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Der Ursprung universaler Rechte

Wie kann und soll man die universelle Geltung von Normen rechtfertigen? Darüber diskutierten Ende letzter Woche Forscher aus In- und Ausland auf der Jahreskonferenz des Exzellenzclusters "Herausbildung normativer Ordnungen" an der Universität Frankfurt am Main.

Von Matthias Hennies | 19.11.2009
    Nehmen wir die Zehn Gebote: Du sollst nicht töten. Du sollst nicht falsch' Zeugnis reden. Du sollst nicht dies, du sollst nicht das. Wären da nur diese zehn knappen Forderungen, würde sie fast niemand ernst nehmen. Ihren moralischen Anspruch entfalten die Zehn Gebote nur, weil dahinter eine weithin bekannte, lange überlieferte Geschichte steht: Wie der Gott der Christen diese Gebote an den Menschen Moses übergab.

    Ähnlich verhält es sich mit anderen moralischen Werten. Warum schwören wir auf die Demokratie? Weshalb glauben wir, dass auf der ganzen Welt die Menschenrechte gelten sollten? Diese Normen sind philosophisch begründet und juristisch ausformuliert, aber ihre Überzeugungskraft gewinnen sie nicht aus solchen abstrakten Formeln.

    "Wir sind davon überzeugt, dass Rechtfertigungen auch wirklich nur deshalb wirksam werden können, weil sie verankert sind in der konkreten Lebenswelt der Betroffenen. Diese Verankerung stellt sich den Betroffenen überwiegend so dar, dass sie nicht an einem akademischen Diskurs beteiligt sind, in dem Gründe ausgetauscht und rational geprüft werden können, sondern in der Regel sind Rechtfertigungen eingebettet in bestimmte historische, lokale Traditionen, in Geschichten, die von Generation zu Generation weitererzählt werden."

    Kollektive Erinnerungen, überlieferte Erzählungen, Bilder, die man nicht mehr los wird: Klaus Günther und seine Kollegen fassen diesen vielschichtigen Hintergrund unserer Normen und Werte mit dem Begriff Narrative zusammen. Günther ist Professor für Strafrecht an der Universität Frankfurt am Main. Im Exzellenzcluster "Herausbildung normativer Ordnungen" arbeitet er mit Forschern aus den Sozialwissenschaften, der Anthropologie, der Philosophie und anderen Fächern zusammen.

    Eines ihrer Hauptuntersuchungsgebiete ist das zwiespältige Verhältnis zwischen den Narrativen und der eigentlichen Norm. Auf der einen Seite, erläutert Günther, entfalten Normen ihre bindende Kraft nur aufgrund ihres Hintergrundes aus Geschichten und Erinnerungen. Auf der anderen Seite aber kann dieser Begründungszusammenhang auch leicht missbraucht werden; etwa wenn wieder einmal an die Menschenrechte appelliert wird.

    "Jeder kann seine Ansprüche zu einem auf Menschenrechte begründeten Anspruch machen, oder, was heutzutage häufig der Fall ist, dass Regierungen ihre Maßnahmen, zum Beispiel einen Krieg gegen ein anderes Land zu führen oder Teile der eigenen Bevölkerung zu diskriminieren, mit den Menschenrechten legitimieren und dazu auch die Narrative abrufen."

    Wir sind so tief in Narrative aus Geschichten und Erinnerungen verstrickt, meint der Wissenschaftler, dass wir uns oft nicht klar machen, welche Werte damit eigentlich artikuliert werden; oder umgekehrt sehen wir Normen als selbstverständlich an, ohne uns ihre Herkunft klar zu machen.

    In Deutschland ist zum Beispiel das Verständnis von Menschenwürde stark durch die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus geprägt. Dieses Narrativ kann heute zur Rechtfertigung konkreter politischer Entscheidungen dienen. Man braucht nur daran zu denken, wie die deutsche Beteiligung an der Intervention im Kosovokonflikt begründet wurde.

    "Ein Interview mit dem damaligen Außenminister Joschka Fischer, der sinngemäß sagte: Wenn man diese Bilder von den Lagern sieht, in denen Muslime gefangen gehalten werden, dann ist das so ähnlich wie Auschwitz und so etwas darf sich auf europäischem Boden nie wieder ereignen."

    Am spezifischen Rechtfertigungshintergrund liegt es auch, dass manche Werte nicht die universelle Bedeutung bekommen, die man sich wünscht. Die Menschenrechte, quasi der Inbegriff des westlichen Selbstverständnisses, wirken für viele andere Kulturen nicht überzeugend. Harri Englund, Ethnologe an der Universität Cambridge:

    "In Afrika werden die Menschenrechte vielfach als etwas Neues angesehen, das seit dem Ende des Kalten Krieges in den späten 80er-Jahren in afrikanische Länder importiert wird."

    Professor Englund hat in Malawi in Ostafrika beobachtet, wie Aktivisten in den letzten Jahren versuchten, die Menschenrechte in der Landeskultur zu verankern. Doch nur ein sehr eingeengtes Verständnis davon hat sich eingebürgert.
    "Tatsächlich bedeutet die Übersetzung des Begriffs Menschenrechte in die Hauptsprache Malawis soviel wie 'individuelle Freiheit'. Und ich sage dazu als Ethnologe: Eure Sprache bietet so viele Möglichkeiten, warum wählt ihr diese spezielle Übersetzung dafür?"

    Die Menschenrechte sollen zwar das ganze Leben umfassen. Sie sollen universell gelten. Aber für Afrikaner spiegeln sie eben deutlich ihre Entstehung wider: Dahinter steht das typisch westliche Narrativ der Befreiung des Individuums von der Willkür absolutistischer Herrscher und selbstherrlicher Obrigkeiten.

    Dieses Narrativ trägt in den Staaten Europas unterschiedliche Züge: In England fußen die Menschenrechte auf der schrittweisen rechtlichen Emanzipation des Einzelnen, in Frankreich auf der großen Revolution von 1789, in Deutschland auf der Befreiung vom Unrecht und Terror der NS-Zeit am Ende des Krieges. Und in den Vereinigten Staaten geht die Rechtfertigung der Freiheitsrechte auf die revolutionäre Unabhängigkeitserklärung zurück, mit der die Gründerväter einen neuen Staat freier Individuen bauen wollten.

    Allen gemeinsam ist aber der Bezug auf das Individuum - und das gibt für Afrikaner wenig Sinn. In nicht-westlichen Kulturen brauchen die Menschenrechte eine breitere Grundlage, als die Befreiungsgeschichte des Individuums.

    "Diese Rechtfertigung finde ich allzu vereinfacht und in vielen Fällen unpassend, nicht nur in Afrika, sondern auch anderswo in der Welt, wo die Menschen nicht das Gefühl haben, als Individuum einer Gesellschaft gegenüberzustehen, sondern wo das Sozialleben organischer empfunden wird. Sie sehen sich als Teil eines Beziehungsgeflechts, das ihnen bestimmte Verpflichtungen auferlegt. Ich denke, wenn wir im Westen dieses Konzept ernst nähmen, würde es unser Verständnis der Menschenrechte erweitern und bereichern."