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Der Schriftsteller des Desasters

Den 100. Geburtstag von Maurice Blanchot (1907-2003) nutzen eine ganze Reihe von Verlagen dazu, an den französischen Literaturtheoretiker, Literaturkritiker, Essayisten und Romancier zu erinnern. Blanchot hatte es verstanden, sein Privatleben weitestgehend von der Öffentlichkeit fern zu halten. Selbst an seinem genauen Geburtsdatum gibt es Zweifel. Blanchots Denken hat die Literaturtheorien der Dekonstruktion, des "Nouveau Roman" und der Diskursanalyse maßgeblich beeinflusst.

Von Cornelia Jentzsch | 24.01.2008
    In seinem Buch "L'ecriture du désastre" - zu deutsch "Die Schrift des Desasters" - beschreibt Maurice Blanchot eine Urszene. Ein etwa siebenjähriges Kind schaut vom Fenster seines Zimmers in den winterlichen Garten hinaus. Von den Spielgeräten blickt es hoch in den graubedeckten Himmel.

    "Was dann geschieht: der Himmel, derselbe Himmel , plötzlich offen, absolut schwarz und absolut leer, enthüllt ... eine solche Abwesenheit, das alles darin seit je und für immer verloren gegangen ist, so sehr, dass sich darin das schwindelerregende Wissen bestätigt und zerstreut, dass nichts ist, was es gibt, und vor allem nichts darüber hinaus."

    Das Kind beginnt vor Entsetzen zu weinen - und ist glücklich zugleich.

    Nicht um ein klassisches psychoanalytische Ausgangserlebnis geht es hier - Blanchot versieht seine "Urszene" deshalb auch mit einem Fragezeichen. Ihn interessiert weniger das freudsche Problem des auf sich selbst zurückgeworfenen Kindes, obwohl er sich mit Freud intensiv auseinander setzte. Und es ist eigentlich auch unerheblich, ob Blanchot diese Szene tatsächlich erlebte oder nur literarisch erdachte.

    Blanchot veranschaulicht nichts weniger als das allgemeingültige menschliche Gattungstrauma, das diesem Kind in seinem ersten Begreifenkönnen widerfuhr. Er schildert den Sündenfall schlechthin: den Sturz aus dem ursprünglichen, animalischen Nichtwissen in die Existenz eines denkenden Individuums. Wie in einem Spiegel nimmt sich der Mensch sich im Denken erstmals wahr. Und was sieht er? Seine einzigartige Anwesenheit inmitten einer großen Leere. Und weiter, der Mensch entdeckt, dass nicht nur sein Gegenüber im Spiegel, sondern er selbst sterblich ist. Ihn erreicht die Botschaft von der Existenz des Todes, da er mit Gedanke und Wort auch die Empfangsantennen für diese unvermeidlich zirkulierende Nachricht aufgerichtet hat.

    Und in immer dunklere Sphären hinein führen Bewusstsein und Erkenntnis: Allmählich muss er begreifen, dass ihn ausgerechnet Denken und Sprache von seinem eigenen Tod und damit von sich selbst ausschließen. Sein Vermögen ihn also noch einsamer werden lässt.

    "Unendlich-begrenzt, bist das du?"

    Ihm wird zwar der Tod widerfahren, aber der Mensch wird davon nichts wissen, weder über den Tod an sich noch über sich selbst im Tod. Zwar erlebt er das Sterben als Prozess zu Etwas hin, nicht aber den finalen Akt.

    "Wenn der Tod das Reale ist, und wenn das Reale das Unmögliche ist, nähert man sich dem Gedanken der Unmöglichkeit des Todes."

    Denk- und Sprachvermögen halten den Menschen in einer begrenzten Form lebenslänglich eingeschlossen. Die Anwesenheit des Menschen wird vom andren Ufer des Nichtdenkenden aus gesehen zum Gegenüber: zur Nicht-Anwesenheit. Mit den Begriffen und der Vorstellung von "Leere" und "Nichts" katapultiert sich der Mensch geradewegs aus Leere und Nichts hinaus.

    Das von Blanchot beschriebene Kind scheint das alles instinktiv zu spüren, ohne es bereits genauer benennen zu können: die Schönheit und Großartigkeit einer erkennbaren Welt wie auch das entsetzliche, bestürzende Entgleiten dieser Welt ausgerechnet durch den gewonnenen Denkzugriff. Diesem kognitiven Drama, von dem das Kind eine fürchterliche Ahnung anweht, ist Blanchots gesamtes Werk gewidmet, so unterschiedlich es auch ausformuliert ist:
    ob als theoretischer Text, Roman, Erzählung, Essay, Flugblatt oder Zeitschriftenartikel.

    Maurice Blanchot ist nicht der erste, der das Desaster des Denkens zu fixieren versucht. Über dieser Leerstelle errichteten vor ihm schon Hegel oder Heidegger ihre komplexen Philosophiegebäude - beide für ihn inspirierend. Doch Blanchot ist insofern ein Solitär, da er den menschlichen Denkprozess und seine Konsequenzen nicht nur in zahlreichen theoretischen Schriften radikal analytisch untersuchte. In Romanen und Erzählungen beschrieb er ihn ebenso eindringlich physisch nachvollziehbar.

    1941 erschien sein wohl bekanntester Roman "Thomas L'Obscure" / "Thomas der Dunkle", von Jürg Laederach übersetzt und bei Urs Engeler in einer revidierten Fassung herausgekommen. Der Name des Titelhelden lehnt sich an den biblischen Thomas, den "Ungläubigen" an. Ihm soll Jesus entgegnet haben:

    "Seelig sind, die nicht sehen und doch glauben". "

    Das Obskure, vom lateinischen ob-scurus, vom Bedeckten abgeleitet, bezeichnet im Deutschen seit der Aufklärung etwas Dunkles, Unbekanntes und Verdächtiges von zweifelhafter Herkunft. Was die Vernunft nicht zu erfassen vermochte, sollte von ihr geächtet werden. Beseitigen ließ es sich aber wider aller Vernunft trotzdem nicht, sondern beschäftigt bis heute umso stärker den Geist.

    Ebenfalls bei Engeler herausgekommen ist die Erzählung, "L' arret du mort", "Das Todesurteil" sowie ein empfehlenswerter Essay des Züricher Literaturtheoretikers Hans Jost Frey. In klaren Schritten erschließt Frey die innere Logik und das Komplexe am Werk Blanchots. Das ist umso anerkennenswerter, da selbst für Kenner Blanchots Werk nicht so einfach zu erfassen ist. Von seinen Kritikern wird Maurice Blanchot manchmal selbst als der Dunkle, Obskure gesehen. Letzteres mag ein Grund dafür sein, das er bis heute in Deutschland relativ unbekannt geblieben ist.

    In Frankreich dagegen gab Blanchot schon immer Philosophen wie Autoren grundsätzliche Impulse. Poststrukturalismus, Diskurstheorie, Nouveau Roman oder Nouvelle Critique wären ohne ihn anders gelaufen. Michel Foucault und Jacques Derrida bauten ihr Werk auf das von Blanchot auf wie sich auch Pierre Klossowski, Paul de Man und Emmanuel Lévinas darauf bezogen. Mit Lévinas, den Blanchot bereits während des Studium kennenlernte, verband ihn mehr als Freundschaft. Viele gedankliche Bausteine finden sich bei beiden gleichermaßen wieder. Für Blanchot war es gleichgültig, wer wen angestiftet hatte. Wichtiger erschien ihm die ergiebige Parallelität der Gedankengänge. Er prägte dafür den Begriff der parole plurielle, der Mehrfachrede. Hans Jost Frey dazu:

    " "Indem jeder der beiden Texte wieder aufnimmt, bringt er dessen Gesagtes in den Unterschied zu sich selbst,
    indem er es so wiederholt, wie es noch nicht gesagt ist."

    Maurice Blanchots politisches Engagement gehört zu seiner eigenen Mehrfachrede - zwei weitere Bücher tragen dem Rechnung. Zum einen "La communauté inavouable", "Die uneingestehbare Gemeinschaft", erstmals bei Matthes & Seitz Berlin von Gerd Bergfleth übersetzt. Leider aber auch von ihm mit einem zu redseligen Nachwort versehen. Zum anderen zählen die "Politischen Schriften 1958-1993" dazu, bei Diaphanes erschienen. Auch das eingangs bereits erwähnte Buch "Die Schrift des Desasters" aus dem Verlag Wilhelm Fink, das sich mit Genozid und Gedächtnis befasst, gehört hierher.

    Blanchot orientierte sich in den 30er Jahren zunächst als Journalist extrem rechts, was ihm bis heute vorgeworfen wird - Emile Cioran wäre ein paralleler Fall. Später jedoch, während des Algerienkriegs in den Fünfzigern und den Studentenunruhen Ende der Sechziger, verurteilte Blanchot mit harten Worten staatliche Willkür und Machtmissbrauch. Er rief zu kollektiven Ungehorsam auf. Das und noch mehr erfährt man aus den "Politischen Schriften".

    In der "uneingestehbaren Gemeinschaft" entwirft und zerstört zugleich Blanchot - in Auseinandersetzung mit den Theorien von Bataille - die Idee jeglichen humanen Bündnisses.

    Denn jede wirkliche Gemeinschaft, sei es im Makrobereich der Gesellschaft oder im Mikrobereich der Liebe, birgt ab dem Moment ihrer anspruchsvollen Konstituierung auch bereits den Keim ihrer Zerstörung. Mit dieser Einsicht ins Unbegreifliche müssen wir zwar seit jeher leben, doch Blanchot erhellt, warum das so ist.

    Wie sehr im Werk dieses Franzosen alle Einzelpublikationen miteinander in Korrespondenz stehen, bezeugt auch der Titel des im Hanser Verlag wiederauferlegten Essaybandes "Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz".

    Denn nicht nur auf das Unendliche, sondern vor allem auf das Gespräch, das Lebendige und Gegenwärtige, kommt es Maurice Blanchot an.

    Und auf den Leser, jeden einzelnen, der im Lesen denkt und damit anwesend bleibt.

    " Die Nachwelt ist niemandem sicher, und sie macht das Glück keines Buches aus. Das Werk dauert nicht, es ist... das Werk [erlangt] in der Lektüre immer zum ersten Mal Gegenwart - einmalige Lektüre, jedes Mal die erste und jedes Mal die einzige. "

    Literaturliste

    Maurice Blanchot: Die uneingestehbare Gemeinschaft. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Gerd Bergfleth. Matthes & Seitz Berlin. 120 Seiten

    Maurice Blanchot: Politische Schriften 1958-1993. Aus dem Französischen übersetzt und kommentiert von Marcus Coelen. Diaphanes Verlag Zürich-Berlin. 192 Seiten
    (Maurice Blanchot: Das Neutrale. Philosophische Schriften und Fragmente. Diaphanes -Verlag - das für 2007 angekündigte Buch erscheint später, voraussichtlich erst im Frühjahr 2008)

    Maurice Blanchot: Thomas der Dunkle. Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Jürg Laederach. Sammlung Urs Engeler Editor, Band 56. Urs Engeler Editor, Basel/ Weill am Rhein. 128 Seiten

    Maurice Blanchot: Das Todesurteil. Erzählung. Aus dem Französischen übersetzt von Jürg Laederach. Sammlung Urs Engeler Editor, Band 55. Urs Engeler Editor, Basel/ Weill am Rhein. 128 Seiten

    Hans-Jost Frey : Maurice Blanchot. Das Ende der Sprache schreiben. Sammlung Theorie Band 6. Urs Engeler Editor, Basel/ Weill am Rhein. 144 Seiten

    Maurice Blanchot: Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz.
    Aus dem Französischen übersetzt von Hans-Joachim Metzger und Bernd Wilczek. Edition Hanser, Hanser Verlag München 1991/2007. 272 Seiten

    Maurice Blanchot: "Die Schrift des Desasters". Aus dem Französischen übersetzt von Gerhard Poppenberg und Hinrich Weidemann. Reihe Genozid und Gedächtnis, Verlag Wilhelm Fink, Paderborn 2005. 195 Seiten