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Der Terror von Paris
"Frankreich ist ein Vielvölkerstaat"

Nach dem Terror von Paris erwartet Henri Menudier eine Debatte über die Rolle der Muslime in Frankreich. Diese müsse mit Weitsicht geführt werden, sagte der französische Politikwissenschaftler im DLF – und nicht mit dem "Populismus Marie Le Pens". Diese schüre Fremdenfeindlichkeit.

Henri Menudier im Gespräch mit Jürgen Liminski | 09.01.2015
    Menschen halten Schilder hoch, auf denen "Je suis Charlie" steht.
    Im ganz Frankreich solidarisierten sich Menschen mit den Opfern des Attentats auf das Satire-Magazin Charlie Hebdo. (imago/Haytham Pictures)
    Die "überzogenen Thesen" der Vorsitzenden der Front National (FN) seien ein Grund dafür, warum die Teilnahme der FN an dem Trauermarsch am Sonntag in Paris von den anderen Parteien abgelehnt werde. Frankreich sei ein Vielvölkerstaat, betonte der Politologe von der Universität Sorbonne in Paris. Er hoffe, "dass von den Anschlägen auch die Franzosen profitieren werden" und "unsere innere Freiheit größer wird". Die Bevölkerung habe sich in den vergangenen Tagen solidarisch gezeigt und damit ihr Verständnis dafür gezeigt, "dass die Grundwerte der Republik verteidigt werden müssen".
    Aber auch die Terroristen selbst profitieren laut Menudier von den Anschlägen. "Sie konnten feststellen, dass sie ein Land durcheinander bringen können." Mit wenigen Terrorakten hätten sie weltweite Resonanz erzeugt, die man mit der nach dem 11. September 2001 vergleichen könne. "Eine bessere Publicity konnten sie nicht haben."

    Das Interview in voller Länge:
    Jürgen Liminski: Die Satirezeitung "Charlie Hebdo" hat die Hälfte ihrer Redaktion im Kugelhagel der Terroristen verloren. Dennoch will der Rest - er nennt sich "Die Redaktion der Überlebenden" - weitermachen und am kommenden Mittwoch, dem üblichen Erscheinungstag, soll auch die nächste Nummer erscheinen, aber nicht mit der gewohnten Auflage von 60.000, sondern von einer Million Exemplaren. Dabei wird der Redaktion von Kollegen anderer Zeitungen geholfen, denn die Redaktion der Überlebenden könnte es allein nicht stemmen, sie steht noch unter Schock. Einer der Überlebenden, Laurent Léger, war Zeuge des Massakers in den Redaktionsräumen.
    Mitgehört hat der Politologe von der Sorbonne, Professor Henri Ménudier. Er hat natürlich auch die ganzen Tage über die Medien das Drama verfolgt. Mit ihm wollen wir über die politischen Folgen sprechen. Guten Abend, Herr Ménudier.
    Henri Ménudier: Guten Abend!
    Liminski: Herr Ménudier, am Sonntag findet der Marsch der Solidarität oder der nationalen Einheit statt. Ist das jetzt eine Art Burgfrieden unter den Parteien? Gehen wirklich alle mit?
    Ménudier: Ich glaube nicht, dass es einen Burgfrieden geben wird. Es wird nur, ich würde sagen, zunächst mal einen Teilburgfrieden geben, denn man hätte hoffen können, dass alle Parteien mitmachen würden. Das scheint nicht der Fall zu sein. Es gibt eine große Auseinandersetzung wegen Front National, wegen der extremen Rechten, die wahrscheinlich nicht mitmachen wird. Also Teilburgfrieden und es ist auch zu befürchten, dass dieser Burgfrieden zeitlich begrenzt wird, denn nach ein paar Tagen werden wohl die politischen Auseinandersetzungen wieder anfangen zu fragen wie über Immigration, Terrorismus, Sicherheit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese grundsätzlichen Fragen, die jetzt noch bedeutender geworden sind, dass sie nicht neue Kontroversen ernähren werden.
    Liminski: Schließt sich der Front National selbst aus, oder wird er ausgeschlossen?
    Ménudier: Ich glaube, der ist ausgeschlossen worden, weil das war nicht unbedingt der Wille von Francois Hollande, aber es hat einen Streit, so wie ich das verstanden habe, innerhalb der sozialistischen Partei gegeben. Es gab also Leute in der Partei, die für die Teilnahme waren, andere, die dagegen waren mit dem Argument, Front National ist gegen unsere republikanischen Grundwerte, diese Partei schürt viel zu stark den Fremdenhass, also er soll an dieser Veranstaltung nicht teilnehmen. Auf der anderen Seite gab es auch gerade von den Vertretern der konservativen und liberalen Parteien andere Standpunkte, und zwar, man kann mit Front National nicht einverstanden sein, man muss Front National bekämpfen, aber wir müssen davon ausgehen, dass es zurzeit praktisch die stärkste Partei in Frankreich ist und etwa 25 Prozent der Wahlabsichten, und es sind ein paar Millionen Stimmen von Franzosen und die sollte man irgendwie integrieren.
    "Wir sind eine verletzte Gesellschaft geworden"
    Liminski: Wer profitiert denn politisch, wenn man das so zynisch sagen darf, von diesen Tagen des Terrors?
    Ménudier: Ja ich würde zunächst sagen, die Terroristen selbst, weil sie feststellen können, dass sie mit ihren Terrorakten ein ganzes Land durcheinandergebracht haben, und Ihre Reportagen haben es sehr gut gezeigt. Und diese Terroristen werden sehr wahrscheinlich sehr viel Schadenfreude empfinden. Das, was bei uns geschehen ist, kann verglichen werden mit dem 11. September 2001 in New York bei den Terrorakten. Mit wenigen Terrorakten haben diese Terroristen in Frankreich eine weltweite Resonanz bekommen. Drei Tage lang alle Medien in Frankreich, in Europa, in der Welt haben darüber berichtet. Eine bessere Publizität konnten sie nicht haben.
    Aber ich glaube auch, dass die Franzosen, oder ich hoffe es, dass die Franzosen auch davon profitieren werden. Wir sind zwar sehr stark betroffen, aber ich glaube, sie haben sich sehr solidarisch gezeigt. Es war wirklich sehr beeindruckend zu sehen, wie viele Franzosen auf die Straße gegangen sind und wie viele ihre Wut gegen diese Terrorakte gezeigt haben, weil sie verstanden haben, dass die Grundwerte unserer Republik verteidigt werden müssen. Und ich hoffe, dass wir letzten Endes Gewinner sein werden. Das heißt, dass unsere innere Einheit größer wird. Ich sage das, weil man darf natürlich nicht vergessen, dass wir eine verletzte Gesellschaft sind, die zerbrechlich geworden ist durch die Krise. Es gibt bei uns zurzeit sehr viel Zweifel, sehr viel Armut, es gibt eine Krise des Zusammenlebens, und ich hoffe, dass durch diese Terrorakte eine Art Ruck durch die ganze Gesellschaft gehen wird.
    Liminski: Die Vorsitzende des Front National, Marine Le Pen, hat heute nach einem Treffen mit Staatspräsident Hollande angekündigt, es werde eine Debatte über den islamischen Fundamentalismus und eine entsprechende Neuorientierung der Politik geben. Wie ernst ist das zu nehmen und wie könnte diese Neuorientierung aussehen?
    Ménudier: Die Debatte gibt es sowieso seit Langem und die Thesen von Frau Le Pen sind bekannt und ich glaube nicht, dass sie im Zentrum der Diskussion stehen werden, weil sie so überzogen sind. Frau Le Pen unterstreicht ja sehr stark das Verhältnis zwischen massiver Einwanderung und Terrorismus. Sie spricht von einem offenen Krieg zwischen Terrorismus und Demokratie. Sie schürt eigentlich die Fremdenfeindlichkeit. Das ist einer der Gründe, warum sie abgelehnt wird für die Veranstaltung am Sonntag. Und ihr Programm ist zu einfach. Sie will einfach die Grenzen zumachen, der Protektionismus soll eingeführt werden und Ausländer raus. Nein, so geht es nicht. Frankreich ist ein Vielvölkerstaat und ich hoffe, dass wir natürlich eine neue Diskussion haben werden über gerade die Rolle der Ausländer, die Rolle der Muslime in unserer Gesellschaft, aber dass wir diese Diskussion mit Würde, Toleranz, mit Entgegenkommen und mit Weitsicht führen werden. Das heißt, die populistischen Lösungen von Frau Le Pen brauchen wir nicht, sie sind gefährlich.
    Liminski: Die politischen Folgen der Terrortage von Paris - das war der Politologe Professor Henri Ménudier von der Sorbonne. Besten Dank für das Gespräch, Herr Professor!
    Ménudier: Danke schön! Schönen Abend.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.