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Der Steiger geht
Über den Strukturwandel im Ruhrgebiet

200 Jahre Industriegeschichte gehen zu Ende, wenn 2018 die letzte Steinkohle-Zeche im Ruhrgebiet schließt. Der Journalist Gerhard Spörl blickt auf diese zwei Jahrhunderte und auf den Strukturwandel in seinem Buch "Groß denken, groß handeln - Wandel, Bruch, Umbruch: Wie das Ruhrgebiet sich neu erfindet".

Von Moritz Küpper | 25.09.2017
    Zeche Prosper-Haniel in Bottrop
    In der Zeche Prosper-Haniel in Bottrop gehen 2018 die Lichter aus. (Deutschlandradio/Jörg Stroisch)
    An Bildern, Tönen, Eindrücken mangelt es dem Ruhrgebiet wirklich nicht.
    "Hey, Du da."
    "Kohle kommt."
    Das Steigerlied der Bergleute, die prasselnde Kohle, die direkte Art, wie in Adolf Winkelmanns jüngstem Film "Junges Licht", eine Ode an den Bergmann, an das Revier, an eine ganze Region. Doch: Dieses Ruhrgebiet gibt es nicht mehr - es endet, spätestens am 31. Dezember nächsten Jahres.
    "200 Jahre Industriegeschichte gehen zu Ende."
    Gerhard Spörl hat über zwei Jahrzehnte für das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" gearbeitet, war US-Korrespondent, Ressortleiter Ausland.
    "Prosper-Haniel, das modernste und eindrucksvollste Bergwerk wird geschlossen. Der deutsche Steinkohlebergbau geht zu Ende. Die Arbeitsgesellschaft, die das Ruhrgebiet einmal gewesen ist, gibt es in dieser Form schon lange nicht mehr, trotzdem ist das Ruhrgebiet immer stark subventioniert worden, von der Bundesregierung, von der Landesregierung. All das läuft aus und damit wird das Ruhrgebiet auch in eine andere historische Etappe eintreten."
    Nun hat Spörl ein Buch geschrieben: "Groß denken, groß handeln - Wandel, Bruch, Umbruch: Wie das Ruhrgebiet sich neu erfindet", heißt es. Und Spörl, in Oberfranken geboren, war dieser von Umbrüchen geprägte Landstrich eigentlich vollkommen fremd. Aber:
    "Der Blick von außen, kann ja produktiv sein, der Blick von innen lässt vielleicht die nötige Verwunderung weg. Und lässt damit auch die nötigen Fragen weg."
    Das Erbe des Steinkohle-Tagebaus
    Über ein Jahr lang tauchte Spörl ein, fuhr durchs Ruhrgebiet, sprach mit professionellen Geschichtenerzählern, wie eben Regisseur Winkelmann, aber auch mit Politikern in Düsseldorf und Berlin, Wirtschaftsbossen, Fußball-Managern - und lernte verstehen:
    "Als ich zum ersten Mal gehört habe, das Wort Ewigkeitsschäden, habe ich gedacht: Ewigkeitsschäden, was ist das denn wohl? Weil ich sofort fasziniert war als politischer Redakteur, Ewigkeit und Demokratie. Ewigkeit ist in der Theologie angesiedelt, Demokratie ist auf Zeit und nicht auf Ewigkeit. Und dann habe ich langsam verstanden, dass damit das Wasser gemeint ist, das für immer und ewig da in die aufgegebenen Bergwerke hinuntersickert und bis zu einer gewissen Höhe ansteigen darf und dann muss es weggepumpt werden. Ich habe auch verstanden, dass es das Ruhrgebiet zweimal gibt: Einmal oben, einmal unten."
    So entstand ein Buch, das die Entwicklung des Ruhrgebiets seit 1945 erzählt, nachvollziehbar macht.
    "Im 19. Jahrhundert, als Staat und Markt noch wenig ausdifferenzierte Sphären waren, als sie im vorindustriellen Zeitalter noch viel stärker nebeneinander bestanden und der Kapitalismus noch gering ausgeformt war, da ging der Fortschritt von Familien aus. So war es im Ruhrgebiet, aber keineswegs nur dort, auch in Frankreich oder Italien prägten Familiengeschlechter Markt und Politik: Kapitalismus war oft Familienkapitalismus."
    Krupp, Stinnes, Haniel, Thyssen, Huyssen, Grillo. Das sind die Namen dieser Zeit - die teilweise bis heute fortbestehen - und die auch das Ruhrgebiet prägten. Spörl beschreibt deren Aufstieg und ihren Einfluss, zeichnet nach, wie die SPD das Revier für sich gewinnen konnte - und nun wieder verliert. Vor allem aber erklärt er die Weichenstellung der jüngeren Zeit, der Zeit nach der Kohle.
    Die Sonderstellung des Ruhrgebiets in NRW
    Es sind große Linien, die Spörl in vier großen Abschnitten und 43 Unterkapiteln entwirrt, nachzeichnet und die jeweiligen Auswirkungen analysiert. Gerade im Ruhrgebiet, in dem, wie vielleicht nirgendwo sonst in Deutschland, Wirtschaft und Politik ineinander übergehen. Dabei ist Spörls Vorgehensweise nicht chronologisch:
    "Ich habe immer versucht in der Gegenwart anzufangen. Zum Beispiel ein Kapitel, wie das Ruhrgebiet entstanden ist. Diese 'Operation Marriage' der britischen Besatzungsmacht. Das hat mir Jürgen Rüttgers erzählt."
    "Nordrhein-westfälische Ministerpräsidenten machen für gewöhnlich zu Beginn ihrer Amtszeit einen Abstecher nach London. Dorthin gibt es gute Verbindungen, nach wie vor. Die Briten waren nach dem Zweiten Weltkrieg die militärische Besatzungsmacht im Nordwesten Deutschlands und haben Spuren hinterlassen. Bei seinem Antrittsbesuch in London bat Jürgen Rüttgers um einen Gefallen. In den National Archives lagern die Akten der britischen Militärverwaltung. Dazu gehört 'Operation Marriage', das Dokument, das die Gründung Nordrhein-Westfalens besiegelte. Er wollte es in seinen Händen halten. Er wollte wissen, wie es eigentlich zu dieser Gründung gekommen war. Die Briten gewährten ihm den Gefallen. Die Akte war aus grobem Papier, fast so stark wie Karton. Sie bestand aus zwei Deckeln mit Löchern, von Wollfäden zusammengehalten."
    Die Protagonisten nehmen viel Raum ein
    Die großen Linien, runter zu brechen in kleine Geschichten, aus der Gegenwart erzählt. Es ist diese anekdotische Erzählweise, die Spörls Buch gut lesbar machen. Und die Tatsache, dass er starke Protagonisten gefunden hat - und beschreibt. Wie die Fürstäbtissin des Essener Hochstiftes und die Witwe Helene Amalie Krupp, wie den CDU-Politiker Paul Mikat, den Kultusminister der 60er-Jahre mit seinen unorthodoxen Ideen, wie das Duo aus Stadtplaner Karl Ganser und Christoph Zöpel, den NRW-Landesminister für Stadtentwicklung. Und vor allem, Werner Müller.
    "Werner Müller ist ein aus der Zeit gefallener Mensch. Weder besitzt er ein Handy, noch nennt er einen Laptop sein Eigen. Er trägt vorzugsweise Dreiteiler (wie Paul Mikat), redet halblaut mit sonorer Stimme und pflegt eine geschliffene Sprache. Man muss schon genau hinhören, was er sagt, denn er sagt selten direkt, was er meint, sondern versteckt die Botschaften in kleinen Erzählungen und Schmonzetten, denen man gerne zuhört und über die man herzhaft lacht. Wenn man dann im Archiv blättert, bemerkt man, dass er sie auch schon anderen Journalisten erzählt hat."
    Mehr als die Hälfte der knapp 300 Seiten beschäftigen sich mit Müller, seiner Biographie, aber vor allem auch seiner unternehmerischen, wirtschaftspolitischen Idee, einen weißen, lukrativen Teil zu schaffen, die heutige Evonik AG, mit dessen Erlösen über die RAG-Stiftung eben die Ewigkeitskosten des Bergbaus bezahlt werden sollen. Und es war auch dieses Umfeld, aus dem die Idee, der Auftrag für das Buch kam, wie Autor Spörl offen einräumt:
    "Meine einzige Bedingung, die ich dabei gestellt habe, war: Freiheit. Freiheit in der Recherche und Freiheit im Schreiben. Und beides hatte ich."
    Dennoch sollte man dies wissen, wenn man das Buch liest. Und die Lektüre hilft, die Prozesse im und um das Ruhrgebiet besser zu verstehen. Erst recht vor dem für die Region geschichtsträchtigen Jahr 2018.
    Gerhard Spörl: Groß denken, groß handeln - Wandel, Bruch, Umbruch: Wie das Ruhrgebiet sich neu erfindet.
    Piper-Verlag, 287 Seiten, 22 Euro.