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Der Sprachrevolutionär

Der Autor Gerhard Rühm, als letzter aktiver Vertreter der Wiener Gruppe weithin bekannt, ist Experte für den literarischen Expressionismus. Vor Jahren hat er den vergessenen Lyriker, Journalisten und Drehbuchschreiber Franz Richard Behrens (1895-1977) wiederentdeckt und eine Werkausgabe initiiert. Jetzt sind Band drei und vier erschienen.

Von Enno Stahl | 04.03.2013
    Der Autor Gerhard Rühm, als letzter aktiver Vertreter der Wiener Gruppe weithin bekannt, ist Experte für den literarischen Expressionismus. Vor Jahren hat er den vergessenen Lyriker, Journalisten und Drehbuchschreiber Franz Richard Behrens (1895-1977) wiederentdeckt und eine Werkausgabe initiiert. Jetzt sind Band drei und vier erschienen.

    Gerhard Rühm ist ein bekannter Mann. Als Mitglied der legendären Wiener Gruppe ist er lebende Literaturgeschichte. Er ist einer der bedeutendsten Vertreter der visuellen und der konkreten Poesie, hat zahlreiche Hörspiele, Lesetexte und Wortkompositionen verfasst.

    So spielerisch experimentell, immer neue Ufer suchend, seine literarischen Aktivitäten bis heute auch sind, sie stehen durchaus in Traditionszusammenhängen. Großen Einfluss maß Rühm bestimmten Autoren der expressionistischen Moderne bei, insbesondere der so genannten "Wortkunst" des STURM-Kreises, also der abstrakten Dichtung eines August Stramms oder Otto Nebels.

    "Ich hab mich besonders intensiv immer für den Expressionismus interessiert, nicht nur ich, sondern auch schon in den Fünfziger Jahren die sogenannte Wiener Gruppe. Wir mussten ja erst einmal alles aufarbeiten, was in der Nazizeit alles verschollen bzw. als entartete Kunst verfemt war und dazu gehörte natürlich speziell auch der STURM-Expressionismus um Herwarth Walden in Berlin. Und wir haben uns damals unglaublich begeistert, bis heute muss ich sagen, für Leute wie August Stramm. Also für Artmann, für die anderen, auch für mich war Stramm der wichtigste Autor der ersten Jahrhunderthälfte."

    Wie kam es aber nun zu diesem besonderen Einsatz um das Werk Franz Richard Behrens, eines Autors, der nahezu komplett vergessen war und darüber hinaus manchen, die ihn kannten, eher nur als Epigone August Stramms galt? Zu Lebzeiten hatte Behrens nicht mehr als einen einzigen Gedichtband veröffentlicht, das Buch "Blutblüte" (1917), ansonsten nur vereinzelt in Zeitschriften. Ab 1921 stellte er seine Publikationstätigkeit ganz ein. Wie gelang es Rühm also, das Werk Behrens' überhaupt kennen zu lernen?

    "Man hat ja überhaupt gar keinen Zugang gehabt zu diesen Dingen, das war ja verschollen, die Bücher gab's nicht. Und wenn man Glück hatte, dann hat man irgendwas gefunden in einer Anthologie und wir haben's damals parat gehabt von Albert Soergel, diesem bekannten, umfangreichen Band, 'Im Banne des Expressionismus' heißt das. Da ist Stramm noch positiv beurteilt, einigermaßen. Da waren als abschreckende Beispiele in diesem Band einige Texte von Kurt Schwitters, von Franz Richard Behrens, vom Lothar Schreyer, Otto Nebel eben und Rudolf Blümner, dieser Anfang von 'Ango Laina', dieser Lautdichtung. Das hat uns schon damals sehr interessiert und ich habe dann versucht, ein bisschen mehr kennenzulernen, es sind ja wichtige Dinge von Franz Richard Behrens in der Zeitschrift 'Der Sturm' erschienen. Wir haben dann eine Nummer aufgetrieben, da war das Gedicht 'An meine deutsch-amerikanischen Freunde' drin und das hat uns damals schon sehr begeistert, weil er darin schon sehr konsequent, fast nach mathematischen Gesichtspunkten mit einer Montagetechnik arbeitet, also mehrere Texte ineinander verschränkt. "

    Was zeichnet Behrens vor anderen Expressionisten aus, dass es Sinn macht, eine Gesamtausgabe herauszubringen?

    "Ja, vor allen Dingen natürlich das, was er mit der Sprache macht. Bei ihm fällt weitgehend das expressionistische Pathos weg, und es gibt eigentlich zwei Perioden, könnte man sagen, die eine ist stärker von Stramm – also beeinflusst würde ich nicht sagen, sondern inspiriert – und die zweite, da kommen Momente der Neuen Sachlichkeit gewissermaßen rein, und das verschränkt sich auf eine außerordentlich eigenwillige und interessante Weise. Ich finde, es gibt kaum jemand, der so revolutionär mit Sprache umgegangen ist, wie Franz Richard Behrens."

    Behrens ist mit seiner Dichtung, die zwischen dadaistischer Montage und konstruktivistischer Formgebung steht, sicher ein Solitär und damit eine bedeutende Lyriker-Persönlichkeit seiner Zeit. Was aber könnte von heute aus das Rezeptionsinteresse anregen, hat er Einflüsse auf spätere Autorengenerationen gehabt, auch außerhalb der Wiener Gruppe?

    "Ich würde sagen, dass man bestimmte Dinge von ihm durchaus als Vorläufer der so genannten Konkreten Poesie bezeichnen kann. Also was bei ihm sehr interessant ist, was ja dann auch bei Schwitters eine wichtige Rolle spielt, ist das Moment des Konzepts, also das Konstruktive. Das ist eigentlich eine stark vom konstruktiven und sprachanalytischen Denken bestimmte Art von Literatur und das ist etwas, das mich natürlich persönlich sehr, sehr interessiert. "

    Der jetzt von Rühm und seiner Frau Monika Lichtenfeld herausgegebene Band zeigt wiederum ganz neue Facetten des Autors Behrens, der sich besonders in seiner späteren Zeit mehr den so genannten Gebrauchsformen der Literatur zuwandte, speziell auch gerade Drehbüchern für den Stummfilm:

    "Ich habe ja den Nachlass von ihm übernommen. Es sind tolle Sachen darin, also da hat sich noch einiges Interessante gefunden, unter anderem einige Stummfilmdrehbücher. Und eines der berühmtesten - na, eigentlich ist es das einzige berühmte drunter – ist das Drehbuch zu Hamlet. Das war dieser Stummfilm, in dem Asta Nielsen den Hamlet gespielt hat. Dieses Drehbuch ist sonst überhaupt nirgends vorhanden, ich habe das Original. "

    Rühm fasst Drehbücher, auch solche von Stummfilmen als vollgültige literarische Gattung auf, anders würde dieser Band auch keinen Sinn machen. Und tatsächlich ist es so, wie Rühm im Nachwort schreibt: Man kann diese Texte als literarische lesen, genauso wie man dies bei Theaterstücken tut. Der folgende Auszug mutet in seinem Telegrammstil durchaus an wie experimentelle Prosa, er könnte glatt von Rühms Wiener-Gruppe-Kollegen Konrad Bayer stammen:

    "74.
    In einem Restaurant
    Setzt sich Caligula wieder an den alten Tisch, wo Müller ihn erneut zum Frass animiert. Verena empört.
    75.
    Operationsraum.
    Speiseröhrenverengung.
    Caligula wird die Speiseröhre operiert.
    Eine künstliche Speiseröhre
    wird eingesetzt.
    Am Licht-Schaltbrett des Operationshauses
    schneidet Müller während der Operation das Lichtkabel durch."


    Behrens selbst hat diese Produktion von Gebrauchstexten allerdings offensichtlich weniger gewürdigt:

    "Ja, er hat sie ja ursprünglich deshalb geschrieben, um als Literat überleben zu können. Er hat sie bewusst nicht unter seinem Namen Franz Richard Behrens veröffentlicht, sondern unter dem Namen Erwin Gebhardt. Ich habe daher in den Fünfziger Jahren nicht geahnt, dass er auch Drehbücher geschrieben hat."

    Rühm ist in Besitz des umfangreichen Nachlasses Franz Richard Behrens, den er unter spannenden Bedingungen kurz vor dessen Tod noch ausfindig machen konnte, wie ergab sich das und wie kam es zur Übernahme des Nachlasses?

    " Ja, er war so glücklich, dass sich überhaupt jemand an ihn erinnert hat, er war so achtzig Jahre alt, dreiundachtzig, als ich ihn kennengelernt habe durch seinen Bruder, das war ein reiner Zufall, ich wollte in 'text + kritik' einen Band von Behrens herausbringen und zwar auf Grundlage dessen, was im Sturm-Verlag erschienen war. Das wäre ein normaler Band bei 'text + kritik' geworden, und wir haben dann eine Annonce gegeben, ob es irgendjemanden gibt, der sich an Franz Richard Behrens erinnert oder etwas mit ihm zu tun gehabt hätte, den expressionistischen Dichter Franz Richard Behrens, und da hat sich eine Bekannte seines Bruders gemeldet. Das war in Berlin, ich habe damals noch in Berlin gelebt, dadurch hat sich dann dieser Kontakt ergeben, beide haben in Ost-Berlin gelebt, und er hat mich dann zu seinem Bruder geführt und der war also beglückt, dass sich überhaupt jemand an ihn erinnerte, denn er war faktisch vergessen. Auch in dem Band, den der Paul Raabe herausgebracht hat, über Expressionismus, steht über Franz Richard Behrens: Nach 1924 gibt es keine weiteren Informationen über ihn und er gilt als verschollen. "

    Auch Autorenkollegen wie Walter Mehring, die Rühm traf, erinnerten sich zwar an Behrens, wähnten ihn aber seit Langem tot. Rühm überführte die umfangreichen Materialien Behrens' in mehreren Etappen von Ost- nach West-Berlin. 1979 erschienen – von Rühm herausgegeben – unter dem Titel "Blutbüte" die gesammelten Gedichte als Band 1 der Werkausgabe, deren zweiter Band 1995 folgte und die nun einen (vorläufigen) Abschluss gefunden hat. Denn der Nachlass enthält noch zahlreiche weitere Manuskripte und Briefe. Ursprünglich hatten Rühm/Lichtenfeld die journalistischen Arbeiten komplett veröffentlichen wollen, doch sprengte das den Umfang des Buches, so dass sie sich auf Drehbücher und Texte zum Film beschränkten. Selbst hier war noch eine Auswahl nötig. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass irgendwann ein Ergänzungsband zur vierbändigen Werkausgabe erscheint, wenn Rühm sich neben der eigenen literarischen Arbeit noch einmal dieser Aufgabe stellen mag. Für jetzt aber ist das verdienstvolle Projekt erst einmal beendet, einen sehr originellen Dichter, der zeitlebens gegen den Strom schrieb, in weiten Zügen seines Schaffens vorzustellen.

    Franz Richard Behrens: Todlob. Feldtagebuchgedichte 1915/16, Werkausgabe, Band 3, hrsg. von Michael Lentz, edition text + kritik, 122 Seiten, 24 Euro

    Franz Richard Behrens: Mein bester Freund - Hamlet. Drehbücher, Kinotexte, Filmkritiken, Werkausgabe, Band 4, hrsg. von Gerhard Rühm und Monika Lichtenfeld, edition text + kritik, 483 Seiten, 42 Euro