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Der schwarze Schwan

Das Schwierigste, das ich jemals in meinem Leben geschrieben habe, war die letzte Seite von ‚Der schwarze Schwan'. Sie hat ihre eigene Melodie. Eine Frau und ein Mann sitzen sich in einem Auto gegenüber. Sie haben niemals Liebe miteinander gemacht und sich doch ineinander verliebt. Allerdings sind der Ehemann und der Sohn der Frau mit dabei und nur wie die beiden sich anblicken, spiegelt diese Liebe wieder. Wir wissen, dass der Junge, der die Geschichte erzählt, bereits die Zukunft kennt und darum weiß, dass der Mann sterben wird. Der Junge sitzt in diesem Auto gefangen und wünscht sich, die Reise möge nie enden, damit dieser Mann nicht stirbt. Ich habe das Dutzende Mal umgeschrieben. Ich hoffe, ich habe es jetzt richtig hinbekommen.

Johannes Kaiser | 12.09.2002
    In seiner fiktiven Biographie ‚Der schwarze Schwan' ist dem 1937 in der Bronx geborenen amerikanischen Schriftsteller Jerome Charyn scheinbar mühelos gelungen, die zwiespältigen Gefühle eines heranwachsenden New Yorker Jungen aus der Bronx einzufangen, der miterlebt, wie sich seine Mutter in einen Gangsterbuchhalter verliebt. Die letzte Seite des kleinen Romans lag dem Schriftsteller aber auch noch aus einem ganz anderen Grund besonders am Herzen. Im jugendlichen Ich-Erzähler steckt auch der Autor selbst:

    Er ist wie ein Spion, der durchs Fenster schaut. Er gehört nicht dazu, ist der Beobachter, das Auge, das nur zuschaut, auch wenn er in gewissen Sinne mit teilhat. Dies ist die Geburt eines Schriftstellers: man wird vom Teilnehmer zum Beobachter. Man muss Beobachter sein, muss zusehen und die allerletzte Seite ist eben die Geburt der Beobachtung.

    Jerome Charyn wendet sich bereits zum zweiten Mal der eigenen Jugend zu. Während der erste Band ‚Die dunkle Schöne aus Weißrussland' unter anderem erzählt, wie der Junge zusammen mit seiner Mutter, einer aus Russland eingewanderten Analphabetin, das Lesen und damit das Abenteuer der Literatur entdeckt, schildert der zweite Band, wie der junge Jerome in die Welt des Verbrechens eintaucht. Morgens flüchtet sich der Elfjährige, statt in die Schule zu gehen, ins Kino. Er ist es leid, wegen seiner großen Ohren ständig gehänselt zu werden. Weil seine Eltern arm sind, der Junge keinen Cent besitzt, muss er heimlich ins Kino schlüpfen. So bleiben eines Tages die Abenteuer nicht mehr auf die Leinwand gebannt, sondern steigen runter in den Zuschauerraum: drei düstere Männer schleppen den Schulschwänzer und Schwarzseher aus dem Vorführraum in ein Kellerbüro. Durch sie lernt Jerome den König der East-Bronx kennen: den fetten Farouk, der Selleriesoda verkauft. Kein Laden in seinem Einflussbereich, der sie nicht führen muss. Der junge Jerome wird zu seinem Geldeintreiber. Ausstaffiert wie ein Kindergangster: schwarzer Anzug mit grauen Streifen, weißes Hemd, schwarzer Homburg auf dem Kopf sammelt er mit Farouks Leibwächter, dem schwarzen Riesen Tyrone braune Papiertüten voller Dollarscheine ein. Er kommt viel rum und erlebt viel mit.

    Jerome Charyns alter ego ist natürlich eine Erfindung, aber die Welt der kleinen Gauner und Kiezfürsten hat tatsächlich existiert und der Junge aus einer russischen Einwandererfamilie war von ihr geblendet.

    Das war die Wirklichkeit und sie existiert immer noch. Für einen heranwachsenden Jungen in einer Zeit, in der Polizisten Kinder schlugen, es eine Menge Grausamkeit gab, hatte ein Gangster eine große Aura. Er ließ sich nichts gefallen. Wenn man ihn anmachte, gab's ein paar auf den Kopf. Er hat nie kleine Kinder geärgert. Für mich war das eine magische Figur. Ich will ihn nicht romantisieren, denn er war sehr oft grausam, aber er war nie unfair. Die Welt um ihn herum war viel unfairer - das, was man Weiße Kragen Kriminalität nennt.

    Selten ist poetischer über diese Welt der Kleinkriminellen erzählt worden, der Kiez-Könige und ihrer Kämpfe, wie verführerisch die Mobmacht auf Heranwachsende wirkte, über das Leben in einer Nachbarschaft, in der man jeden Cent mehrfach umdrehte, bevor man ihn ausgab, über den Stolz einer Mutter, deren Schönheit manchem Mann den Kopf verdrehte, über einen schwachen Vater, der mit dem Leben nie zurande kam. Die Bronx steckt Jerome Charyn noch immer im Blut. Dass er nicht wie so viele andere zum Gangster wurde, verdankt er dem Lesen und dem Lesen wiederum das Schreiben.

    Es war eine gewalttätige Landschaft, sie ist es immer noch und das steckt auch in mir. Ich bin auch ein Verbrecher geworden, nur auf andere Art und Weise: ein Krimineller mit Sprache. Ich attackiere mit Worten statt mit einer Pistole. Es geht immer darum, anzugreifen, denn Sprache ist gewalttätig und machtvolle Sprache besitzt große Gewalt.

    In der Tat nimmt einen Jerome Charyns Sprache gefangen. Man kann sich ihrem Sog kaum entziehen. Sie macht süchtig. An der Ereignissen selbst liegt das allerdings nicht. Vielmehr an der Atmosphäre, der Stimmung, die sie vermitteln. Insofern erübrigt sich für den Schriftsteller die Frage, ob die Geschichten, die er erzählt, denn stimmen.

    Die Wahrheit: das ist das Gefühl hinter dem Ereignis. Wenn man nur aufzeichnen würde, was tagtäglich geschieht, dann wäre das so unglaublich langweilig, dass Sie bereits nach drei Seiten eingeschlafen wären. Aber das Gefühl ist ganz und gar wahr und sehr autobiographisch. Um das Gefühl herum gibt es Erfindung, aber es ist diese Erfindung, die das Gefühl erst hervorbringt.

    Jerome Charyns nutzt die Erlebnisse seiner Jugend wie eine Leinwand, auf die er seinen Geschichten malt. So ist die Figur, die seinen Namen trägt, bei allen Ähnlichkeiten eine schriftstellerische Phantasie.

    Das gilt natürlich nicht nur für die autobiographischen Fiktionen, wie sie sich in ‚Der schwarze Schwan' finden lassen. Mit derselben Leidenschaft baut Jerome Charyn auch am Lebenslauf seiner wichtigsten schriftstellerischen Erfindung weiter: dem gleichaltrigen Polizisten Isaac Sidel. Zehnmal hat er inzwischen den New Yorker Cop in einer Krimi-Geschichte untergebracht, ihn auf seinem Weg aus dem jüdischen Kiez, der Bronx, in der er aufwuchs, bis an die Spitze New Yorks begleitet. In seinem jetzt auf deutsch erschienenen siebten Teil der Sidel-Serie ‚Abrechnung in Little Odessa' wird der inzwischen zum Polizeichef Aufgestiegene zum Bürgermeister New Yorks gewählt.

    Ich fühle mich Isaac Sidel sehr nahe, auch wenn das anfangs nicht so war, je älter er und ich werden. Ich liebe seine Stärken und Schwächen. Ich mag ihn, weil er ein Mann ist, der weinen kann, der sehr romantisch ist, und zugleich ist er ein Mörder. Er macht alles, was er tun muß, ohne Angst zu haben. Er kennt Furcht, aber er ist nicht ängstlich. Er ist zu allem bereit. Ich liebe ihn, denn das ist die amerikanische Erfolgsgeschichte - eine Parodie auf die ganze Bedeutung des Erfolgs. Je mehr er mordet, je mehr Schaden er anrichtet, auch wenn er dabei sehr moralisch ist, desto mächtiger wird er. Es ist eine Art Lebensprojekt. Ich würde es gerne fortführen. Er wird noch Vizepräsident werden.

    Noch steht Isaac Sidel allerdings vor der Aufgabe, New Yorks Bürgermeister zu werden. Er ist bereits gewählt, doch bevor er sein Amt antritt, verschwindet er zum Entsetzen der gesamten New Yorker Elite in einem Obdachlosenasyl, schläft mit Pennern zusammen, nur um den Mördern der Knickerbocker-Gang auf die Spur zu kommen. Die machen Obdachlose kalt. Dabei stößt Sidel auf einen Pornoschuppen, in dem er sich in eines der Peepshow-Mädchen verguckt. Gleichzeitig folgt er einer Spur, die ihn in die lange vergangene Ära der schwarzen Baseball-Liga zurückbringt und schließlich begegnet ihm seine Jugendliebe Margaret Tolstoi wieder, mit der er einst im besetzten Paris die Schulbank gedrückt hat. Wie in den Vorgängern so führt Jerome Charyn auch diesmal in ‚Abrechnung in Little Odessa' wieder viele verschiedene Geschichten parallel.

    Als das Buch jetzt in Frankreich herauskam, musste ich es noch einmal lesen und ich las es, als wäre ich nicht der Autor gewesen. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht. Ich hab mich gefragt, wer ist der Verrückte, der dies Buch geschrieben hat. Es führt sonst wohin. Nichts lässt sich vorhersagen. Man weiß nicht, wo es enden wird. Literatur ist normalerweise voraussehbar. Mir gefällt die Idee, dass der Leser im Dunkeln steht und nicht weiß, wohin er sich wenden soll. Der Leser soll nicht vorhersehen können, was als nächstes geschieht. Sonst wäre es langweilig. Auch ich kenne das Ende nicht. Es ist ein Prozeß, der mich dahin führt, wo es hin gehen muss. Wenn man das Ende kennen würde, warum sollte man das Buch schreiben? Man will was entdecken. Es ist eine Reise, die man mit den Figuren zusammen unternimmt. Diese Reise sollte man sehr ernst nehmen, denn man spielt mit seinem eigenen Leben, der eigenen Verletzlichkeit, wenn man diese Bücher schreibt.