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Der übermächtige Schatten des Vaters

Das Leben, das ihm das Leben seines Vaters aufgenötigt hat, ist Walter Kohl so fremd geblieben, dass er sogar erwog, es durch einen Freitod zu beenden. Stattdessen hat er sich hingesetzt und geschrieben. Wie es war, als "Sohn vom Kohl", wie die Familie mit den Ämtern, dem Ruhm, der Verantwortung des Kanzlers lebte.

Von Mirko Smiljanic | 31.01.2011
    Was für ein verlogenes Idyll! Helmut Kohl spielt unterm Tannenbaum mit seinen Söhnen Peter und Walter; Helmut Kohl mit strahlendem Lachen im Kreise seiner Familie auf der Terrasse in Oggersheim; Helmut Kohl und seine Söhne beim fröhlichen Baden im Wolfgangsee. Tausende solcher Bilder sind bis weit in die 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts fotografiert worden: Fotos einer Familie, die dem Inbegriff biederen Glücks der 50er und 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts entsprachen. Was für ein verlogenes Idyll!

    Für meinen Vater war und ist die Politik seine eigentliche Heimat. Seine wahre Familie heißt CDU, nicht Kohl. Niemals hätte er, mit ganz wenigen Ausnahmen, etwa dem Unfall meines Bruders in Monza im Herbst 1991, einen Partei- oder Ämtertermin zugunsten einer familiären Verpflichtung fallen gelassen. Jahrzehntelang hat er sein Bestes in Partei- und Gremienarbeit investiert, hat er "Entscheidungen am Fließband getroffen", wie er es nannte.
    Von den frühen 60er-Jahren bis ins Jahr 2010 lässt Walter Kohl die Geschichte seiner Familie Revue passieren: Über seinen ersten Schultag schreibt er; über Freunde; über seine über alles geliebte Mutter; über den Vater, den er als Gast im eigenen Haus erlebt, und um dessen Zuneigung er Jahrzehnte vergeblich gekämpft hat; er schreibt über die Isolation als Kind eines Prominenten; über die Angst, Opfer eines Terroranschlages zu werden; über aufdringliche Medien; über die Parteispendenaffäre; über den Freitod seiner Mutter; und er schreibt, wie Fremde ihn nannten: "Der Sohn vom Kohl".

    Der "Sohn vom Kohl" – wie oft habe ich diese Bezeichnung gehört? Und wie oft habe ich sie wohl nicht gehört, wenn sie hinter meinem Rücken gebraucht wurde? Im Laufe der Jahre habe ich all ihre Bedeutungsnuancen im Geiste durchdekliniert, immer wieder. Dass es nicht selten offene Feindseligkeit ausdrückte, begriff ich schon als Kind. Um zu verstehen, dass Neid und Verachtung sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern im Gefühl ein und desselben Menschen in trauter Nachbarschaft existieren können, brauchte ich etwas länger.
    Walter Kohl schildert in dichten Texten persönlich gefärbte Erinnerungen, die – wie sollte es anders sein als "Sohn vom Kohl" – immer auch eine Beziehung zur großen Geschichte Deutschlands haben. 1977 im Deutschen Herbst – Walter Kohl war 14 Jahre alt – traf er zufällig im Besprechungszimmer seines Vaters den damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hans Martin Schleyer. Walter Kohl litt damals unter den Folgen der Terrorgefahr: Ihr Haus in Oggersheim war zu einer Festung ausgebaut worden, Personenschutz war obligatorisch, kaum jemand durfte ihn besuchen.

    Es war ein sehr schönes Gespräch, wie ich es mir öfter gewünscht hätte. So nahm ich all meinen Mut zusammen und klagte ihm mein Leid: die ständige Bewachung, die Isolation von meinen Schulkameraden, die ständige Erwartung, es könnte irgendetwas passieren. Ich fragte ihn, ob auch er Angst vor Terroristen hätte. Wir unterhielten uns noch eine kleine Weile. Schließlich betrat mein Vater den Raum. Wie eingebrannt in mein Gedächtnis ist das Bild von Herrn Schleyer, wie er mir ein letztes Mal zulächelte. Ich sollte ihn nie wiedersehen.
    Sehr emotional beschreibt Walter Kohl den Freitod seiner Mutter am 5. Juli 2001. Erfahren hat er davon nicht durch seinen Vater, sondern durch dessen Büroleiterin Juliane Weber: "Walter, deine Mutter ist tot", waren ihre Worte am Telefon. Die Beziehung zwischen Vater und Sohn befand sich bereits auf einem Tiefpunkt. Von jetzt an sollte nichts mehr sein wie bisher, die "Architektur" der Familie Kohl war endgültig zerstört. Walter Kohl fühlte sich zunehmend als Außenseiter, ein Eindruck, der sich noch verstärken sollte, als Helmut Kohl wieder heiratete. Sein Sohn erfuhr davon nachträglich durch ein Telegramm, eingeladen zur Feier war er nicht.

    Der Eindruck, der sich uns aufdrängte: "Maike, die neue Frau meines Vaters", wollte so wenig wie möglich mit der "alten" Familie, der Familie Hannelores zu tun haben. Einmal hatten wir eine heftige Auseinandersetzung, und ich fragte sie, warum es so schwierig sei, schon einfache Besuche zu organisieren. Sie gab mir ganz unverblümt zu verstehen, dass sie meinen Vater am liebsten für sich ganz allein haben wollte.
    Mittlerweile hat sich Helmut Kohl ganz von seinem Sohn losgesagt. "Ich durfte kein Kohlianer mehr sein. Die Würfel waren gefallen." Trotzdem findet Walter Kohl versöhnende Worte für seinen Vater; vor allem aber findet Walter Kohl zu sich selbst und – so der Titel des letzten Kapitels – zur "Versöhnung mit dem Sohn vom Kohl". "Leben oder gelebt werden – Schritte auf dem Weg zur Versöhnung" ist ein starkes Buch: keine Abrechnung für erlittenes Unrecht, eher schon eine niedergeschriebene Psychotherapie mit dem Ziel, den übermächtigen Schatten des Vaters zu verstehen und nicht mehr unter ihm zu leiden. Ganz verschwinden wird er ohnehin nicht.

    Sein politischer und historischer Schatten allerdings lebt weiter in der Welt, in der ich lebe. Auch diesen Schatten nehme ich an. Für die allermeisten Menschen bin ich beim ersten Kennenlernen zunächst der "Sohn vom Kohl". Das ist kein Problem mehr, denn nun kann ich sagen: Ich gestalte mein Leben als Walter Kohl, ich bin der "Sohn vom Kohl". Dieses Leben nehme ich an, diesen Weg gehe ich.

    Leben oder gelebt werden. Schritte auf dem Weg der Versöhnung. So heißt das Buch von Walter Kohl, das im Integral Verlag erschienen ist. Für 18 Euro 99 gibt es 274 Seiten, ISBN: 978-3-7787-9204-9.