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Der totale Krieg

Die Kriegswende von Stalingrad im Winter 1942/43 löste in der nationalsozialistischen Führung Panik aus. Adolf Hitler reagierte am 13. Januar 1943 mit einem geheimen Erlass, um die deutsche Bevölkerung für die totale Kriegsführung zu mobilisieren. Doch das Ergebnis blieb hinter den Erwartungen zurück.

Von Volker Ullrich | 13.01.2008
    "Wir haben keine andere Wahl als zu siegen, und es liegt im Interesse unserer Volksgesundheit und Volksmoral, alle verfügbaren Kräfte einzusetzen, um so schnell wie möglich zum ersehnten Ziel des siegreichen Friedens zu kommen (...). Der Feind will uns total vernichten. So lasst uns also total Krieg führen, um total zu siegen."

    Der totale Krieg, wie ihn Reichspropagandaminister Joseph Goebbels in einem im deutschen Rundfunk verlesenen Artikel Mitte Januar 1943 forderte, wurde zur zentralen Losung der nationalsozialistischen Führung an der Jahreswende 1942/43. Denn mittlerweile hatte sich die Kriegslage dramatisch verschlechtert. Im Oktober 1942 hatten die Briten Rommels Afrikakorps bei El-Alamein geschlagen. Ende November war die 6. deutsche Armee in Stalingrad eingekesselt worden; ihre Reste mussten Anfang Februar 1943 kapitulieren. Um die hohen Verluste der Wehrmacht auszugleichen, sah sich das Regime zu drastischen Maßnahmen gezwungen.

    Die gesetzliche Grundlage dafür schuf ein geheimer Führererlass "über den umfassenden Einsatz von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung" vom 13. Januar 1943. Danach sollten nun verstärkt "unabkömmlich" – uk.– gestellte Beschäftigte aus Wirtschaft und Verwaltung herausgezogen und für den Fronteinsatz freigemacht werden. Darüber hinaus sah der Erlass eine Meldepflicht für alle bisher noch nicht erfassten Männer im Alter von 16 bis 65 und Frauen im Alter von 17 bis 50 Jahren vor.

    Die Einführung einer Arbeitsdienstpflicht für Frauen hatte Hitler bislang aus ideologischen Gründen abgelehnt. Schließlich sollten solche Betriebe in Handel, Handwerk und Gewerbe stillgelegt werden, die als nicht kriegswichtig eingestuft wurden. Am 27. Januar erließ der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, die Verordnung über die Meldepflicht.

    "Mit der Verordnung über die Meldung von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung ist die totale Mobilisierung unserer Volkskraft eingeleitet worden. Auf den Kartenstellen, wo die Ausgabe der Formblätter erfolgt, herrscht starker Andrang. In den Sichtungsstellen der Arbeitsämter laufen mit jeder Post Tausende und Abertausende von Meldungen ein (...). Die Parole heißt: Freimachung von Arbeitern und Arbeiterinnen für die Rüstungswirtschaft, Freimachung von Soldaten für die Front. Diesem Ziel muss alles untergeordnet werden."

    Zwei Tage später, am 29. Januar 1943, folgte die Verordnung von Reichswirtschaftsminister Walther Funk "zur Freimachung von Arbeitskräften für kriegswichtigen Einsatz". Mit der Durchführung wurde ein "Dreier-Ausschuss" beauftragt, dem der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel, der Chef der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, und der Leiter der Parteikanzlei, Martin Bormann, angehörten.

    Goebbels, der in den Wochen zuvor als treibende Kraft hinter dem Führererlass gewirkt hatte, fühlte sich übergangen und machte aus seiner Enttäuschung keinen Hehl. Seine Rede im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943 diente nicht nur dem Zweck, die gedrückte Stimmung der Bevölkerung zu heben, sondern auch seine eigene Stellung im Gerangel der Paladine um die Gunst Hitlers zu verbessern. Diese Rede, die er selbst als eine "Meisterleistung" seiner Propaganda bezeichnete, fand vor einem sorgfältig ausgewählten Publikum statt, das sich in einen wahren Massenrausch hineinsteigerte:

    "Ich frage Euch: Wollt Ihr den totalen Krieg? (Rufe: Ja!) Wollt Ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt erst vorstellen können? (Rufe: Ja! Rasender Beifall)."

    Von einer begeisterten Zustimmung der deutschen Bevölkerung zu den Maßnahmen des Regimes konnte jedoch keine Rede sein. Die Meldepflicht-Aktion war weit weniger erfolgreich, als es die Propaganda verkündete. Viele Frauen, vor allem aus der Mittel- und Oberschicht, verstanden es, die Ausnahmeregelungen zu nutzen und sich der Dienstpflicht zu entziehen. In der Arbeiterschaft sorgte das für erheblichen Unmut.

    Noch mehr Unzufriedenheit lösten die Stillegungsaktionen aus, von denen besonders kleine und mittelständische Betriebe betroffen waren. Von Gau zu Gau wurden sie unterschiedlich gehandhabt, der Willkür war damit Tür und Tor geöffnet. Eine Flut von Beschwerden war die Folge, und nicht selten mussten Entscheidungen wieder rückgängig gemacht werden. So verschärften die Maßnahmen zur totalen Mobilisierung der "Heimatfront" die Vertrauenskrise zwischen Führung und Bevölke-rung, und sie blieben im Ergebnis weit hinter den Erwartungen zurück.

    Das Regime entschloss sich daher, verstärkt auf ausländische Arbeitskräfte, vor allem aus den besetzten Gebieten Osteuropas, zurückzugreifen. Im Laufe des Jahres 1943 erhöhte sich die Zahl der ausländischen Zwangsarbeiter von vier auf über sechs Millionen. Ohne die skrupellose Ausbeutung dieses Sklavenheeres hätte das "Dritte Reich" den Krieg nicht noch zwei weitere Jahre führen können.