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Der "neue" Historikerstreit
Was hat der Kolonialismus mit dem Holocaust zu tun?

Ende der 1980er Jahre warf der Historiker Ernst Nolte die Frage auf, ob der Holocaust als Reaktion auf die Gräuel des Bolschewismus zu interpretieren sei. Aktuell wird diskutiert, welche Rolle der Kolonialismus als Wegbereiter des Genozids gespielt hat - um eine Entlastung von historischer Verantwortung geht es aber nicht mehr.

Von Ursula Storost | 07.10.2021
Ernst Nolte posiert in einer Bibliothek in Paris
Der Historiker Ernst Nolte löste 1986 den ersten "Historikerstreit" um die Singularität des Holocausts aus. Aktuell wird dazu die Rolle des Kolonialismus diskutiert. (AFP / Daniel Janin)
Deutschland im Jahr 1986. Helmut Kohl ist Bundeskanzler, die Berliner Mauer steht seit 25 Jahren und zwischen Historikern, ausschließlich Männern, tobt ein Streit, wie es zum Holocaust kommen konnte.
"Damals ging es ganz stark um die Frage, ob man die Besonderheit oder Singularität des Holocaust infrage stellen kann und ob man den Holocaust nicht als Reaktion auf den Gulag oder auf die Verbrechen des Stalinismus interpretieren müsse. Das wurde 1986 unter anderem von Jürgen Habermas ganz stark als Versuch der Relativierung wahrgenommen und eben stark kritisiert."
Heute, so Sebastian Conrad, Professor für neuere Geschichte an der FU Berlin, wird wieder darüber gestritten, wie es zum Holocaust kommen konnte. Aber unter anderen Vorzeichen. Denn inzwischen sind auch die deutschen Kolonialverbrechen, der Völkermord an den Herero und Nama ins Blickfeld gerückt: "Heute geht es ganz stark darum, ob das Beharren darauf, dass der Holocaust einzigartig, unvergleichbar gewesen sei, in Deutschland nicht dazu führt, dass andere Erinnerungen daneben nicht so richtig Platz finden."
Jürgen Habermas, einer der renommiertesten und dienstältesten Philosophen unseres Landes, der beim Historikerstreit 1986 eine wichtige Stimme hatte, hat sich zu der neuen Debatte geäußert: "Das Beharren auf dem 'singulären' Zug des Holocaust heißt nicht, dass sich das politische Selbstverständnis der Bürger einer Nation einfrieren lässt. Die Erinnerung an unsere bis vor kurzem verdrängte Kolonialgeschichte ist eine wichtige Erweiterung."
Zwei Personen gehen vor dem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust durch das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Der Holocaust-Gedenktag wird am 27.01.2021 begangen.
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Erinnerung an Kolonialverbrechen wurde verdrängt

Habermas spricht sich also klar dafür aus, die Debatte zu führen. Denn: die Erinnerung an deutsche Kolonialverbrechen kam noch bis vor wenigen Jahren in der historischen Forschung gar nicht vor – darauf weist Sebastian Conrad hin:
"Also man könnte sagen, die lange Nachkriegszeit, die ersten 50 Jahre der Bundesrepublik, das war eine nationale Auseinandersetzung. Also nie wieder Faschismus, nie wieder Holocaust. Und seit Beginn dieses Jahrtausends, vor dem Hintergrund von Globalisierung werden jetzt ganz viele andere Aspekte der Vergangenheit ins Zentrum gerückt. Und im deutschen Fall sind es dann vor allem die Kolonialverbrechen."
Sebastian Conrad beschäftigt sich seit Jahren mit der Geschichte der Geschichtsschreibung und der Erinnerung. Dass möglicherweise ein Zusammenhang zwischen dem Holocaust und den Kolonialverbrechen besteht, ist kein neuer Gedanke. Bereits in den 1960er Jahren gab es Vordenker der Dekolonisierung, z.B. Frantz Fanon, einen aus Martinique stammenden Arzt und Psychiater, der darlegte...
"...dass Genozide, Völkermorde in den Kolonien gewissermaßen ausprobiert wurden, bevor sie dann nach Europa zurückkamen. Dass der Zivilisationsbruch, von dem häufig die Rede ist, also in den Kolonien stattgefunden habe, bevor er dann in Europa selber Anwendung fand."

Der erste deutsche Völkermord war lange vor der NS-Zeit

Thesen, zu denen Jürgen Zimmerer, Geschichtsprofessor an der Universität Hamburg forscht. Der Leiter der Forschungsstelle "Hamburgs postkoloniales Erbe" kritisiert die auch bei kulturpolitischen Einrichtungen oft verbreitete Sichtweise, dass die deutsche Geschichte eigentlich eine Geschichte der "Dichter und Denker" gewesen sei, die von den furchtbaren 12 Jahren des Nationalsozialismus jäh unterbrochen wurde:
"Wenn man akzeptiert, dass es einen Genozid in Deutsch-Südwestafrika gegeben hat, also der erste deutsche Genozid lange vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten verübt wurde - dann wird im Grunde dieses Herausschneiden der Verbrechen des Nationalsozialismus aus der deutschen Geschichte ad absurdum geführt."
Jürgen Zimmerer publiziert seit Jahren zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust. Für ihn ist es ein Muss, darüber zu sprechen, in welcher Beziehung Kaiserreich und Drittes Reich stehen. Völkermord und Rassenideologie seien hier Kontinuitätslinien. Und deswegen sei es auch wichtig, hier zu fragen: "Warum aus dieser Tradition dieses Kaiserreiches dann eben der Erste Weltkrieg hervorging und der Zweite Weltkrieg und eben auch der Holocaust."
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"Singularität des Holocausts" in Frage gestellt?

Doch seit Zimmerer und andere mit dieser Meinung an die Öffentlichkeit gehen, werden sie angegriffen. Weniger von Historikerinnen und Historikern als vielmehr von Kulturschaffenden und in der medialen Debatte. Die Kritik lautet: Die postkoloniale Sichtweise stelle die Singularität des Holocaust in Frage.
So schrieb Thomas Schmid, Autor der "ZEIT", im April: "Es ist in den USA, aber auch hierzulande schick geworden, den Holocaust hinter den Kolonialismus zu stellen oder ihn gar hinter dem Kolonialismus verblassen zu lassen."
Dabei, so Jürgen Zimmerer, gehe es nur um einen kritischen Blick auf das deutsche Kaiserreich: "Übernehmt doch bitte auch Verantwortung für die kolonialen Verbrechen. Das heißt, übertragt doch das Bewundernswerte in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust auch auf den Kolonialismus."
Denn tatsächlich: In der bisherigen Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland sei viel geleistet worden. Jetzt müssten die Zusammenhänge von Antisemitismus und Rassismus erforscht werden. Die fänden sich auch im deutschen Kolonialismus.

Erfüllen Antisemitismus und Rassismus gleiche Funktion?

Eine Forderung, die Kritik auslöst, z.B. bei Politikern wie dem Bundesbeauftragten für jüdisches Leben in Deutschland, Felix Klein. Im Mai sagte er in einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: "Das halte ich für grundfalsch. Antisemitismus ist keine Unterform von Rassismus, sondern eine eigenständige Form der Diskriminierung."
Für den Kolonialismusforscher Jürgen Zimmerer steht fest: Die Entstehung der europäischen Moderne hat eben auch dunkle, bislang wenig erforschte Seiten. Und da würden Antisemitismus und Rassismus eine Rolle spielen: "Beide Ideologien, Antisemitismus wie Rassismus, dienen dafür, eigentlich ein absolutes Gegenüber zu konstruieren, das man dann versklaven kann, das man dann vertreiben kann, das man dann ermorden kann. Die sind nicht identisch. Sie sind funktionsäquivalent. Ich schaue auf diese Funktion; und aus der Täterperspektive erfüllt es eigentlich beides die gleiche Funktion."
Nämlich Vertreibung, Versklavung und Mord zu rechtfertigen. Für Jürgen Zimmerer ist die Suche nach den Ursachen für Antisemitismus und Rassismus heute sogar besonders wichtig:
"Wenn man die Gesellschaft hat, in der im Grunde extrem rechte Positionen wieder im Bundestag sitzen, in der die NSU mordete, in der Hanau und Halle passierte, in der im Grunde die rassistischen Übergriffe eigentlich zunehmen, in der die antisemitischen Übergriffe zunehmen, kann man ja diese Vergangenheitsbewältigung nicht einfach abfeiern."