Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Der Tag, der Schweden erschütterte

Viele Schweden jenseits der 40 wissen noch genau, was sie am 28. Februar 1986 gemacht haben. Es ist der Tag, an dem Olof Palme erschossen wurde. Zum 25. Todestag hat der Journalist Henrik Berggren eine Biografie über den schwedischen Ministerpräsidenten geschrieben.

Von Marc-Christoph Wagner | 28.02.2011
    Es war ein Schock, der die schwedische Gesellschaft ereilte. Am späten Abend des 28. Februar 1986 wurde Ministerpräsident Olof Palme, der sich zusammen mit seiner Frau nach einem Kinobesuch auf dem Heimweg befand, auf offener Straße erschossen. Henrik Berggren beschreibt das Gefühl, das damals das gesamte Land ergriff:

    "Am Sonntagabend – 48 Stunden nach dem Mord − wurde in der Göteborger Innenstadt eine Trauerfeier abgehalten. Vierzigtausend Menschen gingen mit Fackeln in den Händen auf der breiten Prachtstraße der Stadt, der Kungsportsavenyn, zum Götaplatz. Zum ersten Mal in meinem Leben erlebte ich die Kraft der nationalen Zusammengehörigkeit, das Gefühl, mit anderen Menschen in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden zu sein. Ich betrachtete die Leute um mich herum − den Arbeiter mit Schirmmütze, die Punkerin, den jungen Einwanderer, das gut gekleidete Ehepaar mittleren Alters – und fühlte mich ihnen allen verbunden. Es spielte keine Rolle, woher wir kamen, zu welchen Göttern wir beteten oder welcher Ideologie wir anhingen. Wir hatten einen Verlust erlitten, der uns vereinte."

    Der gewaltsame und bis heute nicht aufgeklärte Tod, so reflektiert Berggren in der Einleitung seines Buches, ergriff dann auch Besitz vom Leben Olof Palmes, überschattete seine Biografie und verhinderte eine sachlich-kritische Auseinandersetzung mit der Lebensleistung dieses ungewöhnlichen Politikers. Ein Gedanke, der bei Berggren vor genau fünf Jahren zu dem Entschluss führt, sich dieses Themas anzunehmen:

    "Palme hatte eine enorme Kraft und ein unglaubliches Tempo – und war eine sehr faszinierende Persönlichkeit. Als er 1982 zurück an die Macht kommt, ist er 55 Jahre alt – aber blickt bereits auf eine 30-jährige Karriere zurück. Er hatte Churchill getroffen, die herausragenden Politiker der 50er-Jahre, war anwesend auf Kennedys Beerdigung und hatte engen Kontakt zu Henry Kissinger. Kein anderer Politiker hatte ein so langes politisches Leben."

    Olof Palme wird 1927 in Stockholm als Sohn einer großbürgerlichen Familie geboren, wo er im mondänen Stadtteil Östermalm behütet aufwächst:

    "Die weit verzweigte Familie Palme hatte Bedienstete und Gouvernanten, einen Herrensitz in Sörmland mit achtzehn Zimmern und Meerblick, ein Auto mit Chauffeur. Man reiste regelmäßig ins Ausland, und die Kinder besuchten Privatschulen. Alles in allem lebten sie durchaus auf großem Fuß. Selbst mit dem Maß der direkten vornehmen Umgebung gemessen, war das gesellschaftliche Leben in der Östermalmsgatan 36 grandios. Bei Abendeinladungen und Soirées war die Wohnung von Königlichen Hoheiten, Freiherren, Direktoren, Generälen, Professoren, Gutsbesitzern, Botschaftern und manchmal auch berühmten Künstlern bevölkert. Die Weine waren direkt aus Frankreich importiert, der Whiskey stammte vom eigenen Lieferanten in Schottland, und die Speisekarten waren auf Französisch abgefasst."

    Trotz der großbürgerlichen Herkunft engagiert sich Palme politisch für die Sozialdemokratie. Mit nur 26 Jahren wird der studierte Jurist Sekretär des legendären schwedischen Ministerpräsidenten Tage Erlander. In den 1960er-Jahren übernimmt er verschiedene Ministerposten, zuletzt das Bildungsressort. Als sich Erlander 1969 aus der Politik zurückzieht, erbt Palme von seinem Ziehvater sowohl den Parteivorsitz als auch den Posten des Regierungschefs.

    "Die Frage, warum wir auf der Welt sind, kann ich im metaphysischen Sinne natürlich nicht beantworten. Aber lassen sie mich Folgendes festhalten: Da wir nun einmal auf der Welt sind, und das ist ja eine Tatsache, müssen wir uns bemühen, das Dasein so anständig wie möglich zu gestalten. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir gemeinsame Werte – Werte wie Gleichheit. Das ist schlicht und ergreifend das Fundament meiner politischen Ideologie. Das ist es, worum es in der Politik geht."

    Dieses Selbstbild – formuliert in einem Interview mit der BBC wenige Wochen, bevor Palme 1969 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde – ist entscheidend für das Verständnis seiner politischen Biografie. Innenpolitisch sucht Palme Gleichheit und Freiheit miteinander zu vereinen, baut etwa die Kinderbetreuung systematisch aus, um den Frauen eigene Berufschancen zu ermöglichen und die Abhängigkeit vom überlieferten Familienstrukturen zu mindern. Aber auch außenpolitisch tritt Palme immer wieder hervor – etwa als scharfer Kritiker des Vietnamkrieges oder – zu Beginn der 1980er-Jahre – des Wettrüstens. Vor diesem Hintergrund ist auch Palmes eindringliche Verurteilung der sowjetischen Invasion in Afghanistan zu verstehen:

    "Dieses Vorgehen ist eine brutale Aggression, ein flagranter Bruch des Rechts jeder Nation, über sich selbst zu bestimmen, es ist ein Bruch des Völkerrechts. Niemals lässt sich das militärische Eingreifen in die inneren Angelegenheiten einer anderen Nation rechtfertigen. Dieses Handeln wird die andere Supermacht dazu bringen, aufzurüsten und ihre militärische Präsenz in einem Teil der Welt zu verstärken, in dem die USA bisher keine Militärbasen unterhielten."

    Palme schafft, was vor ihm kein Politiker der kleinen skandinavischen Staaten erreicht hat – er wird als Stimme im Konzert der Weltpolitik wahrgenommen. 1982 – als die Auseinandersetzung über den NATO-Doppelbeschluss ihren Höhepunkt erreicht – formuliert die Palme-Kommission die Vision eines kernwaffenfreien Europas, Palme selbst engagiert sich als UNO-Vermittler im Krieg zwischen dem Iran und dem Irak. Sein Engagement für Frieden und Abrüstung bringt Palme – wie zuvor seinem politischen Freund Willy Brandt – den Respekt, ja die Bewunderung vieler Intellektueller ein.

    "Viele haben Palme als Intellektuellen gesehen – auch weil er rhetorisch ungemein begabt war. Doch Palme war Politiker und zwar ein zum Teil kaltblütiger und ungemein pragmatischer, der Resultate erreichen wollte. Für mich war dies eine Faszination beim Schreiben des Buches – das Handwerk der Politik so explizit zu erleben. Palme selbst war dieser Balancegang bewusst, er war Teil seiner Identität. Er bewunderte Poeten, Schriftsteller, Kritiker, Leute, die Utopien formulieren, aber er selbst verstand sich als Politiker, der die Ideen in die Wirklichkeit überführt – eine Wirklichkeit, die immer auch schmutzig ist."

    Just das ist die enorme Leistung dieser Biografie. Sie bringt den Menschen, nicht den Märtyrer ins Licht zurück, zu dem Palme nach seiner Ermordung gemacht wurde. Das Buch zeigt Stärken und Schwächen eines ungewöhnlichen Mannes, vielmehr noch, es verankert seinen politischen Werdegang in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Henrik Berggren, dem schwedischen Historiker und Journalisten, ist mit diesem Band die faszinierende Bilanz eines faszinierenden Lebens gelungen.


    Marc-Christoph Wagner: "Henrik Berggren: Olof Palme – Vor uns liegen wunderbare Tage. Die Biographie."btb Verlag, 720 Seiten, Euro 26,99, ISBN 978-3-442-75268-3