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Der "Überläufer" Tiedge

Im August 1985 setzte sich Hansjoachim Tiedge in die DDR ab. Bis dahin war er für die Spionageabwehr beim Verfassungsschutz zuständig. Für ein komfortables Leben im Sozialismus verriet er den DDR-Behörden alles, was er über seinen ehemaligen Arbeitgeber wusste.

Von Ralf Geißler | 19.08.2010
    "Der langjährige im Bundesverfassungsschutz der BRD für die Spionageabwehr verantwortliche Regierungsdirektor Hansjoachim Tiedge ist in die DDR übergetreten und hat um Asyl ersucht. Von den zuständigen Organen der DDR wird das Ersuchen geprüft."

    Die Nachricht im DDR-Fernsehen klang trocken, doch sie sorgte in Ost-Berlin für Feierlaune. Dem sozialistischen Deutschland war mitten im Kalten Krieg ein Trumpf in den Schoß gefallen. Hansjoachim Tiedge – Top-Jurist beim Bundesverfassungsschutz – hatte sich am 19. August 1985 in den Zug gesetzt und an der Grenze der DDR seine Dienste als Überläufer angeboten. Im Innenministerium in Bonn fürchtete Staatssekretär Hans Neusel das Schlimmste.

    "Wir müssen nach den Erfahrungen davon ausgehen, dass das Wissen, das er hat, möglicherweise in vollem Umfang den gegnerischen Nachrichtendiensten zur Verfügung stehen wird. Das heißt, dass wir hier die bereits bei seinem Verschwinden eingeleiteten schadensbegrenzenden Maßnahmen verstärkt fortsetzen müssen."

    1966 hatte Hansjoachim Tiedge beim Bundesamt für Verfassungsschutz angefangen. In Geheimdienstkreisen genoss der Jurist hohes Ansehen. In mehr als 800 Spionagefälle war er involviert. Er jagte vor allem Ost-Agenten. Doch privat lief es schlecht. 1982 starb Tiedges Frau. Er spielte, verschuldete sich und wurde alkoholkrank. Kollegen spotteten bald, er sei der Spion, der aus der Kneipe kam. Tiedges Vorgesetzte wussten von den privaten Problemen. Sie griffen allerdings nicht ein. In der DDR wollte Tiedge neu anfangen. Schuldenfrei. Zurück in Köln blieben seine Töchter.

    "Einmal hat er geschrieben gehabt. Aber seitdem nicht mehr, weil der Brief kam in die Zeitung rein. Und da hat er nicht mehr zurückgeschrieben, weil er halt Angst hatte, dass die Briefe wieder veröffentlicht werden. Und ich habe nur teilweise was über die Rechtsanwältin gehört, was der Vati ihr geschrieben hat, aber sonst habe ich auch nichts mehr gehört."

    Zu Weihnachten 1985 durften die Töchter ihren Vater besuchen. In der Funktionärssiedlung in Wandlitz. Zu diesem Zeitpunkt hatte Tiedge bereits ein neues Leben angefangen. Das Ministerium für Staatssicherheit vermachte ihm ein Landhaus, organisierte Ärzte wegen seines Alkoholproblems, bezahlte gut und ließ ihn eine Promotion schreiben. Thema: Die Abwehrarbeit des Verfassungsschutzes der BRD. Die Behörde in Köln musste hilflos zusehen, wie ihr ehemaliger Mitarbeiter der Stasi alles verriet. Der spätere Verfassungsschutzpräsident Peter Frisch erinnert sich:

    "Wir waren nicht nur bestürzt, wir waren praktisch entsetzt. Denn es war uns klar, dass nun die Spionage-Abwehr gegen die Bemühungen des Ministeriums für Staatssicherheit einen ganz erheblichen Rückschlag erleiden würden. Sie wussten genau, welche Verdachtsfälle wir bearbeiteten. Sie wussten, welche Methoden wir anwandten. Das war besonders schlimm. Wir mussten uns jetzt darauf einrichten, dass wir nicht mehr unbekümmert weiter unsere Abwehrarbeit leisten konnten."

    Mit Tiedges Hilfe konnte die DDR mehrere West-Agenten enttarnen. Außerdem wusste die Stasi dank ihm, welche ihrer Zuträger in der Bundesrepublik gefährdet waren. Sie wurden zügig abgezogen. So setzte sich zur allgemeinen Überraschung die Sekretärin des Bundeswirtschaftsministers Martin Bangemann in die DDR ab. Ihr folgten eine Sekretärin aus dem Bundespräsidialamt und die Chefsekretärin beim Bund der Vertriebenen. Bundeskanzler Helmut Kohl war verärgert.

    "Wer, wie die DDR, behauptet, sie sei an guten nachbarschaftlichen Beziehungen zur Bundesrepublik interessiert, der muss sich überlegen, wie es wirkt auf uns alle, wenn in unseren Ministerien, wenn in den Parteien, wenn in den Wirtschaftsverbänden, in den Gewerkschaften, überall dort, wo einigermaßen bedeutsame Entscheidungen gefällt werden können, spioniert wird, ausgehorcht wird."

    Auch von Tiedge behauptete die DDR immer, er habe schon vor seiner Flucht für den Sozialismus spioniert. Das stimmte allerdings nicht. Trotzdem war sein Wissen für die DDR so wertvoll wie das von Günther Guillaume – dem Spion im Kanzleramt. Zurücktreten musste wegen Tiedges Flucht allerdings nur sein ehemaliger Vorgesetzter Heribert Hellenbroich. Er war kurz zuvor zum Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes befördert worden. Im Herbst 1990 flog der KGB Tiedge in die Sowjetunion aus. So entging der Überläufer im wiedervereinigten Deutschland einem Prozess wegen Landesverrats. Heute lebt Tiedge zurückgezogen in der Nähe von Moskau.