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Der "NATO-Doppelbeschluss" wird in Brüssel verabschiedet

Es waren die größten Demonstrationen, die die Bundesrepublik bis dato gesehen hatte: Der "Heiße Herbst" 1983 brachte Hunderttausende von Menschen auf die Straße: Junge, Alte, ganze Familien widmeten ihre Sonntagsspaziergänge dem Protest gegen die Mittelstreckenwaffen und wanderten in Scharen zu Sitzblockaden, Friedensmärschen, Menschenketten.

Von Andreas Baum | 12.12.2004
    Reporter: 108 Kilometer Menschen untergeärmelt oder sich einfach an den Händen haltend. Der Verkehr auf der Bundesstraße 10 ruht für 20 Minuten. Denn die Demonstranten stehen auf der Straße oft sogar in Doppelreihen in Kreisen in Sternform. Es müssen mehr als 200.000 gewesen sein. Es war ein beeindruckendes Bild, diese Menschenkette. Kurz vor eins wurde es still auf der Straße zwischen Ulm und Stuttgart. Fünf Minuten Schweigen für den Frieden.

    Im ganzen Land schossen "atomwaffenfreie Zonen", "atomwaffenfreie Dörfer" und –"Schulen" wie Pilze aus dem Boden. Christliche Pazifisten, Alternative, undogmatische Linke, vereinzelte national orientierte Splittergruppen und orthodoxe Kommunisten konnten sich plötzlich auf griffige Formeln wie "Frieden schaffen ohne Waffen", oder "Nach Rüstung kommt Krieg" einigen.

    Die Friedensbewegung erfüllte einen alten Traum der Linken: Sie schuf eine Bewegung mit breiter Massenbasis, mit Sympathisanten weit ins konservative Lager hinein. "Lieber Rot als Tot", das war der Slogan der Stunde.

    Reporter: Pünktlich zwölf Uhr vierzig schloss sich die Kette. (Singen: Frieden für alle...) Gesang und natürlich Freude bei den 200.000 Demonstranten.

    Demonstrant: Ich weiß, dass jetzt links und rechts Tausende von Leut’ dran hängen, die alle des Gleiche und des Gleiche vorhaben wie ich. Das ist ein schönes Gefühl. (Applaus)

    Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt bezeichnet sich gern als Vater des Nato-Doppelbeschlusses. In den siebziger Jahren verhandelte US-Präsident Carter mit der Sowjetunion über Rüstungskontrolle und Abrüstung. Der Vertrag mit dem Namen SALT II hätte zahlreiche Atomraketen, mit denen sich die Großmächte gegenseitig bedrohten, abgebaut, besonders viele in Westeuropa.

    Helmut Schmidt ließ das keine Ruhe: Er fürchtete sich vor einer Sicherheitslücke im System globaler Abschreckung. In seiner "Londoner Rede" vor dem International Institute for Strategic Studies formulierte Schmidt 1977 sein Unbehagen so:

    Eine auf die Weltmächte USA und Sowjetunion begrenzte strategische Rüstungsbeschränkung muss das Sicherheitsbedürfnis der westeuropäischen Bündnispartner gegenüber der in Europa militärisch überlegenen Sowjetunion beeinträchtigen, wenn es nicht gelingt, die in Europa bestehenden Disparitäten parallel zu den SALT -Verhandlungen abzubauen.

    Der deutsche Kanzler forderte Atomraketen, um das Gleichgewicht der Abschreckung in Europa aufrecht zu erhalten. Sein Verteidigungsminister Hans Apel erinnert sich später:

    Die Amerikaner haben dem Wunsche des Bundeskanzlers nicht stattgegeben. Sie haben SALT II abgeschlossen, ohne dieses Problem anzusprechen, es soll ja wohl nur mal in einem Fahrstuhl zwischen den beiden Großen, zwischen Carter und Breschnew angesprochen worden sein. Und das hat die Problematik ausgelöst, und nur das. Der Auslöser für die Nachrüstung liegt in einer unzureichenden Verhandlung der Amerikaner und dem Offenlassen einer Grauzonenproblematik in Europa, die dann allerdings geschlossen werden musste, denn mit ungenügendem Verhandlungsergebnis kann man europäische Sicherheit nicht garantieren.

    1979 lenkten die Amerikaner ein. Am 12. Dezember beschlossen die Außen- und Verteidigungsminister der NATO in Brüssel die Modernisierung des Mittelstreckenpotentials und die Aufstellung von 572 weiteren Raketen. Gleichzeitig bot die NATO der Sowjetunion die Aufnahme von Verhandlungen über das Potential an Mittelstreckenraketen an: Das war der Doppelbeschluss.

    Zwei Wochen später besetzte die Sowjetunion Afghanistan. Der US-Amerikanische Präsident Jimmy Carter unterbrach die Abrüstungsverhandlungen. Das weltpolitische Klima wurde nach kurzem Tauwetter wieder frostig. Als kurz darauf Ronald Reagan US-Präsident wurde und von der Sowjetunion als "Reich des Bösen" fabulierte, war an Gespräche zwischen den Blöcken nicht mehr zu denken.

    Der Verhandlungsteil des Doppelbeschlusses lag auf Eis, der Nachrüstungsteil wurde trotzdem durchgeführt – Auch ohne Helmut Schmidt, der 1982 von Helmut Kohl abgelöst wurde. Aber die neue Regierungskoalition setzte die Raketenbeschlüsse durchaus in Schmidts Sinne um. Manfred Wörner, in den achtziger Jahren Verteidigungsminister im Kabinett Helmut Kohls:

    Jeder soll wissen in unserem Volk, dass nicht nur für jede der neu zu stationierenden Waffen eine andere abgezogen wird, sondern, dass wir bereit sind, auch jede dieser neuen Waffen wieder abzuziehen oder zu verschrotten, wenn die Sowjetunion das gleiche mit ihren SS 20 macht.

    Helmut Schmidt scheiterte als Politiker auch am NATO-Doppelbeschluss. Ob die Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen das Gleichgewicht in Europa wieder hergestellt oder es zerstört hatte – für die Friedensbewegung kam das aufs selbe heraus. Die Mehrheit der Sozialdemokraten dachte bald ebenso. Auf dem SPD-Parteitag von 1983 stand nur noch ein gutes Dutzend Delegierte zum Doppelbeschluss und damit zu Helmut Schmidt.