt wurde, kann sein Leben frei und unverstellt leben.

    Im wahren Selbst lebt der Mensch sein Leben in ständiger Bezogenheit zur Umwelt, von der er sich beeinflussen, aber nicht bestimmen lässt und auf die er Einfluss nimmt, ohne die Illusion besonderer Mächtigkeit zu hegen. Im falschen Selbst wird der Mensch gelebt, zerrissen durch unterschiedliche Erwartungen, gequält von dem Gefühl, nie gut genug zu sein. Er surft auf der Welle der Moden und des Zeitgeistes und ist ständig Opfer von Suggestion und Verheißungen.

    Maaz arbeitet sich für sein Buch durch alle Lebensbereiche: Politik und Partnerschaft, Elternschaft, Sex, Arbeit, Sport und Ernährung - für ihn sind alle geprägt durch Narzissten, die entweder nach Anerkennung, Leistung, Macht streben oder aber sich eilfertig unterwerfen. Die Religion als Ort von Macht und Unterwerfung lässt der Autor, der bis zur Rente Angestellter einer kirchlichen Einrichtung war, in seiner Betrachtung interessanterweise aus. Dabei kann Maaz mit seinen Beschreibungen nicht ganz falsch liegen. Vielem stimmt man schnell zu. Ärgerlich wird das Buch, wenn Maaz Erkenntnisse der Psychologie analog auf Gesellschaften, auf Politik, auf historische Prozesse anwendet. Die Schuldenkrise, der Holocaust, Hooligans, eitle Politiker, sogar der Kalte Krieg, das Wirtschaftswunder, oder das Risiko der Atomkraft - alles erklärt der Psychoanalytiker mit einer einzigen These. Und manches klingt einfach absurd.

    Ich lege Wert darauf, dass sowohl die Wachstumsideologie, die nur äußeren Wohlstand schafft, wie auch das Leiden an Mangelwirtschaft und repressivem Staatssystem nicht schicksalhafte Zustände und Verläufe sind, sondern von den Menschen zur Abwehr individueller narzisstischer Not gebraucht und deshalb auch unbewusst gewollt werden.

    Maaz' politisches Weltbild ist einfach und selbst gestrickt: Ursache jeglicher Gewalt, auch der Kriege, sei "narzisstisch begründete Not" zu wenig geliebter Kinder. Seine Erkenntnisse im politischen Bereich sind dürftig und bilden quasi das politikwissenschaftliche Äquivalent zur Küchenpsychologie. Dabei legt er dennoch den Finger in die richtigen Wunden: Dass Politiker oft nur die Wiederwahl im Blick haben, dass rücksichtslose Gier den Raubtierkapitalismus antreibt, dass die existenziellen Umwelt- und Gerechtigkeitsprobleme längst bekannt sind, aber dennoch ignoriert werden - alles richtig. Warum aber der Narzissmus der Gesellschaft gerade jetzt, im beginnenden 21. Jahrhundert, das Genick brechen sollte, lässt Maaz völlig offen.

    Unsere narzisstisch begründete Demokratie ist nicht mehr das "beste aller Systeme", weil die notwendigen Mehrheiten nicht auf dem Weg emotional getragener, rationaler Entscheidungen zustande kommen, sondern die narzisstische Abwehr ( ... ) in der politischen Arena das Sagen hat.

    Selbst wenn dem so wäre - wann ist der Mensch denn je anders gewesen? Maaz' Lösungsvorschläge lesen sich denn auch verblüffend naiv. Er verweigert den politischen Wettbewerb, dem er nicht zutraut, brauchbare Ergebnisse zu zeitigen. Statt Berufspolitikern sollen sich "Experten, Wissenschaftler, Philosophen, Therapeuten, Theologen, Künstler, Handwerker und Arbeiter, Eltern und Lehrer" zusammensetzen und im Konsens Lösungen suchen.

    Der Expertenrat ersetzt das Kabinett, die Mitglieder werden direkt vom Volk gewählt, sie arbeiten unabhängig und ehrenamtlich, nur dem jeweiligen Erkenntnisstand ihres Fachgebietes und ihren Erfahrungen verpflichtet.

    Hans-Joachim Maaz wollte zu viel mit zu wenig Handwerkszeug. Und spätestens seit Maaz' Kollegen, dem österreichischen Psychotherapeuten Paul Watzlawick ist klar: "Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel."

    Hans-Joachim Maaz:
    Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm. C.H. Beck Verlag, 236 Seiten, 17,95 Euro
    ISBN: 978-3-406-64041-4