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Der syrische Philosoph Al-Azm
Die Regierung muss säkular sein

Der Krieg in Syrien, aber nicht nur dort, sei vielleicht ein notwendiger Prozess, sagt der syrische Philosoph Sadiq al-Azm über die Konflikte im Nahen Osten. Irgendwann, so seine Hoffnung, würden Sunniten, Schiiten und Kurden einsehen, dass nur ein säkularer Staat Frieden bringen könne.

Von Henry Bernhard | 27.08.2015
    Drei Männer laufen über Schutt auf dem Marktplatz in Duma, Syrien
    Der Krieg hat Syrien verwüstet. Es sei absehbar gewesen, sagt der Philosoph Sadiq al-Azm. (AFP / Sameer al-Doumy)
    Dem Islam fehlt, um den Schritt in die Moderne gehen zu können, der Prozess der Aufklärung, der Schritt aus der "selbstgewählten Unmündigkeit". Es gibt wenige muslimische Intellektuelle, die bereit sind, diesen Schritt zu gehen. Sadiq al-Azm denkt schon seit Jahrzehnten radikal, trennt die Sphären von Wissen und Glauben und geht äußerst kritisch mit den islamischen und arabischen Staaten um, nicht zuletzt mit seinem Heimatland Syrien. Der Bürgerkrieg habe sich schon länger am Horizont abgezeichnet, meint er. "Wenn man zu Beginn dieses Jahrhunderts durch die Straßen von Damaskus ging, dann hat man überall gehört, dass es nur eines Streichholzes, eines Knallers, eines Funkens bedarf, um alles in die Luft gehen zu lassen. Und so kam es auch."
    Auch angesichts der schrecklichen Bilder aus seiner Heimat Syrien, angesichts der fast überall gescheiterten Arabellion sieht der an Marx und Kant geschulte Philosoph Sadiq al-Azm einen notwendigen Prozess ablaufen. "Viele Syrer sind sehr stolz darauf, dass das syrische Volk sich nicht alles mehr gefallen lässt. Die beste historische Analogie zum Bürgerkrieg in Syrien liegt für mich im Ungarnaufstand 1956 gegen die stalinistische Unterdrückung. Und wie die Sowjets und die ungarischen Kommunisten nichts gelernt und nur mit weiterer Unterdrückung reagiert haben, so macht es das syrische Regime heute. Einfach weiter so!"
    Zukunft könnte ein urbaner Islam sein
    Sadiq al-Azm sieht die meisten arabischen Völker in einer Zwickmühle zwischen totalitären, gewalttätigen Regimes und ebenso totalitären, gutbewaffneten religiösen Fanatikern. Dazwischen hätten während des arabischen Frühlings in den Metropolen Zivilgesellschaften Fuß gefasst, wenn auch nur schwach und mittlerweile ohnmächtig. "All die Rufe, Forderungen, Mottos, die auf dem Tahrir-Platz in Kairo hauptsächlich von Moslems geäußert wurden, waren typische Werte der Zivilgesellschaft: Freiheit, Rechte, Würde, Integrität, Demokratie, Transparenz, Gleichheit und so weiter."
    Nur mit einer Zivilgesellschaft, die noch Zeit brauche, nur mit einem zivilen, urbanen Islam sieht er eine Zukunft jenseits der Agonie, der Unterentwicklung, des Terrors. Beispiel Irak: "Kurden, Schiiten und Sunniten bekämpfen sich. Es erscheint vernünftig, dass sie eines Tages einsehen, dass die Regierung nicht kurdisch, sunnitisch oder schiitisch sein kann, sondern säkular sein muss, technokratisch - jedenfalls neutral gegenüber der schiitischen, der kurdischen, der sunnitischen Loyalität. Auch Europa hat das irgendwann begriffen und mit dem Westfälischen Frieden besiegelt. Und die Geschichte arbeitet!"
    Dies würde allerdings nur funktionieren, wenn sich die multiethnischen und multireligiösen Staaten nicht vorher auflösten. Trotz aller schrecklichen Nachrichten aber hofft Sadiq al-Azm als Syrer, dass sein Volk weiter bestehen wird. "It’s the will to continue to live, for your community to go on rather than disintegrate." Und als Philosoph und Kant-Spezialist sagt er, dass es manchmal sinnvoller sei, auch gegen die Vernunft zu glauben. "There is something Kantian in this: Some things although the do not stand to reason, it’s still better to believe them rather than not, or to act on them!"