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Der Soldat und sein Schüler

In seinem preisgekrönten Monumentalroman "Die französische Kunst des Krieges" spannt Alexis Janni den Bogen von den Verbrechen und Kriegen der französischen Kolonialzeit bis zum Rechtspopulismus der Gegenwart. Die moralische Erzählung wird jedoch von einer Liebesgeschichte in den Hintergrund gedrängt.

Von Ina Hartwig | 05.04.2013
    Ein Biologielehrer aus Lyon, Alexis Jenni sein Name, hat fünf Jahre lang im Stillen an einem dicken Roman geschrieben über die Verbrechen und Kriege der Kolonialzeit und deren Weiterwirken bis in die unmittelbare Gegenwart hinein. "Die französische Kunst des Krieges" heißt das Werk, ein selbstbewusster Titel, der prompt mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde im Herbst 2011 und jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt.

    Dass der renommierte Literaturpreis einen völlig unbekannten Mann traf, war schon eine Überraschung. Doch passt der Roman, der uns auf die blutigen Schauplätze von Indochina und Algerien führt, perfekt zur aktuellen politischen Lage. Nicht nur wegen des französischen Einsatzes in Mali, einer ehemaligen Kolonie von "Françafrique", sondern vor allem wegen des für die aufgeklärte französische Republik so quälenden Doppelphänomens: der gewalttätigen Aufstände jüngerer Zeit in den Banlieues, angezettelt von den Nachkommen der Kolonisierten, und der erschütternden Erfolge des Front National. Die rechtspopulistische Partei konnte beim ersten Wahlgang zur letzten Präsidentschaftswahl fast 20 Prozent der Stimmen erzielen.

    Eine Hypothese des Romans lautet, der Front National knüpfe an das überkommene Frankreichbild der Algerienfranzosen an. Das waren jene französischen Staatsbürger, die im besetzten Algerien ein gutes Leben führten und den Abzug Anfang der sechziger Jahre als Demütigung empfanden und weiterhin empfinden. Es geht also, einerseits, um die Wiederkehr des Verdrängten, wenn Alexis Jenni die Gräueltaten während der nicht zu gewinnenden Befreiungskriege in Erinnerung ruft. Trotzdem bekommt Charles de Gaulle, der Algerien in die Unabhängigkeit entließ, sein Fett weg als pathetischer Epenschreiber und alberner Rhetoriker. Wo der Roman selbst steht, ideologisch gesprochen, das ist die interessante Frage.

    Die heikelsten und daher interessantesten Figuren sind zwei ehemalige Krieger, der Berufssoldat Victorien Salagnon und sein Kamerad Mariani. Beide haben gemeinsam in Indochina und Algerien – ja, wie soll man sagen? Gekämpft klingt zu sauber; sie haben getötet, gefoltert, in Blut gebadet; sie haben ihre Seele besudelt; sie sind so sehr zugleich an das Schlachten gewöhnt wie davon verschlissen worden, dass ein Wiedereinstieg in das normale Leben nach "zwanzig Jahren Krieg" für beide unmöglich ist.

    Im Unterschied zu Victorien, der als Held aufgebaut wird, klebt Mariani am Chauvinismus älterer Tage fest. Die Araber seiner Nachbarschaft hasst er, um sich schart er kahl geschorene junge Männer, die nichts so sehr wünschen wie einmal richtig zuschlagen zu können. Sie haben sich verschanzt in einer Hochhauswohnung und spielen Krieg; die weißen Franzosen sollen wieder das Sagen haben. Warum Victorien Salagnon, der seine Frau jüdischer Abstammung liebt und der gern den Pinsel schwingt, denn das Zeichnen ist neben dem Krieg seine zweite Passion, warum also Victorien an dem Ekelpaket Mariani festhält, bleibt ein Rätsel. Eines der Rätsel, die der Roman aufgibt und nicht löst.

    Erzählt wird "Die französische Kunst des Krieges" von einem "sanftmütigen Trottel der Mittelschicht", wie der namenlose Ich-Erzähler sich selbst nennt. Und weil er ein solcher Schlaffi ist, durch den langen Frieden und Wohlstand verwöhnt, eingelullt von lauter guten Absichten, wenn auch etwas verwahrlost und zeitweise arbeitslos, fühlt er sich von den eisblauen Augen des Indochina-Veteranen Victorien angezogen. Er lernt ihn kennen in einer bescheidenen Kneipe am östlichen Rand von Lyon. Er ist gebannt von dessen Ausstrahlung, seinem Blick, dem wissenden Schweigen. Und er wird beginnen, bei Victorien Malunterricht zu nehmen. Dabei erfährt er dann, wie nebenbei, die extreme Geschichte des Soldaten im Ruhestand – und diese Geschichte schreibt er auf, als Roman im Roman.

    Victorien wohnt im selben schmucklosen Viertel wie Mariani; aber nicht geifernde Jungmänner umgeben ihn. Er lebt mit Euridice, seiner treuen Ehefrau, die er schon als blutjunger Résistant in den Wäldern des Burgund kennenlernt. Sie ist die Tochter eines Algerienfranzosen und Arztes jüdisch-griechischer Abstammung, der sich dem Widerstand gegen die Deutschen angeschlossen hatte. Seine Eurydike wird Victorien, zum Orpheus geworden, später aus der "Unterwelt" herausführen. Das ist 1961, die Kolonie Algerien liegt verwüstet und verloren da. Victorien spielt in diesem zwielichtigen Stück verschiedene Rollen: als Krieger, Künstler, Liebender. Und damit ist ein weiteres Problem des überladenen, sprachlich schlichten und oft redundanten Buchs benannt.

    Der Krieger, der in den vitalen Jahren seines Lebens wenig anderes getan hat als Menschen zu jagen im Namen der Grande Nation, ist gleichwohl von der reinsten, unschuldigsten Liebe zu Euridice erfüllt, dem Mädchen aus Bab el-Oued. Deren Schönheit – noch als ältere Frau – wird in höchsten Tönen gepriesen, der glühende Blick, das prachtvolle, inzwischen ergraute Haar; auch der Ich-Erzähler ist ganz ergriffen, als er das erste Mal ihre Hand drückt.

    Als im Rückblick der Erzählung Euridice und ihr Victorien sich in einer algerischen Sommernacht lieben, über ihnen der Sternenhimmel, haut Alexis Jenni mächtig in die Tasten seiner verbalen Hammondorgel. Gerade noch hat Victorien verdächtige Araber getötet, und jeder Araber galt dem französischen Soldaten als verdächtig, hat seine Hände beschmutzt in dem brutalen Krieg, da ist er im nächsten Moment der sanfteste Liebhaber. Das ist nicht nur schlecht empfunden, es ist auch schief gedacht.

    Denn wenn der Roman den kolonialistischen Sündenfall für den Rassismus der Gegenwart verantwortlich machen möchte, wenn der Roman behauptet, in der gegenwärtigen Situation Frankreichs gäre die "koloniale Fäulnis" weiter, dann kann ein Manichäismus, der den Krieger durch die Liebe reinwäscht, nicht überzeugen. Was Alexis Jenni, Jahrgang 1963, in den fesselndsten Passagen verfolgt, ist nicht die Unschuld, sondern der Schmutz, das Extrem, das Unkontrollierbare. "Die Kunst des Krieges ändert sich nicht", heißt es entsprechend apodiktisch. Ob er die unerträgliche Hitze Saigons oder die Übelkeit erregende Finsternis der Folterkeller Algiers schildert: In Jennis Prosa spürt man den trotzigen Willen, vom Kampf als innerem Erlebnis fasziniert zu sein. Man spürt den unter französischen Intellektuellen beliebten Ernst-Jünger-Drive.

    Wenn aber Victoriens Erlebnisse dergestalt auf den Ich-Erzähler wirken, dass dieser sich schließlich selbst in einen großen, emphatischen Liebenden verwandelt, so scheppert das Motiv erheblich: Am Anfang des Romans, der Golfkrieg von 1991 nimmt gerade seinen Lauf, liegt der Ich-Erzähler mit einer namenlosen jungen Dame im Bett, ohne dass es etwas für ihn bedeutete außer ein oberflächliches Vergnügen. Am Ende will er, dank Victorien Salagnon, ein ganz Anderer geworden sein. Die er jetzt verehrt, nennt er nur "mein Herz", es scheint nun endlich, nach einer geplatzten Ehe und diversen Affären, die ganz große Liebe zu sein. Das Buch schließt mit einem Beischlaf der Liebenden, während draußen die jüngsten Aufstände toben: "Es ging mir gut, endlich."

    Der französischen Tradition, sich als toller Liebhaber darzustellen, genügt Alexis Jenni also bestens. Der Preis ist allerdings hoch: Die klischierte Erotomanie sowie kitschige Liebesromantik, die das Grauen der Schlachtfelder umrahmen, lassen die als moralische Erzählung angelegte "Französische Kunst des Krieges" umkippen in Schmock. Die Hippies brauchten für die Botschaft noch keine 700 Seiten, ein Satz genügte: "Make love not war."

    Alexis Jenni: Die französische Kunst des Krieges.
    Roman.
    Aus dem Französischen von Uli Wittmann.
    Luchterhand Verlag, München 2012, 766 Seiten, 24,99 Euro.