Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Der Spätzünder des 19. Jahrhunderts

César Franck zählt zu einem der bedeutendsten Komponisten der französischen Instrumentalmusik des 19. Jahrhunderts. Er sollte nach dem Wunsch der Eltern ein Wunderkind sein und war am Ende ein Spätentwickler.

Von Raoul Mörchen | 26.12.2012
    Vorgestellt werden vier neue Platten: eine CD-Box mit dem kammermusikalischen Gesamtwerk von César Franck, Instrumentalmusik aus dem Herzen der Romantik. Zuerst im Salon zuhause, wurde sie immer anspruchsvoller und bereitete schließlich das Ende jener Epoche vor, der sie selbst entstammte. Die Werke von César Franck wurden eingespielt von Mitgliedern der Brüsseler Oper für das belgische Label Cypres.

    "Musik: Premier Duo concertant op.14"

    Diese Musik, man wird sie wohl kaum kennen: Ein Duo für Violine und Klavier aus der Feder des 22-jährigen César Franck, entstanden im Jahr 1844 und vermutlich im selben Jahr noch uraufgeführt vom Komponisten am Klavier und seinem Bruder Joseph, der die Geige gespielt hat – in einem der vielen vornehmen Pariser Salons jener Zeit. Es ist ein Gelegenheitswerk, dieses Duo, ein unterhaltendes, sentimentales, virtuoses Schaustück, das dem Geschmack seiner Hörer schmeichelt und darum bald vergessen war, als der Geschmack ein anderer wurde. Das Stück selbst also wird man kaum kennen, kenntlich aber ist, was es im Schilde führt: Es leiht sich zwei beliebte Melodien einer einstmals sehr erfolgreichen Oper, zelebriert sie erst auf dem einen, dann dem anderen Instrument, es weitet das Ganze aus zu einer kleinen Ouvertüre, der dann, nach einer kurzen Schrecksekunde, als sei schon alles zu Ende, eine Reihe süffiger Variationen folgt – gekrönt von einem mächtigen Finale. Eine Dramaturgie, so durchsichtig wie effektvoll.

    "Musik: Premier Duo concertant op.14"

    César Franck: Finale des Premier Duo concertant op.14. Das elegante Publikum von Paris wird Hunderte, vermutlich sogar Tausende solcher Variationen in den Salons jener Jahre gehört und gefeiert haben: Es hat große Genies erlebt wie Frederic Chopin und Franz Liszt und viele kleinere, die heute vergessen sind. Auch der Name des jungen Belgiers César Franck würde uns heute vermutlich kaum noch etwas sagen, hätte er nur Werke geschrieben wie dieses Duo. Dass es anders kam, dass Franck zum Begründer wurde einer neuen französischen Instrumentalmusik, diese erstaunliche Entwicklung verdankt sich der Beharrlichkeit eines Mannes, der erst den übermäßigen Ehrgeiz seiner Eltern stillen musste, der um jeden Preis ein Wunderkind sein sollte – und am Ende ein Spätentwickler war.

    "Musik: Trio Concertant Nr.1, 1. Satz"

    1822 kommt César Franck in Lüttich zur Welt. Mit sechs wird er als erster Schüler am neugegründeten Konservatorium der Stadt aufgenommen, sein Vater träumt von einer Karriere als Klaviervirtuose. Franck ist dreizehn, als die Eltern seinetwegen nach Paris ziehen. In der Metropole setzt er seine Studien fort, nun auch in den Fächern Kontrapunkt und Komposition. Er wird herumgereicht, bestaunt, doch Wunder wie ihn gibt es viele. Der große Durchbruch bleibt aus, irgendwann werfen die Eltern entnervt das Handtuch. Dabei soll Francks Karriere jetzt erst beginnen. In aller Ruhe und abseits der Öffentlichkeit arbeitet er weiter an sich und seiner Kunst. Die Berufung zum Organisten der Kirche Sainte Clotilde markiert 1858 den Wendepunkt. Die Kühnheit von Francks Improvisationen spricht sich herum, er wird zum Geheimtipp, umringt von einer wachsenden Schar ihm treu ergebener Studenten. Bald ist von einer richtigen Franck-Schule die Rede: Fast jeder französische Komponist wird sich am Ende des 19. Jahrhunderts auf das Vorbild des großen Wallonen beziehen.

    "Musik: Trio Concertant Nr.1"

    Die Frage der Nationalität wird oft gestellt bei César Franck. Im Grunde ist sie müßig: Der Sohn einer deutschen Mutter wird in Belgien geboren, das es damals als Nation aber noch gar nicht gab, und macht in Paris Karriere, er wird zum Neubegründer einer französischen Instrumentalmusik, obwohl seine Vorbilder Deutsche sind: Beethoven und Wagner. In den Sinn kommt die leidige Frage auch nur, weil die Gesamteinspielung von Francks Kammermusik bei Cypres nun doch einen leicht nationalen Anstrich hat: ein Komponist aus Lüttich, ein belgisches Label, ein Kulturfonds französischsprachiger Länder als Sponsor, Interpreten, die mit zwei Ausnahmen aus Brüssel stammen oder zumindest dort arbeiten: im Orchester des Opernhauses LaMonnaie. Doch schon das kundige Textheft zur CD-Box und vor allem die Aufnahmen selbst lassen nicht einmal für den Hauch von patriotischem Muff Spielraum: Hier wird – schlicht und ergreifend – in hervorragenden Interpretationen das Werk eines hervorragenden Komponisten ausgebreitet in allen Details. Von den erwähnten Anfängen in der Salonmusik, den frühen Klaviertrios, die einige überraschende formale Details bereithalten, bis zu den späten Meisterwerken wie dem Streichquartett, dem Klavierquintett und der berühmten Violinsonate.

    "Musik: Violinsonate A-Dur, 1. Satz"

    Die These vom alten César Franck als dem neuen César Franck, als einem Komponisten, der sich von seiner eigenen Geschichte befreit, um eine bessere zu erfinden, sie wird gestützt durch ein auffallendes Faktum: Im Spätwerk findet man für jede relevante Gattung klassischer Instrumentalmusik genau ein einziges Beispiel – als ob da jemand sagen wollte: "So wird es gemacht!" Der alternde Franck schreibt eine Sinfonie und ein Konzert, er schreibt ein Quartett, ein Quintett und eine Sonate. Sie alle zählen zum Besten, was in dieser Zeit komponiert wird. Harmonisch lassen diese Werke bereits die aufbrechende Moderne erahnen: Das 1889 entstandene Quartett etwa nimmt in seiner starken Chromatik kühne Wendungen von Schönbergs "Verklärter Nacht" vorweg. Franck reduziert die typische Schwerkraft der Tonalität und bringt sie zum Schweben:

    "Musik: Streichquartett, 3. Satz"

    So kompakt gebündelt wie jetzt vom Label Cypres, erlaubt die Kammermusik von César Franck eine Zeitreise durch die französische Kultur des 19. Jahrhunderts. Erstaunlich, dass die Keimzelle für Francks visionäres spätes Schaffen schon in einem Jugendwerk schlummert: 1839 schreibt der 17-Jährige ein Klaviertrio, in dem er die einzelnen Sätze thematisch miteinander verklammert. Diese Idee eines zyklischen Komponierens wird Franck perfektionieren und weiterreichen an seine vielen Schüler: Die Sonate, das Quartett, die Sinfonie als Zyklus – Franck überwindet das alte Nebeneinander verschiedener Satztypen – ohne die Mehrsätzigkeit aufzulösen. Die Spannung, die er aus diesem Kunstgriff im Innerraum seiner Musik gewinnt, ist in jeder der hier versammelten Aufnahmen präsent: am stärksten bei David Lively und Tatiana Samouil, die Francks Werke für Klavier und Violine mit enormer Energie aufladen und bei aller Wucht und Entschiedenheit reaktionsschnell die vielen Stimmungsschwankungen nachzeichnen – wenn die gerade noch auftrumpfende Musik plötzlich in Schwermut verfällt.

    "Musik: Violinsonate, 2. Satz"

    Das war das Ende des zweiten Satzes der Violinsonate von César Franck, gespielt vom Pianisten David Lively und der Geigerin Tatiana Samouil. In der Gesamteinspielung der Kammermusik von César Franck treffen wir die beiden noch in anderen Werken an: Lively unter anderem im großen Klavierquintett, Tatiana Samouil als Primaria des Quatuor Malibran. Die Box mit vier CDs, erschienen beim belgischen Label Cypres, birgt nicht nur viele Entdeckungen, sie setzt in der Intensität ihre Aufnahmen interpretatorische Maßstäbe: ein glänzendes Plädoyer für das Wunderkind, das ein Spätzünder war, ein glänzendes Plädoyer für César Franck.

    Vorgestellte CD:

    CD-Titel: Complete Chamber Music
    Interpret: Mitgliedern der Brüsseler Oper
    Komponist: César Franck
    Label: Cypres, LC 10246
    Bestellnummer: CYP4637
    EAN: 6412217046378