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Der Roman als Kammerspiel

Der 1953 geborene schweizerische Schriftsteller Alain Claude Sulzer darf in der deutschsprachigen Gegenwartliteratur als Spezialist für Melodramen gelten. Er erzählt elegische Geschichten von gebrochenen Herzen und enttäuschten Passionen. Geschichten, die vom Liebesverrat handeln.

05.11.2007
    Sein bekanntester Roman, "Ein perfekter Kellner" handelt von einem männlichen Liebespaar, zwei Kellnern eines alten Grand-Hotels, die ein Jahr lang das Leben in einem Dienstbotenzimmer teilen, aber nicht die gleiche Intention. Während die Liaison für den einen absolute Bedeutung besitzt, ist sie für den anderen nur eine Etappe, eine Zwischenstation auf dem Weg nach oben und nach Amerika.

    Eine ganz ähnliche Dramaturgie der Liebe formt auch Sulzers neuen Roman , "Privatstunden". Wieder geht es um ein Paar, das seine Leidenschaft vor den Blicken der Gesellschaft schützen und auf ein kurze Frist beschränken muss. Allerdings geht es in "Privatstunden" nicht um zwei Männer, sondern um eine Frau Mitte dreißig und einen zehn Jahre jüngeren Mann. Wieder fällt einer der Liebenden am Ende eine rationale, gleichsam herzlose Entscheidung. Und wie im "Perfekten Kellner" spielen Auswanderungs- und Exilgeschichten eine wesentliche Rolle. Die Handlung der "Privatstunden" vollzieht sich vor der historischen Kulisse des Kalten Krieges. Ein junger Osteuropäer flüchtet Ende der 60er Jahre - vermutlich nach dem Prager Frühling, seine genaue Herkunft wird vom Roman nicht identifiziert - in die Schweiz, wo er Asyl erhält. Er befindet sich in einer Situation radikalen Alleinseins. In seinem Heimatland hat er sich von niemanden verabschiedet, nicht einmal von seiner Freundin. Er hat alle Brücken hinter sich abgebrochen. In seiner neuen, schweizerische Heimat kennt er keine Menschenseele, versteht er nicht mehr als ein paar deutsche Alltagsfloskeln.

    "Leo verließ das Haus um neun und saß wenig später bereits im Bus. Die Fahrkarte zu lösen erwies sich als überraschend unkompliziert, er stieg beim Fahrer ein, der auf Anhieb verstand, wohin er wollte. Indem er undeutlich sprach, hoffte Leo, für einen Einheimischen gehalten zu werden und das gelang ihm offenbar. Er legte einen Franken auf die zerkratzte Kassenablage, und der Busfahrer gab ihm wortlos Kleingeld heraus. Leo war froh, wenn man keine Fragen an ihn richtete."

    Eine Hausfrau, die nach der Geburt ihres ersten Kindes den Lehrerinnenberuf aufgegeben hat, erteilt Leo bei sich zu Hause Sprachunterricht. Als sie bemerkt, dass ihr Mann sie betrügt, fällt sie in einen Zustand innerer Isolation, der dem ihres zehn Jahre jüngeren Schülers nicht unähnlich ist. Langsam bewegen sich die beiden aufeinander zu, verlieben sich und beginnen ein heimliches, unstatthaftes Verhältnis, von dem nur der pubertierende Sohn der Deutschlehrerin durch Zufall weiß. Das Wissen behält er aber für sich. Nach einem halben Jahr verschwindet der junge Liebhaber nach Amerika, ohne je zu erfahren, dass seine Geliebte von ihm ein Kind bekommt. Wie im "Perfekten Kellner" bettet Sulzer die Messaliance der "Privatstunden" in eine Rahmenhandlung. Nach Jahrzehnten treibt der Sohn der Lehrerin den exilierten Osteuropäer in Amerika auf. Er trifft auf einen erfolgreichen Mann, der sich an die Vergangenheit, an seine schweizerische Lebensetappe kaum mehr erinnern kann und will. Die Umstände seines Lebens und die Zeitgeschichte ließen ihm keine andere Wahl als die Abkühlung seines Gefühlshaushaltes auf die Temperatur kühlen Pragmatismus.

    "Sein Deutsch hatte weder angelsächsische noch slawische Anklänge. Wenn es, von fern, überhaupt an etwas erinnerte, dann an einen Dialekt, den ich erst nach einer Weile identifizierte. Einzelne Wörter blieben mir unverständlich, bis ich bemerkte, dass es sich um Begriffe oder Wendungen handelte, die ihren Ursprung im Schweizerdeutschen hatten, von dem er gewisse Worte übernommen und in jene Hochsprache transponiert hatte, die er noch immer erstaunlich gut beherrschte."

    Mit solchen präzisen, aber zurückhaltenden Beobachtungen charakterisiert Alain Claude Sulzer seine Figuren . Er entwirft den Roman als Kammerspiel mit begrenztem Personal, wenigen Schauplätzen, nur angedeuteten Hintergründen. Mit wenigen Strichen skizziert er ein Thema des 20. Jahrhunderts: Das Eindringen politischer und zeitgeschichtlicher Prozesse in die intimsten Bereiche des Individuums. Sulzers Erzählstil ist elegisch, seine Geschichten besitzen die Gnadenlosigkeit der Elegie und die Logik des Unglücks. Seine Leidenschaften sind von Anfang an aufs Ende hin entworfen. Sulzer erzählt von emotionaler Gefangenschaft und biografischer Unfreiheit. Die Liebesverräter sind in seinen Roman ein Opfer dieser Unfreiheit wie die Verratenen.

    Alain Claude Sulzer: "Privatstunden". Roman. Edition Epoca. Zürich, 2007. 237 Seiten. 19.80