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Der vergessene Code der Inka
Im Reich der Knotenschnüre

Es heißt, die Inka hätten keine Schriften hinterlassen, nur Knotenschnüre für die Buchhaltung in ihrem riesigen Reich. Doch mancher Forscher hofft, in den Knoten mehr als Zahlen zu entdecken. Die Khipus könnten die Geschichte der Inka neu erzählen - wenn es gelingt, den Code zu knacken.

Von Vera Pache | 25.12.2019
Blick auf Machu Picchu in Peru
Die Stadt Machu Picchu wurde von den Inka vermutlich im 15. Jahrhundert auf einem Bergrücken in 2430 Metern Höhe erbaut - sie könnte einst 1000 Menschen beherbergt haben (dpa / Raphael Mantero)
Schrift - das sind für uns Kombinationen aus Buchstaben auf Papier. Silben, Wörter, Sätze. Schriftzeichen, Hieroglyphen, Symbole. Aber was, wenn Schrift noch etwas ganz Anderes sein könnte? Oder wenn es Kulturen gab, in denen es mal etwas ganz Anderes war? So anders, dass wir es gar nicht mehr erkennen?
"Hier sind von der Sammlung Amerikanische Archäologie die Textilien. Zum großen Teil archäologische Textilien… Man kann mit Fug und Recht sagen, dass es eine der größten Sammlungen außerhalb Amerikas mit Textilien der Inka und Maya ist." "Und ist das hier schon ein Khipu?" "Ja genau, das ist jetzt ein Khipu, der ist aufgenäht. Es gibt ungefähr 370 Stück in der Sammlung, und so sehen die halt aus. Die gibt es in unterschiedlichen Größen und Längen. Was man erst beim genauen Hinsehen sieht, dass das unterschiedliche Farben sind, die Schnüre. Das Wort ist immer Knotenschnüre, aber es geht ja nicht nur um die Knoten, sondern auch die unterschiedliche Färbung spielt eine Rolle - oder das Zusammenspiel von allem…"
Khipu-Schätze im Museumsmagazin
Im Magazin des Ethnologischen Museums in Berlin lagern in Schubladen und Schränken rund 370 Khipus. Knotenschnüre. Bestehend aus einer Hauptschnur, von der, wenn man sie aufspannt, weitere Kordeln - wie Strahlen - herunterhängen. In diesen abfallenden Kordeln oder Schnüren befinden sich oft kleine Knoten. Manche Khipus sind einfarbig, beige, andere haben farbige Fasern - Brauntöne, Rot, Blau.
"Hier haben wir jetzt…" "Wow, das ist aber ein Riesending. Wie viele Schnüre sind das wohl?" "Ja, man kann ja messen: Zwei, vier, sechs… Na ja, zweihundert würde ich mal sagen. Das wäre also ein ganz Großes."

Die Khipus stammen aus Südamerika, aus dem Reich der Inka. Die Schnüre und Knoten transportieren Nachrichten. Aber welche? Die Fähigkeit, die Khipus zu lesen, ist im Laufe der Zeit verloren gegangen.
Und: Obwohl im Ethnologischen Museum in Berlin die weltweit größte zusammenhängende Khipu-Sammlung lagert, gibt es dort niemanden, der sich wissenschaftlich mit diesen archäologischen Überresten des Inkareichs beschäftigt.
Khipu aus Peru (15.-16. Jahrhundert), geknüpft aus Baumwoll-und Wollfasern ; ausgebreitete Größe: 85 x 108 cm
Dieser Khipu aus Peru wurde aus Baumwoll- und Wollfasern geknüpft (www.imago-images.de / Liszt Collection)
Weltweit nur eine Handvoll Khipu-Forscher
Sabine Hyland ist Professorin für Anthropologie an der Universität St. Andrews:
"Wenn wir sie nur lesen könnten, würde uns das helfen, ihre Geheimnisse zu verstehen - ihre Menschenopfer, ihre Lieder, Rituale - für all diese Dinge könnten wir ein viel tieferes Verständnis bekommen."
Sabine Hyland ist eine von einer Handvoll Forschern und Forscherinnen weltweit, die versucht, herauszufinden, welche Informationen in den Khipus stecken. Und es geht ihr dabei nicht einfach nur um die Lösung eines Rätsels:
"Wenn wir Geschichten oder Biografien hätten, dann könnten wir quasi aus den Kiphus ihre eigene Perspektive lesen. Nicht nur die Sicht der spanischen Eroberer. Das wäre wirklich toll!"
Gedächtnisstütze für mündliche Informationen?
Als sich Sabine Hyland in den 90er Jahren mit der Christianisierung Lateinamerikas beschäftigt, begegnet sie zum ersten Mal den Khipus. Damals gingen Wissenschaftler davon aus, dass sie wie eine Gedächtnisstütze funktionierten, um mündliche Informationen weiterzugeben.
"Dass sie keine beständigen Informationen enthalten. Und dass, wenn die Person, die den Khipu angefertigt hatte, starb, die Information mit ihr verloren ging. Aber vor etwa 20 Jahren sagte der Anthropologe Gary Urton: Moment mal, das kann irgendwie nicht sein. Das ist völlig verrückt. Man kann kein wirklich gut und effizient organisiertes Reich mit bis zu 20 Millionen Menschen führen, wenn alle Aufzeichnungen flüchtig sind; wenn zum Beispiel eine Person krank wird oder eine Klippe runterstürzt, alle Informationen mit ihr verloren gehen. Das macht einfach keinen Sinn. Gary sagte, da muss es irgendeine Systematik geben."
Das größte Reich in der Geschichte Amerikas
Kerstin Nowack ist Ethnohistorikerin in Bonn. Sie beschäftigt sich mit der Geschichte der Inka, in der es noch viele offene Fragen gibt:
"Das Inkareich ist, das muss man immer als Allererstes sagen, das größte Reich, was es je in Amerika gegeben hat - das größte politische Gebilde.
Mich interessiert schon die Inka-Herrschaft, das Inka-Reich als Machtgebilde, als politisches Gebilde - wie das funktioniert hat. Wie die Expansion funktioniert hat, wie man diese vielen, ganz unterschiedlichen ethnischen Gruppen mit ganz unterschiedlichen Stadien der politischen Komplexität, der Organisation und auch sehr unterschiedlichen kulturellen Traditionen - gerade dann wenn man ein bisschen weiter in den Norden oder den Süden reingeht - also Chile, Argentinien und Ecuador haben eine ganz eigene Kulturentwicklung. Die Inka haben diese ganze sehr, sehr heterogene Region, die auch sprachlich sehr unterschiedlich war, unter ihre Herrschaft gebracht. Wie haben Sie das geschafft? Wie hat sich das entwickelt? Welche Dynamik war da drin?"
Inkareich wird immer nur vom Ende her betrachtet
Das Inkareich umfasste ein Gebiet mit einer Länge von etwa 5000 Kilometern - vom heutigen südlichen Kolumbien über Ecuador, Peru bis nach Argentinien. Anden, Regenwald, Wüste, ein Vielvölkerstaat, den sich die Inka innerhalb relativ kurzer Zeit unterworfen hatten. Nowack:
"Ja genau, das ist eben auch das Bemerkenswerte; innerhalb von gut hundert Jahren. Es fängt an wahrscheinlich so 1410, 1420. Das mit der Datierung ist die Problematik der fehlenden Schriftaufzeichnungen und der fehlenden Genauigkeit der archäologischen Datierungsmöglichkeiten. Und das geht dann eben bis 1532."
Am 16. November 1532 besiegen die Spanier unter der Leitung des Konquistadors Francisco Pizarro schließlich den letzten Inkaherrscher Atahualpa. Dieses Datum gilt als das Ende des Inkareichs.

"Es werden wenige Reiche von ihrem Ende her betrachtet. Niemand würde das klassische Griechenland oder vielleicht auch die Tang-Dynastie in China immer nur vom Ende her betrachten, wie es am Ende böse ausgegangen ist. Bei den Inka ist es so."
Atahualpa wird zum Treffen mit Pizarro getragen - Illustration aus der Historia Novis Orbis 1595, Kupferstich von Theodore de Bry (1528-1598)
Atahualpa wird zum Treffen mit Pizarro getragen - Illustration aus der Historia Novis Orbis 1595 (imago stock&people)
Keine Schrift auf Papier, keine Zeichen in Stein
Die Inka hatten keine Schrift auf Papier - so, wie wir sie aus vielen Kulturen kenne. Und auch keine in Stein gemeißelten Zeichen, wie etwa die ägyptischen Hieroglyphen oder die Schriftzeichen der Maya. Schriftliche Aufzeichnungen über die Geschichte dieser Kultur in den Anden gibt es erst ab dem Moment, als die Spanier ins Inkareich einfallen. Nowack:
"Das Ende ist, dass sie von den Spaniern erobert werden; und von ganz wenigen Spaniern, 172 Leuten in etwa. Und das löst eben immer dieses Erstaunen aus, wie ein expansiver Staat, der wirklich eine durchaus auch brutale Machtpolitik betrieben hat, dann nicht in der Lage gewesen ist, einer solchen kleinen Invasions-Streitmacht gegenüberzutreten. Und das wird dann immer erklärt mit dem technologischen Problem, dem technologischen Ungleichgewicht und auch vielleicht mit dem kommunikativen Ungleichgewicht, mit der fehlenden Schrift, die durchaus auch eine Rolle spielt."
Anspruchsvolles System aus Straßen- und Brückenbauten
Die Inka hatten zwar keine geschriebene Schrift auf Papier, aber sie hatten dennoch ein Kommunikationsmittel: Knotenschnüre. Khipu. Bei der Kommunikation spielte auch das Straßensystem eine große Rolle.
"Es ist eben eine Sache, wofür die Inka ja auch sofort sehr bewundert worden sind. Auch von den Spaniern, die dahin kamen, die waren tief beeindruckt, von dem was sie dort an logistischer organisatorischer Leistung gesehen haben."
Das Straßensystem bestand aus vielen unterschiedlichen Wegen:
"Je nach Gelände, je nach Notwendigkeit, aber es sind natürlich keine Straßen für Wagen."
Wagen mit Rädern gab es im Inkareich nicht. Nowak:
"Das heißt, im Gebirge haben die Treppen. Und teilweise sind die Hauptstraßen sogar gepflastert. An der Küste waren sie markiert und geräumt. Und ein ganz wesentlicher Faktor waren die berühmten Brückenbauten der Inka. Diese berühmten Hängebrücken, die sie aus Seilen geflochten haben, und dieses Prinzip der Hängebrücke, das sonst auf der Welt kaum irgendwie vorher benutzt wurde."
Letzte funktionierende Inka-Hängebrücke aus geflochtenem Ichu-Gras (Jarava ichu) über den Apurimac, Peru, Südamerika
Letzte funktionierende Inka-Hängebrücke über den Apurimac in Peru (imago stock&people / Harald von Radebrecht )
Langstrecken-Kommunikation mit Postläufern
Über dieses Straßensystem war die Hauptstadt Cuzco gut mit allen Provinzen des Reichs vernetzt. Dabei gab es zwei Hauptstraßen. Eine Hochlandroute durch die Anden und eine Straße entlang der Küste. Ein wichtiger Teil der Kommunikation im Reich waren Postläufer:
"Die sogenannten Chaskis, die Botenläufer - das waren junge Männer, die aus der Bevölkerung rekrutiert wurden."
Entlang der Straßen gab es kleine Häuschen, wo sich die Postläufer unterstellen konnten:
"Besonders natürlich in Gebieten, die sehr unwirtlich waren, also irgendwelche kahlen Hochebenen oder so. Und die warteten darauf, dass ein Postläufer ankam."
Dann übernahm der wartende Postläufer die Nachricht, beziehungsweise den Khipu und rannte weiter bis zum nächsten Boten - wie beim Staffellauf. Eine Nachricht konnte auf diese Weise in etwa drei Tagen von Lima nach Cuzco übermittelt werden. Nowak:
"Dass es das gegeben hat, dass das funktioniert hat, bezweifle ich nicht. Ich habe ein Problem damit - und das verbindet sich wirklich ganz eng mit der Frage nach den Khipus: Was für Nachrichten übergeben worden sein sollen? Weil von den Khipus wird ja immer gesagt, dass sie hauptsächlich jetzt irgendwelche Zahlenwerte enthielten und was sie sonst noch darüber aussagen, worauf sich die Zahlen bezogen, ist ja bis heute nicht hundertprozentig verstanden."
Knoten in Schnüren stehen für Zahlen
Heute lagern weltweit noch etwa 1000 Khipus in Museen, privaten Sammlungen oder in kleinen Andendörfern. Die Khipus bestehen immer aus einer Hauptschnur, an die weitere Schnüre geknüpft sind. Aber sie unterscheiden sich zum Teil auch stark in ihrer Form. Es gibt sehr lange und große Khipus mit bis zu 200 herabhängenden Nebenschnüren. Und es gibt ganz kurze Khipus mit nur wenigen Schnüren.
Etwa zwei Drittel der erhaltenen Khipus bestehen tatsächlich aus Knotenschnüren, das heißt, die herabhängenden Nebenschnüre sind in sich geknotet. In den 70er Jahren konnten Wissenschaftler nachweisen, dass diese Knoten für Zahlen stehen. Ein Dezimalsystem. Ein Knoten, der wie eine Acht aussieht steht für eine Eins, ein Knoten mit zwei Windungen für eine Zwei und so weiter. Je nachdem an welcher Stelle sich die Knoten in der Schnur befinden, stehen sie für Einer, Zehner, Hunderter, Tausender, Zehntausender…
Es wird vermutet, dass diese Khipus der Buchhaltung dienten. Die gängige Ansicht ist, dass sie geholfen haben, Steuern, Ernteerträge, Tiere oder Menschen zu zählen.
Das Problem ist aber: Wenn wir die Schnüre mit einer Tabelle vergleichen, dann fehlt uns die Überschrift, die Spalte, die uns erklärt, auf was genau sich die Zahlen beziehen. Bis heute ist nicht klar, ob diese Informationen in den Khipus stecken. Ob die Khipus wirklich wie ein mehrdimensionales Schriftsystem funktionieren und wir sie bloß nicht lesen können. Oder ob die Bedeutung der Zahlen anderweitig weitergegeben wurde.
Gedankenstütze-Hypothese wenig plausibel
Eine Hypothese ist zum Beispiel, dass die Khipus nur eine Art Gedankenstütze waren, mit deren Hilfe die Läufer Nachrichten weitertragen konnten. Kerstin Nowack findet diese Theorie nicht schlüssig:
"Man muss sich aber vorstellen, dass in einer Gegend, mit einer doch erheblichen Sprachvielfalt es schwierig ist, sich vorzustellen, dass über Hunderte, Tausende von Kilometern eine Botschaft mündlich zu dem Khipu weitergegeben wurde, die dann am Ende - Stille Post - richtig ankam."

Oder eben nicht. Auch Sabine Hyland von der Universität St. Andrews hat hier ihre Zweifel:
"Ich denke, es ergibt keinen Sinn, wenn Läufer Khipus transportiert haben - dass es eine mündliche Botschaft war, die sich auf den Khipu stützte. Und der Khipu war nur so eine Art Gedächtnisstütze oder ein Mittel, um die Botschaft zu legitimieren. Das ergibt einfach keinen Sinn. Es gab dort sehr unterschiedliche Dialekte. Außerdem muss man bedenken, dass auch Sicherheit und Geheimnisse eine Rolle gespielt haben müssen. Die Jungs, die als Läufer ausgesucht wurden, mussten schnell sein. Die wurden nicht unbedingt ausgewählt, weil sie besonders gut darin waren, Nachrichten auswendig zu lernen. Ich bin davon überzeugt, dass die Nachricht im Khipu selber steckt. Und wenn das so ist, dann sollten wir auch irgendwann in der Lage sein, sie zu entziffern."
Ein königlicher Bote (Chaskis) der Inka mit einer Muscheltrompete (Pututu) und Khipus 
Illustration aus "El primer nueva corónica y buen gobierno" (1612–15) von Don Felipe Poma de Ayala. 
Königlicher Bote (Chaskis) der Inka mit einer Muscheltrompete und Khipus (imago stock&people)
Ein Dokumentarfilm und eine überraschende Rückmeldung
In ihrem Büro legt Sabine Hyland eine Wolldecke auf ihre Ledercouch, bevor sie sich setzt. Damit es nicht quietscht während des Interviews. Das habe sie gelernt, als sie mal einen Dokumentarfilm gedreht hat, erklärt sie:
"Als ich hier ankam für einen Film mit National Geographic war ich so stolz auf meine Seidenbluse. Und der Regisseur so: Oh, Seide? Das raschelt! Also musste ich wieder nach Hause gehen und mich umziehen."
In der 45-minütigen Doku geht es um Khipus und um Hylands Forschung. Der Film wird in viele Sprachen übersetzt und auch in Peru ausgestrahlt.
"Eines Tages - völlig aus dem Nichts - bekam ich eine Email oder eine Facebook-Nachricht von einer Frau aus Lima, die den Film gesehen hatte. Sie sagte: Ich komme aus diesem kleinen Dorf in den Bergen. Ich habe Ihren Film gesehen und dass sie Expertin für Khipus sind. Und sie sagte: Wir haben Khipus in unserem Dorf. Wollen sie vorbeikommen, um sie zu untersuchen?"
Die heiligen Khipus in San Juan de Collata
Khipus, die - bis zu diesem Zeitpunkt - noch niemand außerhalb des Dorfes zu Gesicht bekommen hatte. Natürlich will Hyland. Also reist sie 2015 zusammen mit ihrem Mann nach Peru. In ein kleines Dorf in den Anden namens San Juan de Collata - ein paar Häuser, kein fließendes Wasser, kein Strom. Die Dorfbewohner sprechen ein Spanisch, das stark vom Quechua beeinflusst ist. Quechua ist eine indigene Sprache in Südamerika. Hyland und ihr Mann dürfen jedoch nicht ohne Weiteres die Khipus anschauen:
"Wir mussten unser Anliegen erst einmal vor dem Ältestenrat im Dorf vorstellen. Eine nervenzerreißende Angelegenheit."
Die Khipus sind in San Juan de Collata so etwas wie ein Heiligtum. Sie werden in einer hölzernen Kiste aufbewahrt - zusammen mit mehr als 100 Schriftdokumenten. Die Dorfältesten sind sich uneinig darüber, ob sie den Fremden ihre Khipus zeigen sollen. Aber schließlich stimmen sie dafür.
Khipu-Studium unter strenger Aufsicht
"Also habe ich angefangen, die Khipus zu studieren. Ich hatte nur 48 Stunden Zeit, weil der Zuständige für den Dorfschatz zwei Tage später zu einem Rodeo musste. Also stand ich im Wettbewerb mit dem Rodeo, denn natürlich durfte ich die Khipus nicht ohne Aufsicht anschauen."
48 Stunden für zwei extrem große Khipus mit insgesamt fast 500 angeknüpften Nebenkordeln aus unterschiedlichen Fasern.
"Diese Khipus sind extrem fein, ohne Knoten, aber das Farbenspektrum ist unglaublich! Blau, rot, lila, grün - und dann alle möglichen Kombinationen."
Für die Wissenschaftlerin beginnen zwei Tage, in denen sie kaum schläft. Sie fotografiert, macht Notizen und schaut sich jede einzelne Kordel an. Zwei ältere Männer überwachen sie bei der Arbeit.
"Ich habe dann immer eine Kordel genommen und gefragt: Von welchem Tier stammt dieser Faser?"
Lama vor der Ruinenstadt Machu Picchu und dem Berg Huayna Picchu 
Tiere - allen voran das Lama - hatten für die Inka eine große Bedeutung. (imago stock&people)
Khipus bestehen aus verschiedenen Tier-Fasern
Bis in die 1990er Jahre dachten Wissenschaftler, dass Khipus - abgesehen von ein paar Ausnahmen - hauptsächlich aus Baumwollschnüren bestehen. Dann wird aber nach und nach klar, dass dem nicht so ist. Und die Khipus in Collata bestätigen das:
"Die Hüter sagten mir, ich solle meine Handschuhe ausziehen, denn das sei respektlos gegenüber den Khipus. Sie sagten, es sei wichtig, die Khipus mit den Händen zu berühren, um die Unterschiede zu fühlen."
Auch der Hüter fasst die einzelnen Fasern und Kordeln mit den Fingern an. Hyland:
"In vielen Fällen musste er fühlen, von welchem Tier die Faser stammt. Er konnte es nicht allein anhand der Optik sehen. Und es stellte sich heraus, dass die Fäden von Lamas, Alpacas, Vicuñas, Hirschen, Vizcachas stammen; und einer fehlt mir noch - vom Guanaco auch."
Vicuñas und Guanacos sehen dem Lama ähnlich. Vizcacha ist ein Nagetier aus der Familie der Chinchillas.
Ein visuelles und auch taktiles Schriftsystem?
"Sie waren sehr davon überzeugt, dass der Fasertyp eine genauso große Bedeutung hat wie die Farben. Und tatsächlich meinte einer der Hüter - ein Mann namens Huber - dass es sich dabei um eine Sprache der Tiere handelt. Und wissen Sie: Das hat mich echt umgehauen. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Für mich stellen sich an dieser Stelle viele Fragen: Was bedeutet das? Ein Schriftsystem, das nicht nur visuell ist, sondern auch taktil. Wenn wir Dinge durch Berührungen erfahren, dann nehmen wir sie viel intensiver auf, denn Dinge, die wir berühren, werden Teil von uns. Dinge, die wir sehen, bleiben hingegen auf Distanz."
Für die Wissenschaftlerin ist die Arbeit in San Juan de Collata ein Schlüsselmoment, weil sie ihren Blick auf die Khipus verändert. Sabine Hyland fängt an, darüber nachzudenken, dass es sich hier wirklich um ein Schriftsystem handeln könnte, das aber ganz anders aufgebaut ist als unseres aus Buchstaben und Zeichen. Ein dreidimensionales Informationssystem, das beides - visuell und taktil - ist. Sie fragt sich: Wie kann Kommunikation und Schrift aussehen und funktionieren, jenseits der Formen, die wir kennen?
Seidenfäden als Unterschrift des Häuptlings
Die Aufpasser können ihr noch einen Tipp geben. Zu den Seidenfäden, die ebenfalls an die Hauptschnur geknüpft sind.
"Ich fragte: Was ist das für Seide? Und die Hüter antworteten: Jeder weiß das! Das sind die Insignien des Häuptlings. Das ist so was wie seine Unterschrift und macht deutlich, dass er den Khipu gemacht hat."
Die Khipus in San Juan de Collata sind aus verschiedenen Gründen wertvoll für Sabine Hylands Forschung. Einerseits geben sie ihr neue Hinweise, wie die Khipus zu verstehen sein könnten. Dass es eben nicht nur um Knoten und Farben geht, sondern um ganz feine - allein fühlbare - Unterschiede in den Fasern. Andererseits sieht sie hier zum ersten Mal Khipus in ihrem ursprünglichen Dorf-Kontext. Und sie erfährt auch, dass ein Teil der Khipus den Absender markiert.
Khipu aus Costa Rica
Khipu aus Costa Rica (imago stock&people)
Einzelne Kordeln könnten für Silben und Wörter stehen
Die Dokumente, die zusammen mit den Khipus im Dorf aufbewahrt werden und auch das, was ihr die Dorfbewohner berichten, lässt darauf schließen, dass die zwei Khipus aus der Zeit nach 1645 stammen - also aus der Zeit, als die Spanier längst die Herrschaft über das ehemalige Inkareich an sich gerissen hatten. Sabine Hyland vermutet, dass die Khipus im Zusammenhang mit einem Aufstand gegen die Spanier stehen. 1750 gab es südlich von Collata eine Revolte. Davon erzählen auch spanische Quellen in den Archiven. Ob die Khipus Briefe waren, die die Dorfchefs untereinander ausgetauscht haben? Weil die Khipus eben so etwas wie eine Geheimschrift waren, die die Spanier nicht lesen konnten? Das sind nur Vermutungen. Hyland:
"Als ich mir das angeschaut habe, hatte ich den Eindruck, dass es sich hier wirklich um Silben oder zumindest teilweise um Silben handelt."
Zurück in St. Andrews beschäftigt sich Sabine Hyland intensiv mit ihren Aufzeichnungen und den Fotos der Collata-Khipus. Und sie stellt fest, dass die herabhängenden Schnüre der Khipus in 95 verschiedenen Variationen vorkommen. Variationen aus Fasern und Farben, unterschiedliche Arten, wie sie ineinander verzwirbelt sind. Hyland entwickelt daraus die These: Die einzelnen Kordeln könnten für Silben, Wörter und Wortteile stehen.
"Und dann können wir die Frage stellen: Haben die Khipus aus der Zeit - bevor die Europäer kamen - ebenfalls Silben-Elemente? Wir wissen es nicht. Ich gehe aber davon aus."
Die Khipu-Forscher Manny Medrano und Sabine Hyland
Manny Medrano und Sabine Hyland hoffen, den Inka-Code mit Computerhilfe knacken zu können (Foto: Vera Pache)
Pendent zum Stein von Rosetta dringend gesucht
Für die Khipu-Forscher sind das kleine Erfolgsmomente, aber immer noch keine Lösung des Rätsels. Was helfen würde, wäre ein Pendant zum Stein von Rosetta: Ein Dokument, bei dem hundertprozentig klar ist, dass es eins zu eins den Inhalt eines Khipus wiedergibt, also eine direkte Übersetzung zwischen Knotenschnüren und geschriebenem Text.
Manny Medrano ist 23 Jahre alt und hat in Harvard Mathematik und Archäologie studiert. Er promoviert jetzt in St. Andrews bei Sabine Hyland:
"Im Moment gibt es noch kein passendes Dokument. Aber die Suche danach ist Teil meiner Doktorarbeit hier in St. Andrews. Ich möchte meine Kenntnisse in Statistik und Mathematik nutzen, um mithilfe eines Algorithmus nach übereinstimmenden Strukturen zu suchen. Um einen Bogen zwischen den archäologischen Khipus und etwa 1000 Seiten kolonialer Dokumente zu schlagen. Die Dokumente enthalten Transkripte von Khipus aus der gleichen Epoche. Und mit etwas Optimismus wird sich da auch ein Match finden lassen. Wir werden sehen."
Historische Gerichtsdokumente könnten helfen
Für seine Doktorarbeit will Mandrano ganz neue Möglichkeiten für die Khipuforschung heranziehen: Statistik. Und dafür braucht er Daten, am besten digitalisiert:
"Vor 1532 war im Inkareich nichts niedergeschrieben, weil die Khipus die Schrift war im Inkareich. Sie verwendeten kein Papier. Nach 1532, als die spanische Eroberung begann, gab es häufig Gerichtsverhandlungen, die von den Einheimischen an spanischen Gerichten initiiert wurden. Oft ging es darum, dass die frühen spanischen Eroberer ihrem Dorf zu viele Steuern abverlangten."

Die Khipus wurden lange Zeit - auch noch nach der spanischen Eroberung - für die Verwaltung und für das Festhalten von Steuern und Abgaben genutzt. Deswegen wurden sie bei solchen Prozessen als Beweismittel zugelassen. Medrano:
"Die Einheimischen, die gegen die spanischen Conquistadoren klagten, kamen dann mit ihren lokalen Khipus zum Gericht - als Beweis für die zu viel gezahlten Steuern in einem bestimmten Zeitraum."
Bei solchen Anhörungen waren drei Leute involviert:
"Da war der einheimische Khipu-Leser, der dann den Khipu in Quechua übersetze, dann gab es den Übersetzer, also einen Spanier oder einen Mestizen, der das Zeugnis von Quechua ins Spanische übersetzte. Eine dritte Person war dann ein spanischer Schreiber, der zuhörte und alles auf Spanisch aufschrieb."
Illustration aus "El primer nueva corónica y buen gobierno" (1612–15) von Don Felipe Poma de Ayala. 
Inka mit Khipu - Illustration aus "El primer nueva corónica y buen gobierno" (1612–15) (imago stock&people)
Ist einer der einst übersetzten Khipus erhalten?
Solche Gerichtsprozesse sind gut dokumentiert und erhalten, sagt Manny Medrano:
"Die Herausforderung, wo jetzt Mathe und Statistik ins Spiel kommen, ist, dass zunächst diese rund 1000 Seiten der Khipu-Transkripte digitalisiert werden müssen. Und dann wollen wir versuchen, ein Match zwischen diesen digitalisierten Texten und unserer Khipu-Datenbank mit den numerischen Khipus herzustellen."
An der Universität Harvard hat der Anthropologe und Khipu-Spezialist Gary Urton 2002 das Khipu-Database-Projekt gestartet. Mit dem Ziel: Informationen zu allen bekannten und erhaltenen Khipus zu sammeln und zu speichern. In der öffentlichen Datenbank sind nicht nur Abbildungen, sondern auch detaillierte Angaben zum Material und zur Anzahl der Knoten und Schnüre. Manny Medrano will die Khipus mit Zahlen - die wir ja lesen können - mit den Dokumenten abgleichen:
"Wir wissen aus diesen Dokumenten, dass die Einheimischen oft gefragt wurden: Sagt uns, was habt ihr dieses Jahr gezahlt? Und der Khipu-Leser sagte dann: 1548 zahlten wir… und dann beginnt eine Sequenz mit Nummern: 15 Ladungen Chuño, also getrocknete Kartoffeln, 12 Fässer mit Chicha, Maisbier, vier Alpacas und so geht es dann weiter. - 12,15,4 - der statistische Prozess ist nun, nach diesen Zahlenreihen zu suchen: 12,15,4 und so weiter… und dann wieder auf die Datenbank mit den numerischen Khipus zu schauen, um zu gucken, ob es da Übereinstimmungen zwischen den Zahlensequenzen und den Nummern gibt."
Einstieg für weitergehende Entschlüsselung
Wenn sich über die Zahlenkombinationen Übereinstimmungen zwischen Dokumenten und Knotenschnüren finden lassen, dann - Manny Medrano ist überzeugt davon - lassen sich auch weitere Inhalte entschlüsseln:
"Dann können wir schauen, für was die Kordeln stehen. Wurde etwa die Farbe genutzt, um anzuzeigen, um welches Tier es sich handelt? Oder die Richtung, in die die Kordel gedreht ist? Oder wurde die Anordnung oder der Aufbau einer Kordel genutzt, um bestimmte Kategorien auszudrücken? Das sind die linguistischen oder narrativen Informationen der Schnüre. Und meines Erachtens sind die Nummer-Sequenzen einer der besten Anhaltspunkte, um hinter diese Bedeutung zu kommen."
Die Bonner Historikerin Kerstin Nowack fragt sich: Was könnten die existierenden Khipus zur Geschichtsschreibung der Inka beitragen?
"Es gibt nicht viele Khipus. Es sind nicht einmal tausend. Wir wissen bis heute nicht, ob sie wirklich lesbar sind in dem Sinne vielleicht sind sie nur interpretierbar."
Allzu viel Lesestoff ist nicht mehr vorhanden
Zur Zeit der Inka soll es Hunderttausende Khipus gegeben haben. Zum Teil ganze Lagerhäuser, die damit gefüllt waren. Als die Spanier die Herrschaft übernahmen, förderten sie zunächst den Gebrauch von Khipus, später aber wurden sie verboten. Ein großer Teil wurde zerstört. Von Zeit zu Zeit tauchen bei archäologischen Grabungen oder im Magazin eines Museums noch bis dahin unbekannte Khipus auf. Viele der existierenden Knotenschüre - zum Beispiel auch die in Berlin - wurden von Reisenden und Sammlern mitgebracht und aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen. Wir kennen also weder den Fundort noch die Zeit, aus der sie stammen. Auch das ist ein Grund, warum Kerstin Nowack skeptisch ist:
"Als man den Rosetta-Stein gefunden hat, gab es dieses wunderschöne Ägypten - mit einer Unzahl von Monumenten, Gebäuden, Statuen, Objekten, auf denen Schrift drauf war. Das ist genauso mit der Entzifferung der Maya-Schrift, die bringt eine Menge. Aber auch da sind Grenzen gesetzt, weil man eben keine Objekte hat aus organischem Material. Archäologisch - da sind die Keilschrift-Tafeln aus dem Zweistromland viel praktischer, die haben sich gehalten. Besonders wenn sie gebrannt waren aus Versehen. Es ist einfach nicht sehr viel da, was man lesen kann - selbst wenn man sie lesen könnte. Wie viel Erkenntnis kann man da rausholen?"
Historische spanische Quellen wenig verlässlich
1590 hat José d’Acosta über die Khipus geschrieben:
"Khipus sind Gedächtnisstützen oder Berichte aus Strängen, in denen verschiedene Knoten und verschiedene Farben verschiedene Dinge bedeuten. Es ist unglaublich, was auf diese Weise geleistet wird, da so viele Bücher von Geschichten, Gesetzen, Zeremonien und Geschäftsberichten darüber geschrieben werden könnten. All dies liefern Khipus so gründlich, dass sie zu bewundern sind."
José d’Acosta war ein spanischer Jesuit, Missionar und Gelehrter. Seine "Historia natural y moral de las Indias" ist die älteste Übersicht über die Neue Welt und ihre Verbindungen zur Alten. D’Acosta schwärmt darin auch von den Khipus. Er schreibt von Gedächtnisstützen oder Berichten - weil sie beides waren? Oder weil er es selber nicht genau wusste? Es stellt sich die Frage: Wie gut haben Acosta und andere spanische Eroberer damals die Kultur der Inka und das System der Khipus verstanden? Die Aufzeichnungen von José d’Acosta zählen zu den ersten schriftlichen Quellen, die wir über die Inka haben - und damit sind sie gleichzeitig Teil des Problems. Sabine Hyland:
"Es gibt große Kontroversen darüber, wie die spanischen Quellen über die Inkageschichte zu lesen sind. Und die Quellen, die wir haben, widersprechen sich auch an vielen Stellen."
Eine andere Erzählung als die Version der Eroberer
Als die Spanier nach Südamerika kamen, stießen sie auf eine Kultur, die ganz anders war als ihre eigene. Aber alles, was sie sahen und berichteten, schrieben sie in ihren Worten auf - mit den Begriffen, die sie kannten, mit eigenen Interessen, mit ihrem europäischen beziehungsweise spanischen Blick auf die Welt. Ob uns die wenigen Khipus wirklich dabei helfen können, eine neue Sicht auf diese hochentwickelte Kultur in den Anden zu entwickeln?
Sabine Hyland und ihre Kollegen sind optimistisch und hoffen auf den großen Durchbruch. Andere, wie die Historikerin Kerstin Nowack, bleiben skeptisch, wenn es um die Khipus geht:
"Ob wir die jemals als Texte auslesen können, bezweifle ich in erheblichem Maße."
Und dennoch: Allein die Existenz der Khipus erinnert uns daran, dass es noch eine ganz andere Erzählung geben könnte: von der Entstehung des größten Reiches, das es jemals in Amerika gegeben hat. Darüber, wie dieses Reich funktioniert hat und regiert wurde. Darüber, wie die Menschen gelebt, gearbeitet und kommuniziert haben.
Wir kennen bis heute nur eine Version über das Reich der Inka: die Version der spanischen Eroberer. Auch darauf machen uns die Khipus aufmerksam. Und, dass "Geschichte schreiben" noch etwas ganz anderes bedeuten kann.