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Der sozialistische Gegen-"Tatort"

1970 lief im westdeutschen Fernsehen der erste "Tatort" - auch zum empfangen in der DDR. Die Führung witterte offenbar westliche Einflussnahme und ließ den "sozialistischen Gegenwartskriminalfilm" produzieren - ein Dauerläufer, in dem "Mord" zunächst nicht stattfand. Doch die Dialogschreiber wussten sich zu helfen.

Von Hartmut Goege | 27.06.2011
    "Geschäfte mit gestohlenem Fleisch, wie ging das vor sich?" –
    "Ich hab das Fleisch aus dem Schlachthof raus geschafft und Pollesch hat's mir gegen bar abgenommen. Und dann irgendwie weiterverkauft." - "Miese Geschäftemacher!"

    Diebstahl, Einbruch oder Erpressung: Obwohl Verbrechen und Kriminalität nicht in das offizielle sozialistische Gesellschaftsbild passten, mussten die TV-Ermittler der neuen DDR-Krimiserie "Polizeiruf 110" sich seit dem 27. Juni 1971 mit ähnlichen Delikten herumschlagen wie ihre westlichen TV-Kollegen. Wenige Monate zuvor, im November 1970, war der erste "Tatort" erfolgreich auf Sendung gegangen; ein Straßenfeger auch im Arbeiter- und Bauernstaat, denn fast überall im Osten konnten ARD und ZDF empfangen werden. Die DDR-Führung unter Erich Honecker erkannte schnell die gefährliche Konkurrenz und verlangte deshalb die Schaffung eines sogenannten "sozialistischen Gegenwartskriminalfilms". Es war der Startschuss für die später beliebteste DDR-Krimiserie, die auch heute noch nostalgische Gefühle weckt.

    "Das war schon immer was besonderes!" – "Zu DDR-Zeiten hab ich das schon gerne geguckt!" - "Na ja, der West-Empfang war so schlecht, das man gar nichts anderes gucken konnte, man hätte sich die Augen verdorben!" – "Das war eigentlich die einzige Krimisendung, die man so sehen konnte!" – "Na die ganzen Kriminalfälle, wie sie so aufgelöst wurden, das fand ich schon sehr interessant" – "Da wurde dann ab und zu auch mal gezeigt, dass es Verbrechen in Deutschland gab, oder Ostdeutschland damals!"

    Sehbeteiligungen von über 50 Prozent waren keine Seltenheit. Stammten die Täter in den DDR-Krimis der 50er und 60er-Jahre noch häufig aus dem Westen, weil sie das sozialistische System sabotieren wollten, so wurden im "Polizeiruf 110" nun auch ostdeutsche Verbrecher überführt. Die waren meist Außenseiter ohne Bindung zur sozialistischen Gesellschaft, Einzelgänger, unbelehrbare Ganoven, Schausteller, Künstler oder Faulenzer:

    "Wer sagt dir, dass ich ein Arbeiter sein will? Ne, Vater, Lebenskünstler, hab ich gelernt! Rumkommen, hören, sehen und staunen. Ja, ich weiß, das passt nicht jedem ins Denkklischee. Seht, seht! Schon wieder ein verlorener Sohn! Intolerant ist das, dogmatisch, wenn du mich fragst." – "Wenn's dich glücklicher macht ..."

    Von Beginn an waren den Autoren enge Grenzen gesetzt. Das Ministerium des Inneren hatte Berateraufgaben und achtete streng auf die staatstragende Funktion der Serie. Die Polizei als hundertprozentiges Vorbild sollte ideologisch einwandfrei Gestrauchelte auf den rechten Weg führen und dem Zuschauer mit erhobenem Zeigefinger erklären, dass es sich nicht lohnt, kriminell zu werden. Die Ermittler waren moralisch unantastbar, rauchten und tranken nicht, waren korrekt gekleidet und sprachen in einem ebenso korrekten Amtsdeutsch. Polizeiruf-Regisseur Bernd Böhlich:

    "Wir haben das an der Ostsee gedreht, und Horst Krause rennt den Bootssteg entlang und während des Rennens muss er rufen: 'Genosse Oberleutnant, Genosse Oberleutnant: ein Tötungsdelikt!' Weil das Wort Mord durfte nicht gesagt werden. Und wir standen dort um die Kamera herum und haben dann immer überlegt, weil er sagte: 'Ich krieg das Wort nicht über die Lippen: Tötungsdelikt'.Wir haben das zigmal gedreht. Und er sagt: "Herrgott, warum kann ich denn nicht sagen: Genosse Leutnant, kommen Sie bitte schnell, hier ist ein Mord passiert?"

    Mord galt im real existierenden Sozialismus als Ausnahmeerscheinung und sollte auch im Film entsprechend selten vorkommen. Das allgegenwärtige Ministerium des Inneren befürchtete ein falsches Bild der DDR-Gesellschaft. Dennoch entwickelte sich die Serie und griff Konflikte auf, die bisher ausgeblendet waren. Der Mitbegründer von "Polizeiruf 110" Eberhard Görner:

    "Ich denke, diese Kriminalfilmreihe war deshalb so beliebt, weil sie Realitäten reflektiert hat, die in den anderen Medien der DDR nicht so widergespiegelt wurden. Das heißt, der 'Polizeiruf 110' war von Anfang an darauf angelegt, die Schattenseiten des real existierenden Sozialismus zu erzählen."

    Themen wie Alkoholismus, Kindesmissbrauch, Vergewaltigung und Jugendkriminalität fanden eine enorme Resonanz und wurden offen in Betrieben und Schulen diskutiert. Politisch motivierte Straftaten fanden dagegen keinen Platz. Das änderte sich erst im Jahr der Wende 1989, als auch die staatliche Kontrolle fiel. Heute gehört "Polizeiruf 110" mit bisher rund 320 Fällen neben dem Tatort zum erfolgreichen und festen Bestandteil der ARD.