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Der russische Meister der Renaissance

Puschkin gilt nicht nur als russischer Nationaldichter, weil er nach wie vor gerne gelesen wird. Immer noch greifen junge russische Autoren seine Zitate und Ideen auf. Nun erscheint die vergriffene Urban-Übersetzung seiner Prosa - neu durchgesehen - in zwei Bänden.

Von Brigitte van Kann | 08.07.2013
    So etwas gibt es wohl nur in Russland – eine 18teilige Fernseh-Serie über einen Dichter. Jeweils eine halbe Stunde, ohne aufwendiges Reinactment, ohne Originalschauplätze und dergleichen: Ein alter Professor sitzt sommers im Garten seiner Datscha, raucht Pfeife und spricht über Alexander Puschkin, sein Leben, sein Werk. Im Winter sitzt der Professor drinnen, in der holzgetäfelten Stube seiner Datscha, raucht Pfeife und spricht über Alexander Puschkin. Erfolgreiches, modernes Fernsehen sieht anders aus, sollte man denken – aber die Puschkin-Serie im russischen "Kulturkanal" hatte Kultstatus.

    So sehr die Russen ihren Nationaldichter lieben, so wenig ist Alexander Puschkin deutschen Lesern vertraut. Dass er ein Dichter war und jung im Duell starb – mehr wissen die meisten nicht.

    Dabei schrieb Puschkin nicht nur Gedichte, er war auch der erste bahnbrechende und Maßstäbe setzende russische Prosaschriftsteller. Ohne ihn sind Blüte und Reichtum der russischen Literatur überhaupt undenkbar. Für alles – ob Liebes- oder Gedankenlyrik, Versroman, Historiendrama, Erzählung oder Roman – legte er den Grundstein und führte es zugleich zur Vollendung. Nicht von ungefähr wird Puschkin von seinem Landsleuten in einem Atemzug mit jung gestorbenen Genies wie Mozart oder Raffael genannt. "In Puschkin erlebte Russland all das", so ein russischer Literaturwissenschaftler, "was ihm Byzanz, die Mongolen und die Geographie des Landes vorenthalten hatten. Puschkin war der russische ‚Meister der Renaissance’, allerdings mit einer Verspätung von drei oder vier Jahrhunderten."

    Mit der zweibändigen Ausgabe in der Friedenauer Presse liegt Puschkins gesamte erzählende Prosa nun wieder in deutscher Sprache vor. Peter Urban hat seine Übersetzung von 1999 durchgesehen und ein Nachwort mit den neuesten Früchten seiner Puschkin-Forschungen verfasst. So hat er tatsächlich in dem Schriftsteller und Diplomaten Karl August Varnhagen von Ense den ersten deutschen Puschkin-Enthusiasten entdeckt, der – um die Werke seines russischen Kollegen und Zeitgenossen im Original lesen zu können – sogar die russische Sprache erlernte.

    Peter Urban erspart dem deutschsprachigen Leser derlei Mühen. In seiner Übersetzung ist ein Klassiker der Weltliteratur zu erleben, strahlend in seiner Frische und bei aller Gedankentiefe von anmutiger Leichtigkeit. Wo frühere Übersetzungen altfränkische Umstandskrämerei und Behäbigkeit zelebrierten, beherzigt Urban für seine Übersetzung, was Puschkin selbst als "erste Eigenschaften" der Prosa postulierte: Genauigkeit und Kürze.

    "Wir standen in der Ortschaft N. Das Leben eines Armeeoffiziers ist bekannt. Morgens Exerzieren, Manege; Essen beim Regimentskommandeur oder in der jüdischen Schenke; abends Punsch und Karten. In N. gab es kein einziges offenes Haus, keine einzige Braut; wir besuchten einander gegenseitig, wo wir, außer unseren Uniformen, nichts zu sehen bekamen.

    Nur ein einziger Mensch gehörte zu unserer Gesellschaft, der kein Militär war. Er war etwa fünfunddreißig Jahre alt, und wir hielten ihn deshalb für einen alten Mann. (...) Etwas Geheimnisvolles umgab sein Schicksal; er wirkte russisch, trug jedoch einen ausländischen Namen. Früher hatte er bei den Husaren gedient, und das sogar mit Erfolg; niemand wusste den Grund, der ihn bewogen hatte, seinen Abschied zu nehmen und sich in der armseligen Ortschaft niederzulassen, wo er armselig und verschwenderisch zugleich sein Leben fristete: ewig ging er zu Fuß, im abgetragenen schwarzen Rock, doch unterhielt er einen offenen Tisch für alle Offiziere unseres Regiments. Zwar bestand das Essen bei ihm nur aus zwei oder drei Gängen, zubereitet von einem ausgemusterten Soldaten, doch der Champagner floss in Strömen. (...)

    Seine Hauptbeschäftigung bestand im Pistolenschießen. Die Wände seines Zimmers waren sämtlich von Kugeln durchlöchert, durchsiebt wie eine Bienenwabe. Eine reiche Pistolensammlung war der einzige Luxus der armseligen Lehmhütte, die er bewohnte. Die Kunst, die er erlangt hatte, war unglaublich, und wenn er sich anheischig gemacht hätte, wem auch immer eine Birne von der Mütze herabzuschießen, niemand in unserem Regiment hätte Bedenken getragen, ihm den Kopf hinzuhalten."

    So klar und plastisch beginnt die Erzählung "Der Schuss", die erste der berühmten Erzählungen des verstorbenen Ivan Petrovič Belkin – fünf Geschichten, die als Grundfesten der russischen Erzählkunst gelten. Lev Tolstoj fand, Belkins Erzählungen müsse "jeder Schriftsteller wieder und wieder studieren." Tolstoj rühmte den wunderbar knappen, mitten ins Geschehen hineinführenden Anfang von Puschkins Erzählfragment "Im Landhaus *** trafen die Gäste ein" – und bekannte, der Text habe ihn zu seiner "Anna Karenina" inspiriert.

    Selbst so unterschiedliche Schriftsteller wie Majakovskij und Nabokov betrachteten Puschkin als ihren literarischen Hausgott. Wenn Majakovskij auch in öffentlichen Versammlungen herumkrakeelte, man müsse die Klassiker endlich über Bord werfen, so liebte er doch seinen Puschkin, den er in der berühmten Wolffschen Ausgabe las – aus der russischen Verlegerdynastie Wolff stammt übrigens die Verlegerin Katharina Wagenbach-Wolff, in deren Friedenauer Presse die deutsche Puschkin-Prosa erschienen ist.

    In Nabokovs Roman "Die Gabe" tummeln sich etliche Puschkin-Reminiszenzen, zum Beispiel der berühmte Hasenpelz aus der "Hauptmannstochter". Mehr noch – der Held des Romans, ein junger russischer Schriftsteller, der unverkennbar Nabokovs Züge trägt, entwickelt seinen Geschmack und seine literarischen Kräfte an Puschkins Prosa. "Um die Muskeln seiner Muse zu stärken", lernt er ganze Passagen auswendig und nimmt sie "auf seine Streifzüge mit, wie ein Mann, der eine Eisenstange statt eines Spazierstocks benutzt".

    Auch moderne russische Schriftsteller kommen offenbar um Puschkin nicht herum. Vladimir Sorokins gerade auf deutsch erschienener Roman "Der Schneesturm" zitiert schon im Titel eine der Erzählungen Belkins – bei ihm führt der Weg durch das nächtliche Unwetter allerdings nicht in ein heiteres Happy End, sondern in einen lastenden russischen Albtraum.

    Die beiden deutschen Puschkin-Prosa-Bände enthalten auch die Fragmente, die Anekdoten sowie Varianten, Skizzen und Entwürfe. Auf den ersten Blick ist man geneigt, derlei Akribie in einer nicht-wissenschaftlichen Ausgabe für entbehrlich zu halten. Aber dann entdeckt man unter diesen Bruchstücken und Miniaturen wahre Perlen, die in direkter Linie ins 20. Jahrhundert führen, zu Daniil Charms führen, dem russischen Meister des Absurden.

    Zum Beispiel die Anekdote vom Fürsten Potjomkin, der depressiv in seinem Arbeitszimmer hockt und niemanden empfängt – während sich bei seinen Mitarbeitern die Schriftstücke stapeln, die der Fürst dringend unterschreiben müsste. Keiner wagt es, ihn zu stören, bis ein junger Beamter namens Petuškov beherzt die Papiere nimmt und die Höhle des Löwen betritt:

    "Potjomkim saß im Chalat – im Schlafrock – barfuß, unfrisiert, nachdenklich an den Nägeln kauend. Petuškov erklärte ihm tapfer, worum es sich handle, und legte ihm die Papiere vor. Potjomkin griff schweigend zur Feder und unterschrieb sie eines nach dem anderen. Petuškov verneigte sich und ging mit triumphierender Miene ins Vorzimmer hinaus. "Er hat unterschrieben!" ... Alle stürzten auf ihn zu, sahen hin: alle Papiere waren tatsächlich unterschrieben. Man gratulierte Petuškov. "Teufelskerl! muß man schon sagen." Aber jemand schaut sich die Unterschrift genau an – und was sieht er? Auf allen Papieren steht statt: Fürst Potjomkin – die Unterschrift: Petuškov, Petuškov, Petuškov ..."

    Aleksandr Puškin: Die Erzählungen.
    Einschließlich der Fragmente, Varianten, Skizzen und Entwürfe – mit einem Nachwort, einer Zeittafel und Anmerkungen. Übersetzt und herausgegeben von Peter Urban.
    Neue, vermehrte, durchgesehene Auflage. 590 Seiten. Friedenauer Presse, Berlin 2012

    Aleksandr Puškin: Die Romane.
    Einschließlich der Pläne, Entwürfe und der wichtigsten Varianten – mit einem Nachwort und Anmerkungen. Übersetzt und herausgegeben von Peter Urban.
    Neue durchgesehene Auflage. 456 Seiten. Friedenauer Presse, Berlin 2012