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Der springende Punkt ist die Menschlichkeit

Nach 15 Romanen führt Don Delillo den Leser in seinem ersten Erzählband nach Manhatten, Griechenland, die Karibik oder auch ins Weltall. Es geht um Protagonisten, denen das reine Funktionieren in der kalten Technokratie droht.

Von Martin Krumbholz | 06.02.2013
    Magnetisch angezogen wird der deutsche Leser von dem Titel: "Baader-Meinhof". Was hat der amerikanische Erzähler über den Terror im Deutschland der 70er-Jahre mitzuteilen? Don DeLillo spielt über die Bande. Er erzählt nicht von der RAF, sondern von einer New Yorker Ausstellung des berühmten Bilderzyklus von Gerhard Richter, der sich mit dem Phänomen "Baader-Meinhof" ikonografisch auseinandersetzt. Aber auch das ist nicht der Gegenstand seiner Erzählung. Ein Mann und eine Frau kommen während der Ausstellung ins Gespräch, er begleitet sie nach Hause. Sie erzählt ihm, sie habe die Bilder schon zum dritten Mal gesehen.

    "Das geht ins Geld", sagte er. "Es sei denn, Sie sind Mitglied."
    "Ich bin kein Mitglied."
    "Dann sind Sie Kunstlehrerin."
    "Ich bin keine Kunstlehrerin."
    "Sie wollen, dass ich still bin. Sei still, Bob. Nur heiße ich nicht Bob."


    Das fühlt sich merkwürdig an. Der Mann behauptet, auf der Suche nach Freundschaft zu sein. Er wiederholt diesen Wunsch wie ein Mantra.

    "Freunde sein", sagte er.

    Als sie ihn auffordert, zu gehen, tut er es nicht. Die Situation nimmt bedrohliche Züge an. Ihr Instinkt hat die Frau nicht deutlich genug gewarnt. Terror, das ist auch hier das Thema, wenn auch in einem ganz anderen, ausschließlich privaten Kontext. Wobei die Zerstörung des Privaten eben der Kern der Sache ist. Die Frau flüchtet ins Bad, traut sich aber nicht abzuschließen. Sie horcht.

    Er saß auf dem Bett und öffnete seine Gürtelschnalle. Das glaubte sie jedenfalls zu hören, wie die Spitze des Gürtels aus der Schlaufe glitt, und dann ein kleines Klicken von Dorn und Schnalle. Sie hörte den Reißverschluss, abwärts.

    Auch wenn es an dieser Stelle so aussehen mag, es geht in DeLillos Erzählung nicht so sehr um den Thrill. Auf einem der Bilder von Richter, "Beerdigung", glaubt die Frau ein Kreuz entdeckt zu haben und schließt daraus, dass darin ein Element der Vergebung aufscheine. Sie teilt es dem Mann nicht mit. Doch dieses spirituelle Moment - der Reflex von Richters Kunst - bestimmt den Charakter der Erzählung mehr als das Element äußerlicher Spannung.

    In der 1983 entstandenen Erzählung "Kleine Menschlichkeiten im Dritten Weltkrieg" lernen wir zwei Raumfahrer kennen, die sich auf einer Erdumlaufbahn befinden und das kriegerische Geschehen auf dem Planeten betrachten.

    Wir umkreisen die Erde kuscheldicht und erlauben uns tiefe Einblicke in Oberflächenaktivitäten an unbereisten Orten. Das Verbot von Atomwaffen hat die Welt sicher für den Krieg gemacht.

    Unter "kleinen Menschlichkeiten" versteht der Ich-Erzähler persönliche Gegenstände, alte Fotografien, Ohrstöpsel, und selbst seinen Kopiloten Vollmer bezeichnet er als "eine kleine Menschlichkeit" - im Grunde alles, was nicht Maschine, Waffe und Krieg ist. Der Erzähler will mit Vollmer nur über vertraute Angelegenheiten sprechen.

    Ich möchte eine Struktur aus Gemeinplätzen aufbauen. Vollmer hingegen neigt dazu, Riesenthemen anzuschneiden.Er will über den Krieg sprechen und die Waffen des Krieges. Er will globale Strategien, globale Aggressionen diskutieren. ( ... ) Er zitiert Fachleute, nennt Quellen. Was soll ich sagen? Er wird behaupten, die Leute seien enttäuscht vom Krieg. Der Krieg schleppt sich in die dritte Woche. In gewisser Weise ist er ausgelaugt, ausgespielt. Das entnimmt Vollmer den Nachrichten, die wir gelegentlich empfangen.

    Hier geht es DeLillo nicht um irgendeine Form von Satire oder Science Fiction. Eher geht es darum, marginale Utopien zu behaupten in einem kalten technokratischen Kontext, der den Menschen zur Funktion zu degradieren droht. Man könnte sagen, "kleine Menschlichkeiten" seien in jeder der neun Erzählungen der springende Punkt. Die Geschichte "Die Akrobatin aus Elfenbein", entstanden 1988, spielt nach einem Erdbeben in Athen. Kyle und Edmund, zwei Amerikaner, die in Griechenland unterrichten. Die Gefahr ist nicht überstanden, es drohen Nachbeben.

    Sie wünschte, ihr Leben wäre wieder episodisch und ohne Vorsatz. Und sie eine anonyme Fremde - samtpfotig, selbstverantwortlich, zufrieden mit Zufallsbeobachtungen. Sie wünschte, sie könnte in ihrem Arbeiterbezirk mit Großmüttern und Kindern auf der Straße Belanglosigkeiten austauschen.

    Bei der Titelfigur handelt es sich um die Nachbildung einer minoischen Elfenbeinstatuette: eine junge Frau, die im Begriff ist, im Salto über die Hörner eines angreifenden Stiers zu springen - ein in der minoischen Kunst verbreitetes Motiv. Meistens handelt es sich allerdings um einen Mann. Er packt die Hörner des Stiers und schwingt sich empor und hinüber, vom Kopfruck des Stiers geschleudert. Edmund macht Kyle die Figur zum Geschenk.
    "Das bist absolut du", sagte er. "Das musst du sein. Sind wir da einer Meinung? Sieh hin und spür nach. Das ist dein magisches, wahres Ich, in Massenproduktion." ( ... ) "Schlank und biegsam und jung", sagte er. "Mit einem pulsierenden Innenleben."

    Fast immer sucht DeLillo Brennpunkte auf, außergewöhnliche, gefährliche Situationen, aber er vermeidet den radikalen Pessimismus. Die Welt als solche entwickelt sich nicht grundsätzlich zum Guten, keineswegs, aber die Menschen in dieser fremden, kalten Welt finden häufig etwas Schönes - einen "human touch", eine kleine Menschlichkeit, einen Trost. Selbst im Gefängnis. Die Erzählung "Hammer und Sichel", 2010 geschrieben, spielt in einem amerikanischen Spezialknast für Wirtschaftskriminelle. Die Finanzkrise ist im vollen Gang, und auch Griechenland ist bereits ein Thema. Die Gefangenen unterhalten sich viel miteinander, mehr oder weniger freimütig. Es gibt einen Fernsehraum, und eines Tages erblickt der Ich-Erzähler seine beiden Töchter, zehn und zwölf Jahre alt, als Sprecherinnen in einem Börsenmarktreport für Kinder. Ihre Mutter hat sie dazu animiert. Der Erzähler verrät seinen Mitgefangenen zunächst nicht, dass es seine Töchter sind. Die Mädchen sprechen über Griechenland. Krisis und Chaos sind griechische Wörter. Sie sagen "Danke" auf Griechisch, "Efcharisto", und es klingt so:
    "F. Harry Stowe."
    "F. Harry Stowe."


    Sie sind ein eingespieltes Team, tippen die Fäuste aneinander, und in einer der Sendungen steigert sich ihre Show zu einem dadaistisch-marxistischen Spektakel, was die Insassen, diese "Endprodukte des (kapitalistischen) Systems", unmittelbar zu agitieren scheint. Was ist Geld für sie, überlegt der Erzähler.

    Geld ist ein kodierter, ideeller Impuls, eine Art diskreter Erektion, von der nur der Mann weiß, dessen Hosen in Flammen stehen.

    Diese Männer wissen, dass das, was draußen auf den Finanzmärkten geschieht, viel schlimmer und folgenreicher ist als alles, was sie in ihrem Leben verbrochen haben. Aber ihnen hat man ihr Spielzeug weggenommen, darin besteht die eigentliche Strafe.

    Wir hatten unsere Anhängsel verloren, unsere Verlängerungen, die Datensysteme, die uns speisten und reinigten. Wo war die Welt, unsere Welt? Die Laptops waren weg, die Smartphones und Lichtsensoren und Megapixel. Unsere Hände und Augen brauchten mehr, als wir ihnen jetzt geben konnten. ( ... ) Wir waren matschig, zusammengesackt. ( ... ) Es gab kleine Momente der Muße, in denen wir genau wussten, was uns fehlte. Wir saßen auf der Toilette, abgezogen, fertig, und starrten unsere leeren Hände an.

    Als der Ich-Erzähler einem anderen Insassen verraten hat, dass es sich bei den Mädchen im Fernsehen um seine Töchter handelt, kommt dieser auf die Idee, die Ex-Frau des Erzählers könnte die Mädchen benutzen, um ihn zu agitieren. Das ist durchaus möglich. Der Mann im Knast - niedrigste Sicherheitsstufe - könnte angesichts kollabierender Märkte eine Lektion gebrauchen. Wie alle Erzählungen in diesem großartigen und spannenden Band hat auch diese einen offenen Schluss. Es gibt keine endgültigen Antworten.

    Don DeLillo:
    Der Engel Esmeralda. Neun Erzählungen. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Kiepenheuer & Witsch, 248 S., 18,99 Euro