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Der Ruhestand als Tragikomödie

Das Leben des pflichtbewussten Büromenschen Monsieur Bougran ändert sich abrupt: Er wird in den Ruhestand versetzt. Diese Erzählung Karl Huysmans aus dem Jahr 1888 gilt heute als seine beste.

Von Ina Hartwig | 21.12.2012
    Wenn der Büroalltag plötzlich fehlt.
    Wenn der Büroalltag plötzlich fehlt. (IMAGO / Bernd Leitner)
    "Monsieur Bougran betrachtete niedergeschlagen die ungenauen Teppichblumen." So lautet der schöne erste Satz einer Erzählung aus dem Jahr 1888. Es geht um nicht mehr und auch nicht weniger als um eine frühzeitige Entlassung aus dem Dienst, um die Pensionierung eines kleinen, eifrigen Pariser Beamten, der daraufhin in Trübsinn verfällt. Wie ein betäubtes Tier steht er im Arbeitszimmer des Büroleiters, als ihn die Nachricht als ein Schlag trifft.

    Erzwungenen Vorruhestand würde man das in der aktuellen Amtssprache nennen. Und was der arme Monsieur Bougran, dieser pflichtbewusste Büromensch des 19. Jahrhunderts, daraufhin durchmacht, hieße heute schlichtweg Depression. Der Kern des Problems, das plötzliche Gefühl der Nutzlosigkeit, das jegliche Lebensfreude zerstört, hat sich kaum verändert. Und auch der Grund der Suspendierung kommt uns bekannt vor: Es soll gespart werden. Eigens ist dafür ein Gesetz geschaffen worden; besagend, und das klingt nun wirklich nicht sehr schmeichelhaft, dass "Staatsbedienstete wegen moralischer Invalidität vorzeitig in den Ruhestand versetzt werden können". "Artikel 30", seufzt Monsieur Bougran, der die Verordnung kennt, auch wenn er sich, vergeblich, zu wehren versucht: "Aber ich habe keine Gebrechen, ich bin gesund!"

    Der Autor, Joris-Karl Huysmans, ist hierzulande nicht gerade in aller Munde; einige mögen sich vielleicht an seinen Roman "Gegen den Strich" erinnern. Dennoch: Die kleine, feine Erzählung, die jetzt erstmals auf Deutsch unter dem Titel "Monsieur Bougran in Pension" in der entdeckerfreudigen Friedenauer Presse erscheint, ist ein echter Fund. Er fügt sich nicht nur in die gegenwärtigen Sorgen, sondern bringt zudem ein ganzes literarisches Feld zum Klingen.

    1848 in Paris geboren und 1907 dort gestorben, gilt Joris-Karl Huysmans als Naturalist, er verkehrte mit Emile Zola und war von den Goncourt-Brüdern beeinflusst. Daneben war er ein gut verdienender höherer Beamter, arbeitete im Innenministerium, kannte die Pariser Staatsbürokratie somit aus dem Effeff. Über die geistlose Büroroutine hat er sich selbstironisch, bisweilen ätzend, geäußert. Daher ist der bescheidene Beamte Bougran seiner Erzählung, den die Entlassung in eine unlösbare Krise stürzt, alles andere als ein Selbstporträt. Es geht um mehr als einen Einzelfall, es geht um die Eroberung der damals noch relativ neuen Verwaltungssprache für die Literatur, die dann in Kafkas Werk ihren Höhepunkt finden wird.

    Auch, wenn im Nachwort die Nähe Huysmans zu Gustave Flaubert herausgestrichen wird, dessen lächerliche Angestelltenhelden Bouvard und Pécuchet als Kopisten enden, so drängt sich doch vor allem der Vergleich mit Herman Melvilles "Bartleby" auf, also mit jener genialen Parabel auf einen Schreiber, der sich den Anforderungen des Kanzleilebens mit dem Satz "Ich möchte lieber nicht" sanft entzieht. Es kann kein Zufall sein, dass Huysmans seine Erzählung über Monsieur Bougran just in dem Jahr ansiedelt, 1853 nämlich, in dem Melville seine Erzählung "Bartleby" schrieb.

    Monsieur Bougran wirkt tatsächlich wie ein Gegenentwurf: Denn anders, als der New Yorker Kanzleischreiber Bartleby, der eines Tages nicht mehr will, will ja der Pariser Büromensch Bougran unbedingt weitermachen. Und weil er eben ohne die täglichen Plaudereien mit den Kollegen, ohne die leidenschaftliche Feilerei an den "Varianten der Grußformeln an Briefenden, die den Büropianisten außergewöhnliche Fingerfertigkeit abverlangte", weil er ohne all diese Rituale des eingefleischten Pflichtmenschen nicht leben kann, nimmt das Geschehen eine fatal-komische Wendung.

    Die Pension reicht so grad für den Junggesellen und seine Haushälterin Eulalie, doch froh kann die neue, unfreiwillige Freiheit Monsieur Bougran nicht machen. Als er zufällig im Park seinen alten Laufburschen trifft, den versoffenen Huriot, stellt er ihn auf der Stelle ein, um im Privaten die Büroarbeit als Fake fortzusetzen. Wie Kinder spielen, dass sie Erwachsene seien, spielt Monsieur Bougran, dass er einer wichtigen Arbeit nachgehe. Er schreibt und beantwortet falsche Briefe, die sein falscher Laufbursche bringt und fortträgt. Eulalie macht das alberne Spiel nicht lange mit, sie empört sich, dass ihr Herr Geld zum Fenster hinauswirft für eine Illusion. Auch Huriot grinst bereits über ihn. Und schon befindet sich Monsieur Bougran in einem neuen Drama, dem nur noch die Gnade der Biologie, der Tod, Abhilfe verschaffen kann.

    Der Ruhestand als Tragikomödie: Das ist die Botschaft dieser entzückenden Erzählung von Joris-Karl Huysmans, die erst postum erschien und die heute als seine beste gilt.

    Buchinfos:
    Joris-Karl Huysmans: "Monsieur Bougran in Pension", Aus dem Französischen übersetzt von Gernot Krämer. Mit einem Nachwort von Daniel Grojnowski, Friedenauer Presse, Berlin 2012, 30 Seiten, 9,50 Euro