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Der neue, unbekannte starke Mann Chinas

Am Donnerstag beginnt der Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas. Dann wird Xi Jinping als Parteichef inthronisiert. Aber keiner weiß so recht, wofür dieser steht. Das offenbart ein strukturelles Problem chinesischer Politik: die fehlende Transparenz.

Von Ruth Kirchner | 06.11.2012
    Wenn Chinas Führungsspitze in der Öffentlichkeit auftritt, dann meist nur im Rahmen sorgfältig inszenierter Veranstaltungen. Wie am Nationalfeiertag Anfang Oktober. Unnahbar, aber geeint schritt der neunköpfige Ständige Ausschuss des Politbüros über den streng abgeriegelten Platz des Himmlischen Friedens.

    Bei der Zeremonie am Ehrenmal ging KP-Chef Hu Jintao vornweg, dahinter folgten - in der Reihenfolge ihres Platzes in der Hierarchie - die acht anderen. Vizepräsident Xi Jinping ging relativ weit hinten. Nichts deutete darauf hin, dass der 59-Jährige in wenigen Wochen an die Spitze der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen dürfte. Doch in China steht ein politischer Führungswechsel bevor, der für das Riesenreich und die Welt weitreichende Konsequenzen haben könnte. Beim 18. Parteitag, der am Donnerstag beginnt, wird Parteichef Hu Jintao nach zehn Jahren an der Macht abgelöst. Wenige Monate später wird er auch sein Amt als Staatspräsident seinem Nachfolger Xi Jinping übergeben. Nur wer der Neue ist und wofür er steht, darüber ist wenig bekannt. Wer sich auf den Straßen Pekings umhört, erntet ein Achselzucken.

    "- "Ich habe kein wirkliches Bild von ihm. Er agiert mehr hinter den Kulissen und steht selten vorne auf der Bühne."
    - "Er wirkt stabil. Er plustert sich nicht auf, wenn er Reden hält. Er hält den Ball flach.""

    China mag eine der dynamischsten Volkswirtschaften der Welt sein. Das Land hat sich in kürzester Zeit von einem rückständigen Bauernstaat in die Moderne katapultiert. Doch im Zuge der wirtschaftlichen Öffnung ist das leninistische Einparteiensystem so gut wie unverändert geblieben und gewährt kaum Einblicke in die Machtstrukturen an der Spitze. Der Politologe Wu Qiang von der Tsinghua-Universität spricht von einer "Politik der Blackbox":

    "Wir sehen völlige politische Intransparenz, eine Politik der "Blackbox" - auch wenn es um Unstimmigkeiten innerhalb der Partei geht oder um Richtungsstreitigkeiten. Die Verfahren und Abläufe sind unklar und widersprüchlich. Alles wird hinter verschlossenen Türen abgewickelt. Es gibt keine Offenheit."

    Das heißt, auch für einen Führungswechsel gibt es keine institutionalisierten Verfahren. Einzige Regel: Es gibt kein Amt mehr auf Lebenszeit. Nach zehn Jahren an der Spitze ist Schluss. Wer dann das Ruder übernimmt, wird hinter den Kulissen ausgekungelt. Dass Xi Jinping an die Spitze des Einparteienstaates aufsteigen könnte, wurde erstmals vor fünf Jahren deutlich, als Parteichef Hu Jintao nach dem 17. Parteitag den neuen Ständigen Ausschuss vorstellte.

    Unter Applaus betraten die mächtigsten Männer Chinas die Bühne. Keiner war vom Volk oder von einem demokratischen Parlament gewählt. Doch zwei von ihnen waren jung genug, dass sie auch fünf Jahre später noch im Amt bleiben konnten. Hu Jintao stellte die Neuen vor. Das war alles. Fragen der wartenden Weltpresse waren nicht zugelassen. Der einzige Hinweis, dass Xi und nicht Li als der künftige Anwärter auf die höchsten Ämter galt, war die Reihenfolge ihres Auftretens. Xi betrat vor Li die Bühne. Daher stand er in der Gunst der Parteispitze offenbar höher. Erst als er ein Jahr später zum Vizepräsidenten ernannt wurde, war Xi Jinping auch offiziell als Kronprinz gekürt. Für die regierungskritische Autorin Dai Qing ist er offensichtlich ein Kompromisskandidat.

    "Er wurde ausgewählt, weil er keiner Fraktion angehört. Außerdem ist er kein Opportunist. Er ist stetig aufgestiegen – und bereit, mit allen möglichen Leuten zusammenzuarbeiten."

    Früher war es einfacher: Bei der Auswahl von Hu Jintao und dessen Vorgänger Jiang Zemin war noch klar, wer das Sagen hatte. Der große Reformer Deng Xiaoping hatte nicht nur seinen eigenen Nachfolger ausgewählt, sondern auch die Weichen gestellt für den Führungswechsel zehn Jahre später. Heute ist das anders. Xi Jinping gilt zwar als Protegé von Altpräsident Jiang Zemin, doch politische Beobachter gehen davon aus, dass bei der Auswahl von Xi eine ganze Reihe von Fraktionen und Gruppierungen zustimmen musste. Der Historiker Zhang Lifang spricht von zwei Interessengruppen.

    "Wie sehen zunächst die sogenannte zweite rote Generation – also die Söhne von hochrangigen Politikern und Revolutionsführern. Wenn man sich die Partei als Unternehmen vorstellt, sind sie die Hauptaktionäre die Erben der Gründerväter. Daneben gibt es die Leute, die aus der Kommunistischen Jugendliga kommen – sie sind wie professionelle Manager. Sie kommen aus relativ normalen Familien und haben sich hochgearbeitet. Das sind die beiden wichtigsten politischen Klassen."

    Doch was das Ganze so schwierig macht: Keine Fraktion verfolgt klar definierte politische Ziele. Auch haben die beiden Gruppen nicht unbedingt widerstreitende Interessen, aber sie haben unterschiedliche personelle Netzwerke. So kommt Hu Jintao aus der Jugendliga. Xi Jinping, der designierte Nachfolger, ist ein "roter Prinzensohn", der in privilegierten Verhältnissen aufwuchs. Sein Vater fiel zwar zeitweise unter Mao in Ungnade, der Sohn wurde während der Kulturrevolution wie Millionen andere zur Feldarbeit aufs Land geschickt und hat sich später in der Partei hochgedient. Dennoch kommt die Familie Xi aus dem Zentrum des politischen Establishments und ist entsprechend vernetzt. Dass Xi Jinping an die Spitze aufsteigen konnte, liege vor allem daran, dass er für Kontinuität stehe, sagt der liberale Ökonom Mao Yushi.

    "Natürlich wissen wir nicht, wer warum ausgewählt wird. Aber ich vermute, in den Diskussionen um die nächste Führungsgeneration geht es auch immer darum, unter wem sich die Alten sicher fühlen, wenn sie ihre Ämter aufgegeben haben. Für Jiang Zemin war die Meditationsbewegung Falun Gong eine Riesenbedrohung. Gegen sie ging er extrem hart vor. Und er wird sich gefragt haben, ob sein Nachfolger ihm deshalb Schwierigkeiten bereiten wird. Also musste er jemanden aussuchen, der seine Interessen und ihn selbst schützt."

    In so einem System haben nicht diejenigen mit dem größten Charisma oder den besten Ideen Erfolg, sondern diejenigen, die niemandem gefährlich werden können und am besten vernetzt sind. Manche Beobachter sprechen von einem System, dass Konformität und Mittelmäßigkeit fördert. Zumal im Ständigen Ausschuss mit seinen derzeit neun Mitgliedern das Konsensprinzip herrscht. Es geht also nicht nur um den Mann an der Spitze, sondern auch um die Machtbalance im Kollektiv. Und um die wird diesmal offenbar bis zur letzten Minute gerungen. Wer neben Xi Jinping und Li Keqiang jetzt in den neuen Ständigen Ausschuss einziehen wird, ist selbst wenige Tage vor Beginn des Parteitags noch unklar. Zugleich geht es in dem Machtgerangel auch um etwas Grundsätzliches, nämlich den Machterhalt der Partei selbst. Der Hongkonger Politikprofessor Joseph Cheng sagt, die Spitzenkader wissen, dass sie letztlich zusammenhalten müssen.

    "Offener Konflikt würde das Ende der Partei und das Ende ihrer Karrieren bedeuten. Die Toleranz für abweichende Meinungen ist deshalb sehr gering. Die Partei wird letztlich von den gemeinsamen Interessen der politischen Elite zusammengehalten."

    Mit sozialistischer Ideologie hat all das nichts mehr zu tun. Die KP versteht sich heute als Garant von Wachstum und Stabilität. Unablässig verbreitet die Propaganda diese Botschaft: Ohne die weise Führung der Partei, hätte es China nie so weit gebracht. Doch das Image der Partei hat in den letzten Monaten tiefe Risse bekommen. Zu viele Skandale kamen ans Licht, zu viel Vetternwirtschaft. Vor allem der Konflikt um den gestürzten Spitzenpolitiker Bo Xilai hat die Glaubwürdigkeit der KP schwer beschädigt. Der charismatische Bo, einst ein Darling der Medien, hatte bis Anfang des Jahres gute Chancen in den Ständigen Ausschuss, also den innersten Machtzirkel der Partei aufzusteigen.

    Als Parteichef der Megametropole Chongqing hatte er das Volk mit dem Absingen maoistischer Revolutionslieder und populistischer Politik auf seine Seite gezogen, sich aber auch mit seinem selbstherrlichen Führungsstil viele Feinde gemacht.

    Dann stürzte er über den Skandal um seine Frau und den Mord an einem britischen Geschäftspartner. Es war ein Politkrimi erster Güte, eine Geschichte voller Intrigen, die sich kein Drehbuchschreiber besser hätte ausdenken können. Und mittendrin Bo Xilai, der aus der Höhe der Macht in tiefste Ungnade fiel. Bo flog zunächst aus dem Politbüro, dann aus der Partei.

    Doch den angerichteten Image-Schaden konnte all das nicht wiedergutmachen. Denn der Skandal um die Familie Bo gewährte einen seltenen Einblick in das Leben der Mächtigen. Es war, als hätte jemand für einen Moment den Vorhang beiseite gezogen, der sonst die politische Klasse Chinas vor neugierigen Blicken schützt. Zu sehen gab es Abgründe von Korruption und Machtmissbrauch: darunter einen Playboy-Sohn, der an den Eliteschulen Englands und der USA studierte und eine Vorliebe für teure Parties und noch viel teurere Autos hat. Und ein Geflecht von undurchsichtigen Geschäften, die jetzt für Bo Xilai zu einer Anklage wegen schwerer Korruption und Bestechlichkeit führen dürften. Während die Partei derzeit versucht, Bo als Einzelfall zu isolieren, sehen viele Menschen den Skandal als Beleg dafür, dass die KP zu einem Selbstbedienungsladen mächtiger Familien und Interessengruppen verkommen ist. Ökonom Mao Yushi:

    "Der Machtmissbrauch ist heute eine der größten Herausforderungen für China. Niemand kontrolliert die Regierung. Sie können machen was sie wollen, Chongqing ist dafür der beste Beweis."

    Denn Bo Xilai ist beileibe nicht der Einzige. Geschichten über korrupte Kader sorgen immer wieder für hitzige Debatten – vor allem im Internet. Mal sind es die teuren Uhren eines kleinen Beamten, die den Volkszorn zum Kochen bringen. Ein anderes Mal die Selbstherrlichkeit von Kadern und ihren luxus-verwöhnten Kindern, die glauben sie stünden über dem Gesetz. Oft sind es nicht die Spitzenpolitiker selbst, sondern ihre Familien, die sich aufgrund ihrer Beziehungen bereichert haben. Die Familie Xi Jinpings soll nach einer Untersuchung der Nachrichtenagentur Bloomberg ein Vermögen von mehreren Hundert Millionen Dollar besitzen. Die Familie von Ministerpräsident Wen Jiabao nach Recherchen der New York Times sagenhafte 2,7 Milliarden Dollar. Da solche Berichte das Bild der Spitzenkader als selbstlose Diener des Volkes gefährden, dürfen sie in China nicht verbreitet werden. Sowohl die Webseiten von Bloomberg als auch neuerdings die der New York Times sind in der Volksrepublik blockiert. Und Außenamtssprecher Hong Lei verdammte die Enthüllungen als Versuch, das Image Chinas zu beschmutzen.

    "Einige ausländische Mächte haben sich immer noch nicht damit abgefunden, dass China stärker wird. Sie versuchen mit allen Mitteln, China und die chinesische Führung anzuschwärzen, um Instabilität zu schaffen. Ihre Verschwörungen werden aber niemals Erfolg haben."

    Dabei ist es weniger das Ausland, sondern es sind mehr die innenpolitischen Probleme, die die Stabilität Chinas gefährden. Und diese Probleme haben sich in den zehn Jahren der Herrschaft von Hu Jintao und Wen Jiabao zu einem riesigen Berg aufgetürmt. Neben Korruption und Vetternwirtschaft ist es die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die zu massiven sozialen Spannungen führt. Zwangsenteignungen haben viele Bauern um ihr Land gebracht. 300 Millionen Wanderarbeiter werden in den Großstädten wie Bürger zweiter Klasse behandelt. Die Politik des Wachstums um jeden Preis hat zwar vielen Menschen einen bescheidenen Wohlstand gebracht, aber auch vielerorts die Umwelt verseucht, die Gewässer verschmutzt. Gerade Chinas neue Mittelklasse geht immer häufiger auf die Barrikaden. Wie zuletzt Ende Oktober im ostchinesischen Ningbo, wo Tausende gegen die Erweiterung einer Chemiefabrik protestierten. "Rettet Ningbo", riefen die Demonstranten. Unter ihnen auch der junge Peng Shaoming.

    "Dieses Projekt der Chemieindustrie ist nicht gut für die Umwelt. Ich denke, sie sollten unsere Natur nicht für die Industrieentwicklung hergeben."

    Umweltproteste wie in Ningbo lassen die Behörden eher zu als politische Proteste gegen die Partei. Die werden im Namen der Stabilität sofort unterdrückt. Wie überhaupt in den zehn Jahren der Herrschaft von Hu Jintao und Wen Jiabao der Sicherheitsapparat massiv ausgebaut wurde und heute mehr Geld verschlingt als der Verteidigungshaushalt. Eine politische Öffnung hat es in dieser Dekade nicht gegeben. Im Gegenteil, sagt der Politologe Wu Qiang:

    " Einige meiner Kollegen sagen, die politischen Reformen hinken den wirtschaftlichen hinterher. Aber ich würde einen Schritt weitergehen. Es hat Rückschritte gegeben in den letzten zehn Jahren was die politische Öffnung angeht. Wenn wir die Lage in China mit der vor 20 Jahren vergleichen oder mit der politischen Offenheit in der ehemaligen Sowjetunion in den 80er-Jahren, dann haben wir hier einen Rückschritt in der Geschichte."

    Trotzdem hat sich die chinesische Gesellschaft völlig verändert, nicht wegen, sondern trotz der Partei. Das Internet hat Millionen von Chinesen erstmals in ihrer Geschichte die Möglichkeit gegeben, sich – in begrenzter Form – an öffentlichen Debatten zu beteiligen. Gerade die in China extrem populären Mikroblogs haben dazu geführt, dass es heute mehr Diskussion gibt als jemals zuvor. Und das trotz der strengen Zensur. Diese Freiheit kann die Partei den Menschen nicht mehr nehmen, sagt Dai Qing.

    "In Sachen politische Reformen und Menschenrechte hat es in den letzten zehn Jahren keine Fortschritte gegeben. Denn die Partei folgt immer noch Maos Postulat, dass die politische Macht aus den Gewehrläufen kommt. Das ist in den letzten zehn Jahren schlimmer geworden. Die positive Entwicklung ist das Internet. Damit sind viele Menschen erstmals ein bisschen zu Bürgern einer modernen Gesellschaft geworden. Die Menschen wissen jetzt, was ihre Rechte sind. Das ist eine gute Sache."

    Und diese Entwicklung weiter voranzutreiben, sei notwendig, sagen viele kritische Intellektuelle. Denn ohne eine vorsichtige politische Öffnung, ohne mehr Meinungsfreiheit und mehr Pluralismus können die Widersprüche in der modernen chinesischen Gesellschaft kaum gelöst werden. Ohne mehr Transparenz kann es keine effektive Kontrolle der Macht geben. Ohne eine unabhängige Justiz keine glaubwürdige Rechtsprechung. Ob allerdings Xi Jinping der richtige Mann ist, um das Land in eine neue Richtung zu führen, weiß derzeit niemand. Seine öffentlichen Äußerungen deuten bislang keine Richtungsänderungen oder neue politischen Ideen an. Etwa seine Rede bei einem Asean-Forum im September:

    "Wir wollen in einer friedlichen Welt unsere Entwicklung vorantreiben. Und mit dieser Entwicklung tragen wir zur Bewahrung des Weltfriedens bei."

    Solche Sätze gehören zum Standardrepertoire eines jeden KP-Funktionärs. Wie überhaupt Xi vor seiner Inthronisierung keine wegweisenden oder programmatischen Reden halten kann, die ihm ein schärferes Profil geben könnten. Denn Profilierung sieht das politische System Chinas ja gar nicht vor. Und außerdem sei Xi selbst Teil des Systems, sagt Historiker Zhang Lifang.

    "Wir werden abwarten müssen, ob Xi Jinping den Mut und die Fähigkeit hat, mit politischen Reformen zu beginnen und welche Risiken das für ihn selbst birgt. Denn er ist ja Teil der Interessengruppen und seine Kollegen und Verwandten haben ihre eigenen Beziehungen zu diesen Interessengruppen. Wir werden sehen, ob er andere davon überzeugen kann, im langfristigen Interesse kurzfristige Vorteile aufzugeben. Auf jeden Fall dürfte es sehr schwierig werden."

    Zunächst dürfte Xi Jinping nach seiner Ernennung zum neuen Parteichef, damit beschäftigt sein, seine Macht zu festigen und auszubauen. Wohin und wie der Nachfolger von Hu Jintao das Riesenreich dann führen wird, sind zwar Fragen, die nicht nur für China von brennender Dringlichkeit sind. Nur: Aus Zhongnanhai, dem hermetisch abgeriegelten Regierungsviertel im Herzen Pekings, dürften die Antworten auch nach dem 18. Parteitag noch eine Weile auf sich warten lassen.