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Der Trend in Richtung Sonnenaufgang

Der französische Philosoph François Jullien, 1951 geboren, hat zwölf Jahre seines Lebens in Peking, Shanghai, Hongkong und Tokyo gelebt. Seitdem versucht er seine Erfahrungen auch für Menschen hier zu Lande fruchtbar zu machen. In seinem neuesten Buch widmet er sich den Managern. Wer unter ihnen unkonventionelle Anregungen schätzt, sollte das knapp 100 Seiten umfassende Bändchen in der Jackentasche tragen.

Von Cornelia Jentzsch | 06.12.2006
    Schon lange vor der EU-Osterweiterung ging der Trend in Richtung Sonnenaufgang. Das bezeugt nicht nur alte lateinische "ex oriente lux", welches darüber hinaus auf die Wiege des Christentums im Orient verwies. Vom noch östlicheren China erfuhr das erstaunte Europa erstmals im 16. Jahrhundert durch Missionare, unter ihnen Athanasius Kircher. Später ließen sich Leibnitz und Goethe von chinesischer Kultur inspirieren. Den französischen Aufklärer Voltaire faszinierte das von alter philosophischer Weisheit durchdrungene China, er fand "die Religion der chinesischen Gelehrten bewundernswert. Kein Aberglauben, keine absurden Legenden, keine dieser Dogmen, die Vernunft und Natur beleidigen."

    Insofern knüpft der französische Philosoph François Jullien an beste europäische Traditionen an, wenn er schreibt:

    "Es geht darum zu sehen, bis zu welchem Punkt ein Ortswechsel des Denkens führen kann... Man muss die Abstände wieder herstellen, an einem Dissidententum des Denkens arbeiten. Es gibt in Europa... eine quasi natürliche - da ererbte - Vertrautheit mit dem griechischen Denken, mit der wir brechen müssen... "

    Das chinesische Denkmodell erschien Jullien dafür eine praktikable Alternative zu sein. Denn die indische Philosophie war durch den gemeinsamen indo-europäischen Sprachraum nicht fremd genug, die arabische und hebräische Welt lag dank gemeinsamer Geschichte zu nah an Europa und das japanische Denken wurde erst spät in Texten dokumentiert.

    "Der erste Satz, den man im chinesischen lernt, lautet: "Shi shenme donxi?" Das heißt: "Was ist dieses Ding?" Wörtlich heißt es aber: "Was ist dieses Ost-West?". Das bedeutet, dass das, was wir einheitlich und isolierend ein "Ding" nennen, in China als "Beziehung" gedacht wird: Enthält diese erste Chinesischlektion nicht schon eine ungeheure Möglichkeit für das Denken? "

    Und es gab einen weiteren Grund für Jullien, der europäischen Philosophie eine Frischzellenkur zu verordnen.

    "Es ging mir darum, der intellektuellen Normierung zu widerstehen, die durch die Globalisierung erzeugt wird und in Pidgin-Englisch ein denkbar plattes und langweiliges Denken produziert... Man sprich heute oft vom Dialog zwischen den Kulturen, aber damit es zu einem "Dia-log" kommt, muss es das dia eines Gegenübers geben. "

    Das jüngste Buch von Francois Jullien trägt den Titel "Vortrag vor Managern über Wirksamkeit und Effizienz in China und im Westen" und stellt eine anwendbare Kurzbilanz seiner bisherigen Arbeiten dar. Ein guter Manager muss effektiv, vorausschauend und unter Optimierung seiner Ressourcen handeln. Jullien untersuchte die Verschiedenheit beider Denkmodelle vor allem anhand von Texten zur Kriegskunst.

    Die europäische Denkvorlage geht von einem idealisierten Soll-Zustand aus, das das Ziel aller Handlungen bildet und mit Verstand und Willenskraft nur noch durchgesetzt zu werden braucht. Dieses bereits von Platon und Aristoteles favorisierte Denkmodell wurde in der Folge nicht nur von Clausewitz in seinen Kriegsabhandlungen, sondern auch von Kant - siehe kategorischer Imperativ - exerziert. Doch spätestens, wenn zwischen Theorie und Praxis ein Riß klafft, weil Unvorhergesehenes quer kommt, beginnt das angestrebte Modell zu straucheln und mit ihr Feldherr, Manager, Politiker und selbst der Philosoph. Sofern sie nicht über die von Aristoteles als "phronesis", als "Klugheit" definierte vermittelnde Fähigkeit verfügen. Oder wie Odysseus ein unerschöpfliches Reservoir an List und Finesse besitzen. Schaut man sich dagegen die großen chinesischen Abhandlungen über Kriegskünste an, wird man ein dem europäischen Denken absolut fremdes entdecken. Der chinesische Stratege geht ausschließlich von der jeweiligen Situation aus. Er erspürt die waltenden Kräfteverhältnisse, macht die ihm nützlichen Faktoren aus und profitiert so vom bereits Vorhandenen.

    "Wenn eine Konstellation ungünstig ist für mich, bemühe ich mich zunächst darum, sie zu reduzieren: wenn der Feind ausgeruht ankommt, muss man damit beginnen, ihn zu ermüden; wenn er gesättigt ankommt, muss man damit beginnen, ihn auszuhungern... kurz, man muss ihn in einen Prozess verwickeln, so dass ihm diese für ihn günstigen Bedingungen nach und nach entzogen werden und sie auf meine Seite übergehen... "

    Im chinesischen Denken gibt es das sogenannte Mittel für den Zweck nicht, dafür folgt das Denken der Logik der Neigung. Der Ausgang wird bereits im Stadium der Bedingungen festgelegt. Der Feind wird schon vor der Schlacht geschlagen, nur weiß er es noch nicht. Die chinesische Literatur kennt deshalb auch kaum Heldenepen. Der weise Stratege unterwirft sich der Situation und bleibt unsichtbar. Jenes dualistische, das europäische Denken definierende Prinzip, welches zwischen rational und emotional, theoretisch und praktisch, Ideal und Wirklichkeit trennt, existiert im fernen Osten nicht. Dort lebt das Momentane, das in sein Gegenteil strebt und dadurch Bewegung auslöst.

    "Das yin, das zum yang wird, aus der Vorherrschaft des einen folgt die Rückkehr des anderen, woraus sich die ununterbrochene Verkettung des Prozesses ergibt. "

    Der Mensch begnügt sich in seiner Aktivität mit der Unterstützung günstiger Prozesse. Logisch, dass der Kräftehaushalt in diesem Fall ein optimierter ist.

    Fazit der Lektüre: Dieses schmale Büchlein von knapp 100 Seiten kann man jedem Manager, der unkonventionelle Anregungen schätzt und gleichermaßen seinen Bildungshorizont erweitern möchte, in die Jackentasche empfehlen.

    Wer sich noch gründlicher über Francois Julliens Philosophie informieren möchte, dem sei der bereits im Frühjahr ebenfalls bei Merve erschienene Band "Sein Leben nähren. Abseits vom Glück" ans Herz gelegt. Der Band wurde bei seinem vorjährigen Erscheinen in Frankreich begeistert rezipiert.

    Nähren ist eine elementare Lebensvoraussetzung, man ernährt nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. Zumindest in Europa, denn das chinesische Denken vermeidet strikt diese Aufteilung. Das Leben, die menschliche Natur bleibt eins. Dafür muss diese vitale Substanz im permanentem Fluß gereinigt, neutralisiert und bewahrt werden. Dieser Bewegungsgedanke spiegelt sich im chinesischen Begriff des Dao, des Weges wieder. Er allein ist das Ziel. Nur, wenn man den eigenen Atemvorgang als Teil eines universalen Rhythmus wahrnimmt, wenn man sich seine Wandlungsfähigkeit erhält und die natürliche Biologie seines Lebens nicht durch Festsetzungen, Ziele und Projektionen blockiert, nur dann kann man ein "Langes Leben" genießen.

    Francois Jullien bezieht sich in seinem Buch vor allem auf den 300 vor Christus lebenden Hauptvertreter des Daoismus, Meister Zhuang. Jener lehrte, dass der daoistische Idealmensch weder ein Selbst noch einen Namen habe, also in den natürlichen Prozessen vollständig aufgelöst sei. Die Auflösung des Selbst impliziert weniger das Verschwinden des Subjektes, sondern muss in Richtung Selbstvergessenheit gedacht werden, die Harmonie und schließlich Weisheit mit sich bringt. Geistiges bezeichnet im chinesischen keine analytische Fähigkeit, sondern einen Grad von Intensität.

    Dass Jullien diese chinesische Philosophie als interessanten Gegenpart zum europäischen Leistungs- und Willensdenken sieht, ist mehr als nachvollziehbar. Jullien ist dabei weit entfernt, dem Markttrend diverser Gesundheits- und Spiritualitätsmoden aufzusitzen, vielmehr fordert er, man müsse das asiatische Denken endlich aus dem Pseudowissen herausholen und in den Bereich einer philosophischen Reflexion integrieren.

    Francois Jullien bietet als schließliche Synthese seines Exkurses ins europäische und fernöstliche Denken anstelle einer neuen Philosophie dann aber doch nur schlicht praktische Ratschläge. Er geht vom Streß aus, der als Symptom die europäische Krise markiert. Streß ist als alltäglicher Zustand so übergreifend, dass er körperliche und geistige Grenzen verwischt und für Jullien ironischerweise schon von daher einen Schritt in Richtung China markiert. Als meditative Antipole zu diesem Unruhfaktor schlägt Jullien die beiden fremdsprachigen Worte Cool und Zen vor. Der Begriff Zen hat in Frankreich dank eines beliebten Werbespruchs "Machen Sie auf Zen" ebensolchen Kultstatus wie bei uns Cool. Beide Worte scheinen Jullien semantisch unscharf genug, um Festlegungen auszuweichen. Weder Moral noch Psychologie konnten die Worte vereinnahmen und beide tragen inhaltlich eine gewisse unspezifische Leerstelle. Das Leben fände, indem es sich durch Zen und Cool freispräche, eine gewisse Disponibilität wieder, schreibt Jullien. Die Lösung scheint so zauberspruchhaft leicht, dass man ihr fast nur mit Skepsis traut.

    Doch dem französischen Philosophen geht es vielleicht letztlich gar nicht um die Synthese zu einer neuen Philosophie, auch nicht um einen definitiven Entscheid für das eine oder andere Denkmodell, sondern um das Angebot einer Parallele, um die Erweiterung unseres Horizontes.

    Service:
    François Jullien: Vortrag vor Managern über Wirksamkeit und Effizienz in China und im Westen. Übersetzt von Ronald Voullié. Merve Verlag Berlin, 107 Seiten 9,80 Euro

    François Jullien: Sein Leben nähren - Abseits vom Glück. Herausgegeben und übersetzt von Ronald Voullié. Merve Verlag Berlin, 224 Seiten 18 EUR