Freitag, 29. März 2024

Archiv


Der Regenbogenschein der russischen Literatur

Seit dem Dörlemann Verlag mit Iwan Bunins kurzer Brief-Erzählung "Ein unbekannter Freund" ein glanzvolles Debüt gelang, gehört der russische Schriftsteller zu den Hausgöttern und Glücksbringern des kleinen Zürcher Literaturverlags. Inzwischen wartet Dörlemann mit einer viel beachteten Werkausgabe auf.

Von Brigitte van Kann | 06.09.2013
    Zwei Konstanten bestimmten Leben und Werk des russischen Autors Iwan Bunin: tiefe Verbundenheit mit Russland und unstillbares Fernweh. Die Liebe zu seiner mittelrussischen Heimat – er wuchs als Kind einer verarmten Adelsfamilie auf dem Land auf – steigerte sich zum Heimweh, als der Schriftsteller nach der Oktoberrevolution ins Exil nach Frankreich ging, wo er bis zu seinem Tod 1953 lebte.

    Seine unbändige Reiselust führte Iwan Bunin gemeinsam mit seiner Frau Vera Muromzewa in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu exotischen Zielen wie Ägypten, Ceylon und Indien. Als er 1933 als erster russischer Schriftsteller – und überdies als erster Schriftsteller im Exil – den Literaturnobelpreis erhielt, beklagte er in seiner Stockholmer Rede den Verlust der Reisefreiheit, der sich aus seinem Emigrantenstatus ergab.

    Unter dem Titel "Der Sonnentempel" versammelte der Herausgeber der Dörlemann-Werkausgabe Bunins Reisebilder mit ihren grandiosen Naturschilderungen und der Verneigung vor der Schönheit der Welt. Zwei weitere Bände schöpften aus dem Fundus von Bunins Erzählungen über das russische Dorf: "Am Ursprung der Tage" präsentierte seine frühen Prosatexte und der Band "Das Dorf. Suchodol" die beiden Erzählungen, mit denen der vierzigjährige Bunin sich 1910 der literarischen Öffentlichkeit Russlands als Prosa-Autor empfahl. Bis dahin hatte man ihn als Dichter wahrgenommen: Für sein poetisches Werk wurde er als Ehrenmitglied in die Akademie aufgenommen und erhielt gleich dreimal den Puschkinpreis. Anders als seine Prosa harrt Bunins lyrisches Werk noch der Entdeckung in deutscher Übersetzung. Kenner wie sein Landsmann und Schicksalsgenosse im Exil Vladimir Nabokov gaben übrigens Bunins Lyrik den Vorzug vor der Prosa.

    Der jetzt erschienene Band mit dem Titel "Gespräch in der Nacht" umfasst Erzählungen, die im Jahr 1911 erschienen sind und fast alle vom russischen Dorf und seinen Bewohnern handeln. In diesem Jahr verbrachte der Schriftsteller einen für sein sonst rastloses Leben ausgedehnten Sommeraufenthalt auf dem Gut seiner Cousine. Beobachtungen und Begegnungen aus dieser Zeit gingen in die Prosaproduktion jenes Jahres ein – einige Personen wie den hochbetagten Taganok verewigte der Autor sogar namentlich.

    Sechs Jahre nach der in blutiger Gewalt erstickten ersten russischen Revolution von 1905 wirft Bunin einen illusionslosen Blick auf das Landleben. Er ist weit davon entfernt, die Bauern zu idealisieren, wie er es als glühender Anhänger der Lehren Lew Tolstojs in jungen Jahren tat. Trotz der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 war und blieb die Kluft zwischen den Bauern und den Herren unüberbrückbar.

    Da ist der junge Lehrer, der den Traum von Tschechows "Drei Schwestern" wahr macht und nach Moskau zieht. Vor der Abreise will er sich von der Berühmtheit des Dorfes, dem 108-jährigen Taganok verabschieden. Der Alte ist schmutzig, halb nackt, seine Schwiegertochter schlägt ihn, er bekommt kaum etwas zu essen. Die Fragen des wissbegierigen jungen Lehrers wie der Alte das durchmessene Jahrhundert erlebt hat, erreichen ihn nicht – sein Lebenshorizont ist ein ganz anderer als der des jungen Intellektuellen, der sich gerade in die große Stadt aufmacht: Taganok hat nichts gesehen im Leben außer seinen Feldern. Dafür weiß er trotz seines biblischen Alters immer noch genau, welche Arbeiten auf dem Hof anstehen, was gekauft oder verkauft werden muss.

    Iwan Bunin tastet die Würde seiner Protagonisten nicht an, allen zollt er den schuldigen Respekt. Auch dem Verwerflichsten begegnet er, ohne zu urteilen oder gar zu verurteilen. Darin folgt er seinem Mentor und väterlichen Freund Anton Tschechow, der seine Helden mit großer Gerechtigkeit zeichnete und das Urteilen dem Leser überließ.

    Wie tief die Kluft zwischen der Landbevölkerung und den "Herren" sein konnte, zeigt die titelgebende Erzählung "Gespräch in der Nacht": Ein Gymnasiast, Sohn des Gutsbesitzers, verbringt den Sommer zu Hause und schließt sich den Bauern an, die für seinen Vater arbeiten. Den Kinderspielen mit der kleinen Schwester fühlt er sich entwachsen, seit er bei einer Witwe seine Unschuld verloren hat. Der Herrensohn steht früh auf, arbeitet mit den Leuten, wie sie wechselt er weder die Kleidung noch wäscht er sich. Ständig überfordert und übermüdet, erträgt er den gutmütigen Spott der Bauern. Als zwei der Männer eines Nachts im Getreideschober mal belustigt und prahlend, mal mit "mongolischer Gelassenheit" von Mordtaten, die sie begangen haben, erzählen, von der Obduktion eines Opfers in allen schaurigen Einzelheiten, von grausamen Tierquälereien, verlässt der Junge die Gefährten seines ersten mannhaften Sommers. Bunin schreibt: "Der Gymnasiast sprang hinunter auf die feste, glatte herbstliche Erde und ging mit gebeugtem Rücken rasch auf den dunklen, rauschenden Garten zu, nach Hause."

    Aus dem "ländlichen" Rahmen fallen zwei Erzählungen dieses Bands: zum einen die offenbar durch die Ägyptenreise 1910/1911 angeregte "Nach"-Erzählung der Geschichte des Propheten Moses. Sie ist ein Beispiel für Bunins lebenslange Beschäftigung mit dem Urgrund der Religionen – und seine Freude am Exotischen: Man spürt geradezu, welches Vergnügen es dem Autor bereitet haben muss, Sätze wie diesen über die Rettung des Knaben Mose aus seinem Schilfkörbchen zu schreiben: "Die Tochter des Königs", heißt es da, "wiegte ihn in ihren dunklen runden Armen, die glatt waren wie eine Schlange, aber warm wie eine Frucht in der Sonne." Den in der "bäuerlichen" Umgebung der anderen Texte extravaganten, bisweilen hohen Bibel-Ton der Moses-Erzählung hat die bewährte Bunin-Übersetzerin Dorothea Trottenberg mit sicherem Gespür getroffen.

    Der andere Fremdkörper dieser literarischen Bunin-Auslese des Jahres 1911 ist die Erzählung "Ein gutes Leben", denn als monologischer Lebensbericht einer Frau verlässt sie die ansonsten männliche Perspektive: Die Tochter eines nach dem Ende der Leibeigenschaft befreiten Bauern vollzieht mit Zähigkeit, Härte und Schläue den gesellschaftlichen Aufstieg in die Klasse der Kleinbürger. Für die Befreiung aus Armut und Elend ist ein hoher Preis zu zahlen, bei dem man nicht nach Moral fragen und nie zur Ruhe kommen darf. Ein Psychogramm, eine soziologische Studie, so gekonnt erzählt, dass der Leser zwischen Abscheu und Empathie hin und hergeworfen wird.

    Nur in einer Erzählung kommt es – für die Dauer einer nächtlichen Geschichte – zu einem menschlichen Kontakt zwischen Herr und Knecht. Während draußen ein Schneesturm tobt, erzählt ein alter Sattler von der entsetzlichen Frostnacht, in der er sich mit seinem erwachsenen Sohn im Nebel verirrte und ihn nicht vor dem Tod durch Erfrieren retten konnte. Die Trauer des Alten um seinen Sohn, seine Weisheit und Schicksalsergebenheit ergreifen die Zuhörer, vor allem die junge Gutsherrin, die ihr erstes Kind erwartet.

    Der Schneesturm als Generator und Gegenstand von Geschichten – seit Alexander Puschkin ist er eine Ingredienz der russischen Literatur, die offenbar Iwan Bunin zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht minder reizte als seinen Kollegen Vladimir Sorokin im 21. Überhaupt macht die Bunin-Werkausgabe immer wieder deutlich, wie reich das Beziehungsgeflecht der russischen Literatur ist: An Turgenjew ist Bunins Fähigkeit zur plastischen Schilderung der Natur geschult, auf Tschechow verweisen – neben dem Streben nach Gerechtigkeit – der lakonische Dialog und der beiläufige Ausklang der Geschichten. Mit Tolstoj verschrieb sich Bunin der Ergründung letzter Fragen. Bunin selbst, ein Solitär in der russischen Prosa, der zu keiner Gruppierung gehörte, wurde Vorbild für jüngere Autoren wie Valentin Katajew.

    Maxim Gorki schrieb über ihn: "Nehmen Sie Bunin aus der russischen Literatur heraus und sie wird glanzlos, verliert ihren Regenbogenschein und das Sternenlicht seiner einsamen Wandererseele." Das schöne Zitat steht auf der Rückseite dieses neuen Bands der Bunin-Werkausgabe. Auf der Vorderseite stimmen Heuschober in der Dämmerung, gemalt von Tschechows Freund Isaak Levitan, den Leser auf einen Ausflug in die russische Vergangenheit ein.

    Iwan Bunin: Gespräch in der Nacht
    Deutsch von Dorothea Trottenberg. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Thomas Grob. Dörlemann Verlag, Zürich 2013
    260 Seiten, 23,90 Euro, ISBN: 978-3908777892