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Der Übermensch als Designprojekt

Prothese und Prometheus haben mehr gemein, als einige Buchstaben. Prometheus nahm Lehm, die Chirurgen von heute lassen mit Petri-Schalen ganze Körperteile nachwachsen. Eine Londoner Ausstellung schaut sich den Mensch als Prothesengott genauer an.

Von Walter Bohnacker | 11.08.2012
    Zu den Olympischen Spielen in Beijing war er nicht zugelassen, in London aber läuft er mit um Medaillen: der Südafrikaner Oscar Pistorius, dem mit elf beide Wadenbeine amputiert wurden. Die Wellcome Collection zeigt die Karbonprothesen des 25-Jährigen, der es geschafft hat vom Paralympier zum Olympioniken. Die Laufhilfen machen den "Blade Runner", wie er genannt wird, zwar nicht zum "Übermenschen", aber doch zu einem Ausnahmeathleten der ersten Riege.

    Der "Übermensch" ist Thema der Londoner Ausstellung, konkret: Die seit Jahrhunderten praktizierte "Optimierung des Menschen" mittels Prothesen aller Art, vom Holzbein bis zur Potenzpille, vom Glasauge bis zum Mikrochip im Arm – und darüber hinaus.
    Eines macht die Schau sehr deutlich: Bei der Ersatzteiltechnologie ging es nie nur um Rehabilitation; "ausgebessert" und "runderneuert" wurde schon immer auch mit viel Sinn für Ästhetik und kosmetische Eleganz.

    Hier eine Kunstnase aus Silber samt Brillengestell für die syphilisgeschädigte Dame des 19. Jahrhunderts; daneben eine eiserne Hand aus der Zeit um 1600 – mit Gelenkmechanismus für die Finger: Götz von Berlichingen wurde mit sowas wieder ein ganzer Kerl!
    Und dort ein Exemplar aus Ägypten, siebtes vorchristliches Jahrhundert: die Zehenprothese für einen alten Pharaoh. Jedes Exponat demonstriert Kunsthandwerk vom Feinsten. Immer wenn es darum ging, aus der anatomischen Not eine Tugend zu machen, erwies sich "Homo Faber" als überaus einfallsreicher Designer, motiviert zu Höchstleistungen.

    Mit der uralten Kompensierung körperlicher Defizite als Ausgangspunkt führt die Schau hin zur Abteilung MAN AND MACHINE, "Mensch und Maschine". Da wird’s ganz ernst mit der "fröhlichen Wissenschaft" der Prosthetik, denn hier geht’s um die Frage: Was kann und was darf der Mensch?

    Sie stellt sich in den High Tech-Labors der Gegenwart. Hier arbeiten die Pioniere der Bionik, der Gen- und der Nanotechnologie auf Feldern scheinbar unbegrenzter Möglichkeiten.
    Nach den Robotern, dem Baby aus der Retorte und Klon-Schaf Dolly sind SIE die nächsten in der Produktreihe aus der Jahrtausende alten Werkstatt der Spitzenleistungen: die Cyborgs der Version "Human 2.01"; unser aller Upgrade zum Allround-"Superman" der Zukunft.
    In der Ausstellung laufen Videos mit Statements von Experten. Natürlich haben sie ihre Bedenken in Sachen Ethik, Moral und Verantwortung. Und dennoch: An der Notwendigkeit, dass sich der Mensch permanent "verbessern" und "erweitern" müsse, zweifeln sie nicht: weder der Bioethiker noch der Zukunftsforscher.

    Zwei Schlagworte verweisen auf die "schöne neue Welt" der beschleunigten Evolution: "Singularität" und "Transhumanismus". Gemeint sind die Verschmelzung von Mensch und Maschine und die Planspiele für den Vorstoß zu Formen des Weiterlebens nach unserem Ende auf dem Planeten.

    Eine Bronzestatuette des Ikarus, gefertigt im dritten Jahrhundert nach Christus, steht am Anfang der Schau. Sind die ihm vom Vater – Baumeister Dädalus – verpassten Flügel die Prototypen der Prothesen des Oscar Pistorius? Oder ist das Schicksal des tollkühnen "Überfliegers" aus dem Mythos als Mahnung zu verstehen? Die Ausstellung lässt die Frage offen.
    Auch ein Prometheus hätte hierher gepasst. Vor einem halben Jahrhundert prägte der Philosoph Günther Anders die Formel vom "prometheischen Gefälle". Was er meinte war: So wie der Mensch gestrickt ist, ist er der Rasanz der technologischen Entwicklung nicht mehr gewachsen.

    Anders sprach von der "Antiquiertheit des Menschen". Die Ausstellung der WELLCOME COLLECTION zielt in die andere Richtung: sie hält es mit dem "Prinzip Fortschritt".
    Der ganze Themenkomplex Prosthetik, heißt es, sei DAS "Bodybuilding"-Projekt der Zukunft. Vor diesem Hintergrund erscheint der Mensch nicht als Auslauf-, sondern als Ausbaumodell auf dem Sprung zur Reinkarnation als "Superhuman".
    Ein Scheitern des Projekts – so der Tenor der Schau – können wir uns nicht leisten. Und den einen oder anderen Absturz? Den nimmt man wohl in Kauf.