Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Der Sängervirtuose des 18. Jahrhunderts

Er war für das 18. Jahrhundert, was die Callas für das 20. Jahrhundert war: einer der größten Sängervirtuosen seiner Zeit.

Von Renate Hellwig-Unruh | 24.01.2005
    Es gibt nur einen Gott – und nur einen Farinelli.

    Das geflügelte Wort kursierte um 1735 in der Londoner Gesellschaft. Der Klang seiner Stimme, seine Atemtechnik und vor allem Farinellis Spezialität, die Messa di voce, versetzte die Zuhörer in einen rauschähnlichen Zustand.

    In der berühmten Arie Sono qual nave, die sein Bruder gesetzt hatte, fing er die erste Note so sanft an, schwellte sie durch ganz unmerkliche Grade zu einer erstaunlichen Stärke und linderte sie auf ebendiese Weise wieder, dass man ihm völlig fünf Minuten klatschte.

    Schrieb der Chronist Charles Burney in sein Tagebuch einer musikalischen Reise. Die Diva assoluta war - ein Mann, ein Kastrat.

    Farinellis Stimme umfasste eine Skala von mehr als drei Oktaven – üblich waren bei Kastraten nur gut anderthalb Oktaven. Um einen Eindruck von seinem Stimmumfang zu erlangen, wurden in einer 1995 erschienen französischen Filmbiographie die Stimmen von Ewa Mallas-Godlewska und Derek Lee Ragin verschmolzen.

    Farinelli stammt aus einer angesehenen und wohlhabenden apulischen Familie. Geboren am 24. Januar 1705 in Antria, wird er auf den Namen Carlo Boschi getauft. Als Carlo etwa neun Jahre alt ist, wird die Kastration an ihm vollzogen und kurz danach kommt er zu Nicola Porpora, einem jungen aufstrebenden Musiklehrer und Komponisten in Neapel, der für die nächsten fünf Jahre die musikalische Ausbildung seines Zöglings übernimmt. Von seinem Lehrer unterstützt, beginnt der Fünfzehnjährige danach unter dem Künstlernamen Farinelli die Fürsten- und Opernhäuser Italiens zu erobern.
    Unter allen Sängern, die es heute gibt, kann man keinen finden, der mit seinen Koloraturen und in der Schönheit der Stimme mit Farinelli konkurrieren könnte. Mit vollendeter Leichtigkeit wandert seine Stimme über dreiundzwanzig Noten, niemand kann sich erinnern, jemals etwas Vergleichbares gehört zu haben.

    Schreibt der deutsche Reisende Johann Georg Keyssler. Mit 23 Jahren ist Farinelli auch der reichste Sänger seiner Zeit. Seine Konzerte lösen vor allem in Italien, wo die Kunst der Kastraten eine lange Tradition besitzt, aber auch in Wien, München und London eine wahre Hysterie aus. Doch bald melden sich auch kritische Stimmen. In einer Londoner Zeitung heißt es:

    Hinfort, Objekt des Vergnügens, Schande für unsere Nation! Möge Großbritannien nicht länger von frivolen Trillern verdorben werden. Möge sich jene Rasse von Sängern dorthin zurückwenden, wo Wolllust und Sittenlosigkeit herrschen. Lass dort deine Fistelstimme erschallen!

    Auch in Frankreich, wo die Kastraten "Monstres sacrés" genannt werden, genießt Farinelli nur mäßiges Ansehen. Von Paris geht er daher nach Spanien, ja man kann fast sagen, flüchtet er nach Madrid, wo er am spanischen Königshof die nächsten 23 Jahre verbringt. Als persönlicher Sänger von König Philipp V engagiert, soll der Klang seiner Stimme helfen, die langjährige Depression des Königs zu heilen.

    Seit dem Tag meiner Ankunft führe ich ein gleichförmiges Leben, singe ich doch jeden Abend zu Füßen der Herrscher, und man lauscht mir noch immer, als wäre es das erste Mal. Jeden Abend muss ich acht oder neuen Arien vortragen, nie gibt es eine Ruhepause.

    Farinelli singt auch an den offiziellen Festtagen und organisiert Opernaufführungen am Hof – zuerst für Philipp V., später für dessen Sohn Ferdinand VI. Unter der Leitung des Kastraten wird das königliche Theater weltberühmt. Er lässt die besten Sänger und Komponisten aus Italien kommen und bindet sie an den spanischen Hof.

    Nach dem Tod von König Ferdinand VI kehrt Farinelli nach Italien zurück. Sein fürstlich ausgestattetes Haus in Bologna wird für die nächsten Jahre zu einem musikalischen Treffpunkt. (Neben Christoph Willibald Gluck und Leopold und Wolfgang Amadeus Mozart, empfängt er zahlreiche Komponisten und Musikgelehrte.) Dabei wird ihm das Vergängliche seiner Kunst immer bewusster. Mit Blick auf einen befreundeten Musikautographen-Sammler, äußert er wiederholt:

    Was er tut, wird beständig bleiben, aber das Wenige, was ich getan habe, ist schon dahin und vergessen.

    Als Farinelli am 16. September 1782 im Alter von 77 Jahren stirbt, ist das Ende der Kastratenkunst bereits abzusehen. Memoiren, Tagebücher und Briefe berichten zwar noch von seinem Ruhm und auch als Held einiger Opern und Erzählungen ist er lebendig geblieben – der Klang seiner Stimme allerdings ist für immer verloren.