Donnerstag, 18. April 2024

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Der Skorpionsfisch

Nicolas Bouvier ist ein Meister des Atmosphärischen: Jede von ihm geschilderte Situation ist ein Szenario menschlich-allzumenschlicher Schwächen und absonderlicher Ticks. Selbst das Exotische - eine uns fremd und eigenartig vorkommende Verhaltensweise oder Erscheinung - hat bei Bouvier nicht den haut gout des Anrüchigen und Verwerflichen. Dies liegt daran, dass er sich selbst als höchst befremdlichen Bewohner des Menschenparks sieht:

Hans-Jürgen Heinrichs | 23.09.2002
    Ich war gebräunt, gesalzen wie ein Fladenkuchen, auch ein bisschen schrumpelig von der Gelbsucht.

    Der 1929 geborene, in Genf aufgewachsene und 1998 verstorbene Nicolas Bouvier zeichnet in seinen zahlreichen Büchern von sich das Bild eines Menschen, der heillos der Leidenschaft des Reisens und damit dem Unvorhersehbaren, Banalen, Chaotischen oder einfach nur anders Strukturierten, fürchterlichen klimatischen Bedingungen, wohlwollenden und missgünstigen Menschen ausgesetzt ist. Er hat ebenso ein Auge für das Jämmerliche und Leiderfüllte der menschlichen Existenz wie für die leisesten Anzeichen von Glück und innerer Zufriedenheit.

    In dieser anmutigen Anordnung von Echos, Licht und farbigen tanzenden Schatten lag eine souveräne und flüchtige Perfektion und eine Musik, die ich wiedererkannte. Die Leier von Orpheus oder die Flöte von Krishna. Die dann ertönt, wenn die Welt in ihrer ursprünglichen Transparenz und Einfachheit erscheint.

    Ein solcher Blick auf die Welt und die Fähigkeit, das Alltäglich-Situative in seiner Banalität und Komik zu schildern und es zugleich im strahlenden universalen Licht und im kosmischen Konzert wohlklingender Töne wahrzunehmen, es zu etwas Besonderem und Erlebniswertem zu erhöhen, hat ihm zu Recht von Seiten der Literaturkritik größtes Lob eingebracht:

    Dieses Buch ist eine Meditation über unsere Wahrnehmung der Welt ... Nicolas Bouvier hat eine verblüffende Geschichte einer Reise geschrieben. Diese Reise führt hinein ins Innere von Eros und Geistern. Sie führt hinaus zu Einsamkeit und Hunger. Ich bin sicher, dass der Leser dieses Buch nicht aus seinem Gedächtnis und seinen Träumen wird verdrängen können.


    In der Tat, Der Skorpionsfisch ist ein derart dicht gewobenes Netz aus schönen Phantasien und aus Albträumen, aus Bewegungen, die sich in einer realen und einer poetischen Geographie vollziehen, so dass man auch noch lange nach der Lektüre, in Wach- und Nachtträumen, in diesem Universum gefangen bleibt. Der Autor hat eine oft an Bruce Chatwin und Ryszard Kapuczinski erinnernde Fähigkeit, aus jeder Begebenheit ein wunderbares Feuerwerk der Skurrilitäten und des Monströsen zu entzünden. Selbst die Ratten, die durch die Abfälle huschen, scheinen willkommen, weil gleichzeitig der Mond "mit vollen Segeln über das dunkle und glänzende Blätterwerk" fliegt; selbst das Currygericht, das seinen Bauch in Brand steckt, und das Brot, das seinen entzündeten Mund zerfleischt, starkes Fieber und andauerndes Erbrechen scheinen nur ein überhörbarer Misston in der Musik zu sein, die vom Glück handelt, reisen zu dürfen und die eigenen "Flügeldecken zum Singen zu bringen".

    Getragen von diesem Glücksgefühl, sieht er Fischer, "die vom Meeresschaum in den Himmel geschleudert wurden"; die Nacht erscheint ihm königlich, und selbst in Augenblicken größter Bedrohung erhält er sich die Gabe, sich selbst und alles um ihn herum aus Distanz, mit Humor und Sarkasmus anzuschauen:

    Die während des Tages gemachten Röntgenaufnahmen werden in ein uraltes Epidiaskop gesteckt und zu unserer Erbauung auf ein Leintuch projiziert ... Durchlöcherte Lungen, Putzfädenbronchien, von Osteoporose zerfressene Rückgrate. Wir waren alle da, ergötzten uns an der Vorrührung und sahen verwüstete Innereien und Anatomien vorbeiziehen mit 'Oh!', 'Ah!', 'Pst!', aufgeregt und zum Lachen aufgelegt wie im Kino ... Als meine wahren Luftpumpen eines Reichen erschienen, ohne viel Schatten und kaum angegriffen, gab es fast eine Ovation.

    Auch wenn Bouvier vom Fieber geschüttelt wird und die alten verwirrten Gesichter um ihn herum "aufleuchten sieht wie Bahnhöfe", er als erstes, nachdem er aus seiner Ohnmacht wieder zu Bewußtsein kommt, eine Schabe auf dem schmuddeligen Kragen des Doktors erblickt und er vor Müdigkeit den Verstand zu verlieren droht, bleibt er der souveräne Reisende, belebt jede Situation mit seiner Phantasie, seiner Sinnlichkeit und seinem Sinn fürs Makabre.

    Der Skorpionsfisch ist, äußerlich gesehen, der Bericht eines Ceylon-Aufenthalts, eines Abstechers von Indien auf diese Insel, von der der Autor sagt, sie sei ein "Aufenthaltsort der Magier, der Zauberer, der Dämonen" - und ausgefallener Insekten. In einem der letzten Kapitel (unter dem Titel "Der Gesellschafter"), einem an Kafka erinnernden Kleinod der Beschreibungskunst, erzählt Bouvier sein Zusammenleben mit einem gehörnten Käfer. Dessen Kopf erinnert ihn an die Kochkesselgestalten, die Hieronymus Bosch heimsuchten. Eines Tages fliegt der Käfer davon und hinterläßt seinem Herrn eine nicht minder geheimnisvolle Nachkommenschaft.

    ... aber ich habe keine Ahnung, an welchem Ort er seine Brut versteckt hat. Manchmal, in diesem Raum, der immer enger wird, und in meiner verlangsamten Zeit, scheint es mir, dass ich diese Mistkugel, in der Larven ausgebrütet werden, ticken höre wie eine Höllenmaschine. Ich muß hier weg, damit dieses Zimmer, dieser Wirt mit seinen Atropinaugen, diese Insel bald nur noch eine Erinnerung sein werden, bevor dieses Ding aufbricht.

    Immer wieder gelingt es Bouvier, in einem lapidaren Ton die absonderlichsten Szenarien so zu schildern, dass wir erkennen, sie spielen sich nicht auf einem anderen Stern, sondern in unmittelbarer Nähe und in uns selbst ab. Ganz nebenbei enthält dieses Buch auch bemerkenswerte poetologische Formulierungen. So kommen dem Autor manche seiner Wörter "wie ein frisch ins Stroh gelegtes Ei" vor und seine Wörter verweisen ihn blitzschnell immer wieder auf Gerüche und Echos in einer fremden Stadt. Am Ende seines Ceylon-Aufenthaltes hat er das Gefühl, dass sein Wortschatz in der Treibhaushitze blutarm geworden ist. Er fühlt sich hin- und hergeworfen wie ein Stück Holz auf See und schaut noch ein letztes Mal, bevor er die Insel verläßt, auf sein trunkenes Bestiarium aus Gliederfüßlern: Insekten, Käfern, Skorpionen, Termiten. Aus allen Spalten und Ritzen seines Zimmers ragen Zangen, Stacheln und Flügeldecken.

    Meine ganze Menagerie verabschiedete sich unruhig von mir. Auf der holländischen Anrichte spannte der Skorpionsfisch seinen giftigen Sonnenschirm in alle vier Himmelsrichtungen. Neben dem Glas drückte sich ein kleiner Krebs, rosa wie eine Wange, die Zangen zum Zeichen der Trauer. Ich ließ auf dem Tisch das Geld zurück, das ich dem Wirt schuldete, und schaute mich ein letztes Mal in dieser blauen Dachkammer um, wo ich so lange gefangen gewesen war. Sie vibrierte von einer unsagbaren Musik.

    Geisterwelt vermag Bouvier so zu schildern, dass sie als Teil unserer eigenen Seelenlandschaft erscheint. Der Skorpionsfisch und die gleichzeitig (im Lenos Verlag) erscheinende Japanische Chronik rücken einen Autor ins Blickfeld, der zu Recht (seit der Publikation seiner Reiseerzählung Die Erfahrung der Welt) im gleichen Atemzug mit Bruce Chatwin genannt wird.