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Der schwierige Frieden im Herzen Afrikas

Der Grenzübergang im ostkongolesischen Bukavu – im Dreiländereck zwischen Ruanda, Burundi und der Demokratischen Republik Kongo: Die ruandische Grenzstadt Cyangugu liegt im Rücken. Linker Hand, im Süden, Burundi. Hier kreuzten sich in den Jahren des Völkermords an Hutu und Tutsi die blutigen Schicksalswege der Volksgruppen. Hier ergossen sich die Flüchtlingsströme hinüber und herüber. Hier wandte sich die westliche Welt vom Massensterben ab.

Von Christiane Kaess | 27.06.2010
    Heute steht hier ein rot-weißer Schlagbaum. Hier zeigen sich die unterschiedlichen Strategien zur Aufarbeitung der Vergangenheit und zur Neugestaltung der politischen Zukunft. Hier, im Dreiländereck, hängt alles mit allem zusammen, sagt Cyprien Birhingingwa, Sprecher der Nicht-Regierungsorganisationen in der ostkongolesichen Provinz Südkivu:
    "Wenn die Wahlen in der Region nicht friedlich verlaufen, werden wir alle darunter leiden. Und wir haben schon viel zuviel unter den Konflikten unserer Nachbarn gelitten"."

    Das Krisengebiet Südkivu gilt heute wie damals als Sprengsatz für einen möglichen neuen Konflikt zwischen den verschiedenen Rebellengruppen und Ethnien. Den kurzen Weg nach Bukavu gingen 1994 während des Bürgerkriegs und des Völkermordes in Ruanda auch Hunderttausende von ruandischen Flüchtlingen. Cyprien Birhingingwa erinnert sich:

    ""Die Flüchtlinge hatten sich auf allen öffentlichen Plätzen niedergelassen – in den Stadien, den Kirchen, alle Fußballplätze waren besetzt. Das war für den Kongo mit seiner schwachen Verwaltung eine sehr schwierige Situation. Es waren Militärs unter den Flüchtlingen, ganz normale Bürger oder ehemalige Regierungsmitglieder. Manche Flüchtlingscamps nannte man deshalb 'Kigali 2'. Sie sind mit Waffen gekommen, mit Militär-Fahrzeugen, mit Bussen, das alles haben wir hier rein kommen sehen."

    Aus dem Flüchtlingsdrama erwuchs ein politisches Problem: Damals gründeten sich die "Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas", in der französischen Abkürzung FDLR: Diese Hutu-Milizen waren zu einem großen Teil 1994 am Völkermord an den Tutsi in Ruanda beteiligt gewesen. Eine Rückkehr nach Ruanda ist für sie bis heute schwierig – sie riskieren, sofort an die ruandische Justiz überstellt zu werden.

    So agieren die FDLR im Osten Kongos als Rebellengruppe im Staate des kongolesischen Präsidenten Joseph Kabila, terrorisieren seit Jahren die Bevölkerung in den ostkongolesischen Provinzen Süd- und Nordkivu. Weder die kongolesische Armee noch die dort stationierten Friedenstruppen der Vereinten Nationen konnten den Guerilla-Kriegern Herr werden. Und nicht einmal die Invasion Ruandas im Kongo 1996 löste das Problem. Vielmehr war dies ein Auslöser für den sogenannten Kongokrieg, der zwischen 1996 und 2003 mehr Menschen das Leben kostete als irgendein anderer bewaffneter Konflikt nach dem Zweiten Weltkrieg.

    Nach dem Völkermord fühlte sich Ruandas neue, tutsi-dominierte Regierung von den Hutu-Milizen jenseits der Grenze bedroht. Auch deshalb unterstützte sie – inoffiziell - eine Gegenrebellion im Ostkongo: den "Nationalkongress zur Verteidigung des Volkes", kurz CNDP. Sein Chef: der berüchtigte Warlord General Laurent Nkunda. Selbst ein Angehöriger der Tutsi, rechtfertigte er sein Vorgehen mit dem notwendigen Schutz der Tutsi-Minderheit im Ostkongo.
    Seine Hintermänner von der Regierung unter Präsident Paul Kagame in Ruanda bestritten stets die Militärhilfe an Nkundas CDNP. Die Vereinten Nationen indes wussten es besser und legten Beweise für die ruandische Einmischung im Osten Kongos vor.

    Es folgte eine Kettenreaktion: Schweden und die Niederlande froren ihre Entwicklungshilfe für Ruanda ein. Der internationale Druck auf die Regierung in der ruandischen Hauptstadt Kigali stieg. Und Kongos Präsident Joseph Kabila nutzte die Gunst der Stunde, um Anfang 2009 die Unruheprovinzen im Osten des Landes wieder unter Kontrolle zu bekommen. Das Rezept lautete: Umarmung der Rebellen Nkundas bis zu deren Erstickungstod – so jedenfalls lässt sich das strategische Konzept interpretieren, das der Vizegouverneur der ostkongolesischen Provinz Südkivu, Jean-Claude Kibala, so erklärt:

    "Wir haben mit Ruanda gesprochen, natürlich mithilfe anderer Partner in Europa und in den USA, die gesehen haben, dass hier eine Mitverantwortung von Ruanda da war und Ruanda gezwungen haben, mit am Tisch zu sitzen und eine Lösung zu finden. Eine der Lösungen war klar, dass wir die CNDP integrieren und wir haben gesagt, okay, wenn die tatsächlich meinen, sie wollen gegen die FDLR kämpfen. Wir haben gesagt: Integration ja - und bitte: machen Sie mit!"

    Die meisten Milizen der CNDP folgten diesem Ruf – ihr Führer, General Nkunda, wurde festgenommen, seine Truppen in die kongolesische Armee aufgenommen. Doch das nächste Desaster ließ nicht lange auf sich warten. Statt die Lage zu deeskalieren und nach friedlichen Lösungen zu suchen, wandte sich die kongolesische Armee nun gemeinsam mit dem ruandischen Militär gegen die Hutu-Rebellen der FDLR. Und verging sich dabei wiederum an der Zivilbevölkerung.
    Und doch will die Blauhelmmission der Vereinten Nationen mit dem Kürzel MONUC nicht von einem völligen Versagen des gemeinsamen kongolesischen und ruandischen Vorgehens sprechen. Die Hutu-Rebellen von der FDLR seien deutlich geschwächt worden, sagt Brigade-General Ghumman Ghulam Hussein.

    "Riesige Gebiete sind befreit worden – die verbliebenen Einheiten der FDLR haben sich dorthin zurückgezogen, wo die MONUC und die kongolesische Armee noch nicht waren. Jetzt versuchen sie aber, in die befreiten Gebiete zurückzukommen - aus den Wäldern. Sie schlagen zu und verschwinden wieder, aber sie haben keine festen Operationsbasen mehr in diesen befreiten Gebieten."
    Für die Zivilbevölkerung hat sich die Lage damit noch nicht verbessert: Nach wie vor gibt es Massaker und Vergewaltigungen durch die FDLR. Tatsächlich erweist sich der ursprüngliche Konflikt zwischen Hutu und Tutsi, der in Ruanda im Völkermord gipfelte, der Burundi über Jahrzehnte destabilisierte und schließlich in den Osten Kongos exportiert wurde, bis heute als gefährlicher Schwelbrand.

    Dieser Schwelbrand könnte auch 100 Kilometer weiter südlich wieder auflodern: in Bujumbura, der Hauptstadt Burundis, dem Nachbarn Ruandas und Kongos. Morgen wird dort ein neuer Präsident, ein paar Wochen später ein neues Parlament gewählt. Unter Bedingungen, die zwar demokratischer sind als jenseits der burundischen Grenzen, aber immer noch nicht geprägt von politischer Stabilität.

    Durch die Städte Burundis joggen junge Männer in kurzen Hosen und T-Shirts. Was wie ein harmloses sportliches Training aussieht, erweist sich als politische Wahlkampf-Demonstration mit dem Risiko der sofortigen Eskalation: Noch bekämpfen sich die Jugendorganisationen der politischen Parteien nur mit militanten Slogans – aber schon wird von handfesten Auseinandersetzungen berichtet. Gerüchte kursieren über eine Bewaffnung der Jugendlichen. Die Erfahrungen des Bürgerkrieges sitzen noch tief.

    Hinzu kommen alle Krisensymptome einer ungefestigten Demokratie und Zivilgesellschaft: Vetternwirtschaft, Korruption, fehlende Rechtssicherheit und ein immer noch mangelhaftes Regierungs- und Wirtschaftsmanagement. Doch gemessen an seiner Vergangenheit ist Burundi weit gekommen. In den vergangenen fünf Jahren - seit den letzten Wahlen – hat sich das Land immer mehr von dem jahrelangen blutigen Bürgerkrieg erholt, der allein dort rund 300.000 Todesopfer gefordert hatte. Die letzte noch aktive Rebellengruppe gab im vergangenen Jahr die Waffen ab und verwandelte sich in eine politische Partei.

    Auch in Burundi verlief der Konflikt entlang der ethnischen Grenzen zwischen Hutu-Mehrheit und Tutsi-Minderheit. Die Gewaltexzesse haben tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen. Aber die Gesellschaft hat es vermocht, Brücken zu schlagen. Der Friedensprozess in Burundi war ein Erfolg, sagt Liberata Mulamula, Geschäftsführerin der "Internationalen Konferenz der Region der Großen Seen Afrikas". Dieses Gremium aus elf afrikanischen Ländern setzt sich für eine Stabilisierung der Region ein.

    Mulamula: "Als Burundi seine Friedensverhandlungen führte, waren fast alle Akteure und Parteien des Konfliktes dabei. Man musste also ein Modell entwickeln, das beide ethnische Gruppen einbezog. Das ging in Ruanda nicht – dort hatte der Völkermord für solche Verheerungen gesorgt, dass man ethnische Unterschiede nicht weiter thematisieren konnte. Das hätte nur zum nächsten Desaster geführt."

    Burundi ging den Weg der konsequenten Teilhabe beider Volksgruppen: In der neuen Verfassung wurde eine Quotenpolitik verankert, die dazu verpflichtet, Hutu und Tutsi an allen öffentlichen Ämtern zu beteiligen. Auch bei den jetzigen Wahlen müssen die Kandidaten-Listen der Parteien einen proportionalen Anteil beider Bevölkerungsgruppen nachweisen. Für Freddy Nkurunziza, Journalist und Mitglied eines Zusammenschlusses von Nichtregierungsorganisationen zur Beobachtung der Wahlen ist dies ein enormer Fortschritt: Auf diese Weise seien die Unterschiede im politischen Alltag nivelliert worden.

    "Die Leute haben verstanden, dass die Frage der Ethnien in Burundi nicht mehr das fundamentale Problem ist. Heute kämpfen verschiedene Hutu-Fraktionen, die sich jetzt Parteien nennen, um die politische Macht. Das Problem hat sich verlagert: Die burundischen Politiker nutzen diese Macht für ihre eigenen Interessen und nicht für die Belange der Bevölkerung."

    Was nun – unter anderem Vorzeichen – wiederum zur schleichenden Destabilisierung beiträgt. Zunächst schien bei diesen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen alles offen zu sein – 44 Parteien gingen ins Rennen um die Wählerstimmen. Doch dann kamen die Kommunalwahlen im Mai – sie sollten zum Stimmungstest werden und gerieten zum Menetekel: nach massiven Repressionen im Vorfeld der Wahlen erzielte die regierende Partei CNDD-FDD, eine ehemalige Rebellengruppe, satte 64 Prozent.

    Misstrauen machte sich breit – die Oppositionsparteien schenkten weder der Wahlkommission noch den internationalen Wahlbeobachtern Glauben, die versicherten, dass dieser Urnengang internationalen demokratischen Standards entsprochen habe.

    Mit dem Vorwurf massiver Wahlfälschung und -manipulation zogen die Oppositionsparteien ihre Kandidatur für die morgigen Präsidentschaftswahlen zurück. Bis zuletzt stand infrage, ob sie noch teilnehmen würden. Der regierende Präsident Pierre Nkurunziza geht also vermutlich ohne Konkurrenz in die Abstimmung. Der demokratische Neuanfang in Burundi steht auf dem Prüfstand: Der Ausgang ist ungewiss.

    Einem demokratischen Wagnis wie diesem ist Ruanda aus dem Weg gegangen. Zwar wird auch dort gewählt, die Präsidentschaftswahlen sind für August geplant. Doch ihr Ergebnis scheint schon festzustehen: Der alte Präsident Paul Kagame wird auch der neue sein. Kagame hat aus Ruanda einen autoritären Staat gemacht. Und nennt das ein Erfolgsmodell. Tatsächlich gilt Ruanda als afrikanisches Wirtschaftswunderland, als ökonomischer Hoffnungsträger in der Region und bevorzugter Investitionspartner der internationalen Staatengemeinschaft.

    Das "Bourbon-Coffee" in der ruandischen Hauptstadt Kigali. Ein Treffpunkt in einem modernen Einkaufszentrum, das 24 Stunden geöffnet hat. Hinter der Theke zischen verchromte Kaffeemaschinen. Mit seinen schweren Leder-Sesseln, einem jungen, hippen Publikum und Geschäftsleuten könnte das Café auch in New York oder Berlin stehen. Der Laden sei in Kigali genauso angenommen worden wie in einer westlichen Stadt, erzählt Emmanuel Murekezi, der Filial-Manager der Caféhaus-Kette. Dass Ruanda 16 Jahre nach dem Völkermord wirtschaftlich derart aufblüht, liege an den Investoren und mutigen Unternehmern – aber vor allem an Paul Kagame, dem Präsidenten des Landes.

    "Er ist wie ein Manager. Er tut alles dafür, dass die Unternehmen Erfolg haben. Im Regierungsprogramm 2020 gibt es Ziele, die das Land eigentlich erst in 10 oder 15 Jahren erreichen wollte, aber dank der dynamischen Entwicklung bereits erreicht hat."

    Die ehrgeizige Zielvorgabe namens "Vision 2020" soll das kleine, kriegsgeschädigte Land nach dem Willen Kagames binnen weniger Jahre in einen modernen Vorzeigestaat verwandeln. Dem ehemaligen Rebellenchef, der mit dem Einmarsch seiner Tutsi-Armee 1994 dem Genozid ein Ende machte, hat sein Regierungsprogramm international viel Lob und Anerkennung eingebracht. Die Kritik, dass der politische Preis für diese Entwicklung ein Regime sei, das Meinungsfreiheit und Opposition unterdrücke, lässt Emmanuel Murekezi, der Manager des "Bourbon Coffee", nicht gelten.
    "Wenn es in einem Land eine Krise gegeben hat wie in Ruanda, dann muss man autoritär sein, um das Land zu regieren."

    So würden das die Geberländer Ruandas sicherlich nicht formulieren – und so ist das auch von den Investoren nicht zu hören. Doch es ist schon bemerkenswert, dass aus Ruanda, dem Land des Völkermordes und der humanitären Katastrophe, ein Investitionsparadies geworden ist. Die Tragödie des Genozids, den die internationale Gemeinschaft nicht zu verhindern wusste, lastete lange Zeit schwer auf dem Gewissen vor allem der westlichen Staaten. Dafür investieren sie heute umso eifriger in Ruanda. Rainer Krischel von der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, kurz GTZ.

    "Natürlich gibt’s noch Defizite, aber ich denke, Ruanda hat die Defizite erkannt, und der Präsident selbst spricht von Defiziten. Aber es wird besprochen, es wird diskutiert, und es ist in der Öffentlichkeit. Und ich denke, das ist der Unterschied zu vielen afrikanischen Staaten."
    Was die Vergangenheit angeht, gibt sich die ruandische Regierung weniger diskussionsfreudig. Sie verabschiedete ein Gesetz zum sogenannten Divisionismus – demnach darf nicht mehr von Hutu oder Tutsi gesprochen werden. Offiziell gibt es keine unterschiedlichen Ethnien mehr in Ruanda. Es gibt nur noch Ruander. Diese Sprachregelung per Gesetz diene der inneren Stabilität und der Einheit des Landes, heißt es.

    Kritiker werfen der Regierung vor, dass sie es sich damit zu leicht mache. Und überdies mit zweierlei Maß bei der Bewältigung der Vergangenheit messe. Sie lege zwar viel Wert auf die Aufarbeitung des Völkermordes an den Tutsi, unterdrücke aber eine Diskussion über die Verbrechen der "Ruandischen Patriotischen Front", kurz RPF.

    Die RPF ist heute Kagames Regierungspartei. 1994 stürzte sie, damals noch als Tutsi-Rebellengruppe, mit ihrem Einmarsch in Kigali das Hutu-dominierte Regime des Völkermordes. Sie selbst soll bei ihrem Vormarsch ein Schlachtfeld der Verwüstung zurückgelassen haben. Berichte über Massaker und Menschenrechtsverletzungen aber werden von der Regierung bis heute ignoriert. Pascal Nyilibaku von der Nicht-Regierungsorganisation "Liga für Menschenrechte" weiß dies aus eigener, schmerzhafter Erfahrung.

    "Ich habe drei Familienmitglieder verloren. Man hat mir gesagt, sie sind von der RPF getötet worden. Aber selbst wenn ich Beweise hätte, würden mich diese nicht weiter bringen. Wenn die Leute versuchen, etwas über die Verbrechen der RPF herauszufinden, stoppt man sie. Ich glaube, das ist bis heute ein Problem zwischen den Ethnien und für die Einheit. Jede Kritik an der Regierungspartei wird sehr negativ aufgefasst. Die Ruander haben also immer Angst zu reden."

    Ob in Ruanda, in Burundi oder im Osten Kongos: So sehr sich die Mittel und Wege, mit der Vergangenheit umzugehen, auch unterscheiden mögen – sie wird sich nicht verdrängen lassen. So wenig, wie sich die Aufarbeitung der traumatischen Geschichte staatlich verordnen lässt – so wenig wird sie sich unterdrücken lassen. Für Cyprien Birhingingwa, den Sprecher der nichtstaatlichen Organisationen aus der Provinz Südkivu im Osten Kongos, entscheiden sich Wohl und Wehe der ehemaligen Bürgerkriegsstaaten an Demokratie und Rechtssicherheit.

    "Wir brauchen im Herzen Afrikas, im Kongo, in Ruanda und Burundi keine Konflikte mehr um die Macht! Wir haben mittlerweile in allen Verfassungen dieser Länder demokratische Regeln, die unbedingt eingehalten werden müssen."