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Der Sturz der Zwillinge

Das Licht geht aus und wieder an. Die Glühbirnen beginnen zu flackern wie Lämpchen in einer Disco. Dann ist schwarze Nacht. Meine Kinder schreien vor Verzweiflung in der Dunkelheit. Jetzt sind wir wirklich in der Hölle. Ich habe keine Wahl mehr. Entweder wir warten, bis wir hier krepieren, oder wir gehen wieder ins Restaurant hinunter. Ich zögere nicht lange, es ist zu schrecklich, einfach auszuharren. "Kommt, Schätzchen, lasst uns runtergehen." Jetzt weinen sie noch mehr (…)Lourdes will lieber hier bleiben. Wir umarmen sie lange. Sie nimmt ihren Windows on the World-Pin ab und reicht ihn mir wie eine Reliquie. "Wir sehen uns wieder, hier oder woanders."

Von Elke Biesel | 04.05.2004
    Es war nur eine Frage der Zeit und niemand konnte ernstlich daran zweifeln, dass die Katastrophe des 11. September 2001 eines Tages auch Gegenstand literarischer Fiktion werden würde. Menschen rund um den Globus haben den Einsturz der Türme des World Trade Centers gesehen, Tausende von Artikeln und Essays sind über die bislang grausamste Attacke auf den modernen Okzident erschienen. Aber über die letzten Minuten der Opfer, die in den obersten Stockwerken gefangen waren, gibt es bis auf wenige E-Mail-Nachrichten und Telefonate keine Dokumente.

    In diese Lücke stößt der französische Autor Frédéric Beigbeder mit seinem Roman "Windows on the World". Beigbeder, der mit stark autobiographisch geprägten Werken debütierte und Michel Houellebecq zu seinen Vorbildern zählt, erfindet sein Alterego Carthew Yorston. Ein erfolgreicher Immobilienmakler, der seinen beiden von ihm getrennt lebenden Söhnen etwas Besonderes bieten will und sie mitnimmt zu einem Frühstück über den Wolken. Dort, im edlen Restaurant Windows on the World , erleben die drei die Katastrophe. Beigbeder:

    Zwei Jahre lang habe ich alles gelesen, was es zu diesem Thema gab und mich schon gefragt, was mit mir los ist, warum mich gerade dieses Ereignis so anzieht und ob diese Faszination nicht ein bisschen krankhaft ist . Vielleicht hat sie ja auch etwas Morbides. (…) Andererseits glaube ich, dass man die Wahl hat: Man kann sich entscheiden, nicht hinzuschauen, nicht wissen zu wollen, aber es gibt auch gute Gründe dafür, es zu versuchen. Was mich umtreibt, ist dieser Ausbruch extremer Gewalt an einem Ort vollkommener Geborgenheit. Das "Windows on the World" war ein Ort des Luxus, komfortabel, strahlend, künstlich – ein wattierter Kokon. Diese plötzliche Aggression an so einem Ort fasziniert mich.

    Die große Kunst einer gelungenen Fiktion ist es, eine andere Wahrheit zu erzählen als die der Fakten und Zahlen, eine Wahrheit, die den Leser berührt weil sie zum Kern menschlicher Erfahrung vorstößt. Frédéric Beigbeder traut jedoch seiner Imagination, die er hier erstmals bewusst als Stilmittel verwendet, nicht weit genug über den Weg. Neben der Erzählperspektive von Carthew und seinen Söhnen bringt er deshalb sich selbst als Autor ins Spiel.

    Dieser zweite Erzählstrang erlaubt es Beigbeder die Opferperspektive zu verlassen und persönliche Erinnerungen einzuflechten: An seine Eltern, die in den USA studiert haben, an seine texanische Großmutter, an den eigenen Besuch im Windows on the World als versnobter Jugendlicher. Dabei gerät der Autor ins Räsonnieren – über die Auswirkungen des 11. September auf die westliche Welt - so wie es schon viele vor ihm getan haben. Er selbst, Frédéric Beigbeder, gerät dabei immer stärker in den Mittelpunkt des Buches. Einen bizarren Höhepunkt findet diese Ich-Bezogenheit in einer seitenlangen Selbstanklage:

    Ich klage mich an, ein krankhafter Verführer zu sein. Ich klage mich an, ein Park-Avenue-Linker zu sein. Ich klage mich an, neidisch und frustriert zu sein. Ich klage mich an, Aufrichtigkeit zu heucheln.
    Viele Menschen hatten nach dem 11. September das Bedürfnis, Bilanz zu ziehen. Was hätte ich getan, wenn ich nur noch eine Stunde zu leben gehabt hätte? Wäre ich zufrieden gewesen mit meinem Leben? Hätte ich das Leben gehabt, das ich wollte? Weiß ich wirklich, was ich will? (…) Ich klage mich an, aber das ist vor allem eine Möglichkeit, mich zu fragen, wonach ich suche. Im Grunde ist es ein Buch, das die Geschichte eines Typen erzählt, der einen Grund sucht, um noch hoffen zu können, der zum ersten Mal in seinem Leben nach einem Sinn sucht und ihn tatsächlich findet, denn es gibt doch ein optimistisches Ende.


    Der Schock des 11. September hat den bekennenden Zyniker Beigbeder auf die Suche nach den Utopien geschickt. Und er findet sie in so alten Werten wie der Liebe, der Kunst, den Kindern und immerhin einer politischen Idee, dem – wie er selbst sagt – absurden aber schönen Projekt einer Weltregierung. Bei so viel neuem Optimismus hat Beigbeder wenig Verständnis für die kritischen Anfragen an seinen Roman. Leichenfledderei und emotionale Ausbeutung sind ihm vorgeworfen worden, doch da ist der Autor ganz anderer Meinung:

    Das ist ein Ereignis unserer Zeit, wir müssen es anschauen, es beschreiben, es in all seinen Facetten analysieren – auch mit den Mitteln des Romans. Es hat Theaterstücke über den 11. September gegeben, Schallplatten, Filme. Niemand hat die Autoren beschuldigt, die Katastrophe für ihre Zwecke ausgenutzt zu haben. Ich verstehe nicht, warum diese Anschuldigung allein für mich reserviert sein sollte.

    Er habe der Katastrophe, die ihm in ihrer medialen Vermittlung zu glatt erscheine, ein menschliches Gesicht geben wollen, sagt Beigbeder. Und das schließe die Beschreibung der Angst, der Panik, der Hitze und des Anblicks der Toten mit ein.

    Dass ein Roman reale Begebenheiten aufgreift und sie fiktional verwertet, ist in der Tat nichts Neues, sondern vielmehr ein traditionelles Muster des Genres. Nicht darin liegt die Anfrage an Beigbeders Buch, sondern vielmehr in seiner literarischen Umsetzung. Als Autor lässt er sich zu wenig auf seine Figuren ein. Die Situationen in denen Beigbeder sie zeigt, wirken bisweilen wie ausgedacht, besonders die inneren Monologe der Kinder können nur selten überzeugen.

    Für die schnoddrig-provokanten Sprache seiner vorhergehenden Bücher hat Beigbeder auch in diesem Roman keine Variation gefunden, und seinem Thema tut diese Sprache nicht gut. Sie verweist nur immer wieder auf das Beigbedersche Ego, um das alles kreist.
    Er habe Grenzen ausloten wollen, sagt der Autor, doch er hat wohl nicht genug gewagt, nicht genug eingesetzt, um diese Gratwanderung für sich entscheiden zu können. Vielleicht vermag tatsächlich nur die Imagination das Andenken der Toten auf Dauer zu bewahren, aber sie müsste wohl behutsamer und klüger in diese dunkle, schreiend-stille Welt vordringen.
    Frédéric Beigbeder
    Windows on the World
    Ullstein, 351 S., EUR 22,-