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Der Tod des Carlos Gardel

Zitator: "Leg eine Tangoplatte auf, vielleicht beruhigt sich der Junge ja mit Gardel",

Christoph Schmitz | 15.08.2000
    Musik: Gardel, Volver

    Zitator: und inmitten von Violoncelli und Pianos sang Carlos Gardel auf dem Dachboden in Benfica Volver mit einer Stimme, die schmerzte wie ein Messer, das eine Furche zwischen Sehnen und Muskeln schneidet, der Zitronenbaum und die alten Waschtanks glänzten in der Sonne, der Hühnerstall gluckste Flügel, oben auf dem Treibhaus gab es einen von Blättern grün schimmernden eisernen Vogel, Nuno hörte auf zu weinen, und die Frau zu meiner Mutter, die sich in Erklärungen vervielfältigte -Stellen Sie sich doch nicht dumm

    Autor: Claudia erinnert sich. An ihre sieben schrecklichen Ehejahre mit diesem schweigsamen Alvaro, der tagein tagaus die Lieder des argentinischen Tangosängers Carlos Gardel hörte, der besessen war von dieser schmachtenden Stimme, von diesem Brillantine-Blick auf den Schallplattenhüllen. Alvaro, der ihr gemeinsames Kind, Nuno, sogar mit Tangomelodien trösten wollte. Alvaro, der später sogar überzeugt davon war, daß der schon vor einem halben Jahrhundert, nämlich 1935, tödlich verunglückte Gardel noch lebte, in Lissabon. In der Gestalt eines alten, abgehalfterten Gigolo, der als portugiesischer Carlos Gardel durch die Lande tingelte.(Musik hoch und Schluß)

    Autor: Claudia erinnert sich aber auch an ihre Mutter im von Bomben zerstörten Köln. Wie diese einer Leiche, deren Hand aus den Trümmern ragte, den Ehering vom Finger riß und von der Polizei gestellt wurde.

    Zitator: und die Frau zu meiner Mutter, die sich in Erklärungen vervielfältigte -Stellen Sie sich doch nicht dumm Schmitz: Und Claudia erinnert sich an ihren Besuch im Krankenhaus, als sie zu ihrem drogenabhängigen Sohn Nuno wollte, der im Sterben lag.

    Zitator: "Wie heißt ihr Sohn?", und der Krankenhausgeruch war nicht nur der Geruch nach Desinfektionsmitteln, nach Medizin, nach Essen, nach Wäsche, es war der Geruch des Todes, ein widerlicher Hauch, fett wie ein Brunnen fauligen Wassers, wie die Schimmelpilze des Elends, die Pilz der Verlassenheit, die Pilze in den seit vielen Jahren vergessenen Schränken, der Geruch des Todes, Nuno, und meine Mutter verzweifelt den Kopf in den Händen -Ich habe noch nie etwas gestohlen, Ehrenwort, nun sagen Sie schon, warum sollte ich einen Ehering haben wollen, der mit nicht gehört? Und der Kittel zur Krankenschwester, indem er sich entschuldigte -Ich habe die Dame sofort darauf hingewiesen, daß sie hier nicht reindarf, ich habe ihr gesagt, daß um drei Uhr nachmittags Besuchszeit ist und jetzt Cuesta Abajo, eine Sehnsucht wie ein heimlicher Schmerz, ein Anflug von Saudade, ein langsames Leiden, der Genuß der Gewissensbisse, die Freude an den Tränen, alles, was mir heute, in meinem Alter, abhanden gekommen ist

    Autor: Den Genuß der Gewissensbisse, die Freude an den Tränen - nicht einmal das hat es im Leben der meisten Figuren in Lobo Antuness Roman gegeben. Genuß und Freude selbst am allerwenigsten. Eigentlich hat es fast nichts gegeben. Lieblosigkeit und Einsamkeit sind die sozialen Koordinaten dieser Existenzen. Kaum einer, der in einer funktionierenden Familie aufgewachsen wäre. Zum senilen Großvater, der seine letzten Stunden mit Patiencen im Bett verbringt, werden die Kinder abgeschoben, zum altersschwachen Dienstmädchen oder zum einstigen Ehemann, wenn der neue Geliebte am Wochenende kommt und Kinder der Leidenschaft nicht zuträglich wären. Dann nützt es auch Nuno nichts, wenn er weint und sich weigert, den Vater, Alvaro, zu besuchen, weil der kein Wort mit ihm wechselt, ihn im besten Fall nur anfaucht. Drum versuchen sie alle aus der Tristesse ihres Dasein zu fliehen, Claudia in die Arme junger Liebhaber, Nuno in Drogen und Alvaro in die Musik Carlos Gardels. (Musik hoch und Schluß)

    Autor: Alle Figuren kommen selbst zu Wort. Und nicht nur die drei Mitglieder der zerrissenen Kleinfamilie, auch Verwandte, Freunde - beziehungsweise was man so Freunde nennt-, Lebensgefährten und Bekannte. Sie reden über sich selbst und über die anderen. Doch keiner ist so, wie die anderen ihn schildern. Keiner kennt den anderen, ihre Gedanken übereinander korrigieren sich wechselseitig. Vordergründig haben sie alle miteinander abgeschlossen. Alvaro:

    Zitator: Das Geheimnis, meine Herrschaften, liegt darin, niemanden zu mögen, sehen Sie mich an, da ich niemanden mag, bin ich frei

    Autor: Aber nichts kommt diesen Figuren so über die Lippen, wie sie es eigentlich gemeint haben, vor allem, wenn sie versuchen sich anderen mitzuteilen. Statt eines Lächelns erscheint die Fratze. Graça, Alvaros Schwester, über eine Begegnung mit dem alt gewordenen Dienstmädchen ihrer Kindheit:

    Zitator: Ich litt mit ihr, war außerstande, damit aufzuhören, ihr weh zu tun, weil ihr Schmerz mich schmerzte, (...) ich verletzte sie und verletzte mich, ich wollte ihr sagen - Ich mag dich wollte ihr gestehen -Seit du gegangen bist, hat mir niemand mehr einen ordentlichen Braten gemacht hatte Lust, ihr zuzuflüstern, obwohl sie eine Bäuerin war, eine Analphabetin, ein Dienstmädchen -Es gibt Tage, da fehlst du mir trotz allem ein bißchen, nicht sehr, ein bißchen und versicherte ihr statt dessen mit einer Stimme, die im Herd, dem Wasserboiler widerhallend anschwoll -So wie du aussiehst, machst du es keine sechs Monate mehr Musik: Trenner

    Autor: Die Wahnvorstellungen und Obsessionen, der Haß und Selbsthaß von Antunes gescheiterten Helden sind in seinen bisherigen Romanen immer eng mit der jüngeren Geschichte Portugals verknüpft gewesen. In "Der Tod des Carlos Gardel" jedoch ist der politische und gesellschaftliche Horizont der salazaristischen Rechtsdiktatur, die erst 1974 mit der sogenannten Nelkenrevolution beendet wurde, so gut wie verschwunden. Mit seinem Familienroman taucht er nun in die Alltagstragödien der hauptstädtischen Mittelschicht. In assoziativen Monologen durchkämmen die Figuren ihr Leben, als lausche man, wie immer bei Antunes, einer psychotherapeutischen Sitzung. Als ehemaligem Arzt in einer Lissaboner Nervenklinik ist dem Autor die Situation durchaus bekannt. Doch der zuhörende Therapeut selbst greift nie ein. Analyse und Interpretation sind Antuness Sache nicht. Er beschränkt sich auf die Komposition des seelischen Materials, und die ist einzigartig.

    Zitator: ...und meine Mutter und ich würden uns umarmen, so ein Quatsch, das ist doch kein Film, das wäre das Leben, soweit ich mich erinnern kann, haben wir uns nie umarmt, wenn ein Kuß notwendig war, haben wir unsere Wangen aneinandergelehnt, die Luft geküßt, und sie klappte sofort ein Schildpattkästchen auf und besserte das Make-up nach ...

    Autor: Mit den Figuren blicken wir auf ein Trümmerfeld gelebter Leben. Wie Sperrmüll liegen die Teile auf einer Brache. Die verbogenen, zerbrochenen, verrosteten und ineinander verkeilten Gegenstände, Ruinen, Straßen und Wohnviertel werden aufgezählt. Bilder, Stimmungen, Episoden längst vergangener und nie glücklicher Tage entzünden sich an ihnen, rufen neue Bilder, Stimmungen und Episoden anderer, ebenso unglücklicher Tage hervor, deren Schutt ebenfalls übers Feld zerstreut ist. Die Verzweiflung ist allgegenwärtig. Das Leben ist ein "Reigen der Verdammten", um es mit einem früheren Romantitel Antuness zu formulieren. Ein musikalischer Reigen ist sein "Carlos Gardel" auch.

    Musik: Gardel, Ramona, kurzfrei, dann unterfolgenden Text

    Zitator: -Mutter zu sagen, ohne sie zu berühren oder zu umarmen, so ein Schwachsinn, denn das war kein Film, das war das Leben, uns soweit ich mich erinnern kann, haben wir uns nie umarmt, wenn ein Kuß notwendig war, berührten wir uns gegenseitig mit der Wange und küßten die Luft ...

    Autor: Manche Passagen in "Der Tod des Carlos Gardel" erwecken den Eindruck, als seien sie, mehr als alles andere, unter rein musikalischen Gesichtspunkten komponiert worden. Mit Begriffen wie Refrain, Strophe, Variation, Wiederholung, motivische Wiederaufnahme, Verarbeitung, Rhythmus- und Tempowechsel ließe sich der Text beschreiben. Er ist in einem Maße Musik, daß er unabhängig aller semantischen Bezüge lesbar und genießbar ist. Wobei sich der geniale Kunstcharakter nie in einen selbstgefälligen Manierismus verliert. Der Roman bleibt in jeder Hinsicht kommunikativ. (Musik hoch und Schluß)

    Autor: Antunes Stimme, seine Vergleiche und Metaphern sind von unverwechselbarer Originalität.

    Zitator: du weintest in der Weidenkorbbmuschel, während die orangefarbene Stadt reglos in den Fensterscheiben stand wie ein gekreuzigter Engel, ich antwortete, indem ich Zedern aus dem Inneren des Leidens, aus dem Inneren des Todes vertrieb Schmitz: Antuness Roman ist eine unerschöpfliche Quelle überraschender Sätze...

    Zitator: Die Buchen husteten

    Autor: ...und ebenso expressiver wie absurder Bilder:

    Zitator: Es war in dem Monat, als sie den Kanal trockenlegten, mein Großvater war auf dem Spieltisch hingestreckt über einer unvollendeten Patience gestorben, der Veterinär hatte den Hund, der die Nahrung verweigerte, in einem Korb zur Kaliumspritze weggetragen, und das Dienstmädchen führte die Leine ohne das Tier aus, hielt nach jedem Schritt inne, als würde sie ein wirkliches Tier bei sich haben

    Autor: Natur, Landschaft, Stadt, Wetter und Meer sind in Aufruhr: alles schreit, stöhnt, ächzt und röchelt zu den fragmentarischen Leidensgeschichten. Geräuschmusik für einen Tanz unbeliebter Menschen. Doch so düster die Melodien oft sind, so verdichten sie sich mitunter und explodiren in einem funkensprühenden Klamauk. Der Tango von Vergeblichkeit und Tod beherrscht die Bühne nicht allein.