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Der verlernte Umgang mit dem Tod

In seinem Erzählband "Kurzes Buch über das Sterben" beschreibt der Schriftsteller Andrzej Stasiuk eigene Erinnerungen, Selbsterkenntnisse und Lebensweisheiten. Die Geschichte gestaltet sich rund um den Tod eines Freundes.

Von Marta Kijowska | 16.09.2013
    Der Warschauer Stadtteil Grochów ist kein feiner Ort. Es ist das andere, hässliche Warschau. Ein Viertel an der östlichen Stadtgrenze, in dem schon immer die Armen, die Zu-kurz-gekommenen, die Gescheiterten zu Hause waren. In den 50er-Jahren ließen sich hier viele Menschen nieder, die aus den ostpolnischen Dörfern gekommen waren. Wie Andrzej Stasiuks Eltern, wie deren Freunde und Nachbarn. Das gab dem Ort einen besonderen, städtisch-dörflichen Charakter. Und daraus resultierte laut Stasiuk etwas sehr Spannendes: eine Art Halb-Zivilisation oder Beinahe-Stadt, wie er es nennt.

    An diesen Ort kehrt er nun in seinem "Kurzen Buch über das Sterben" zurück: zu den Straßen, die so hießen wie die Dörfer der Zuwanderer. Zu den engen Hinterhöfen und schäbigen Kneipen. Zu dem herben Geruch von Hitze und Fäulnis, der jeden Sommer in der Luft hing.

    "Ganz Grochów roch so. Überall machte sich nicht gejätetes Unkraut breit, wucherte Brachland. Das Dorf war zu Ende, aber nichts fing an. Baracken, verblichene Dachpappe, alles flach. Von den hohen Bahndämmen sah man die rot untergehende Sonne und den schwarzen Umriss des Kulturpalastes."

    Dass Grochów für ihn immer noch wichtig ist, zeigt Andrzej Stasiuk in diesem Buch sehr deutlich. Seine Schilderung des Viertels fällt allerdings recht nüchtern aus. Man spürt, dass sie nur eine bestimmte Funktion erfüllen soll.

    "In der Prosa braucht man eine konkrete Materie. So sehe ich das jedenfalls, denn es gibt verschiedene Auffassungen von Prosa. Für mich muss sie aber einen realen Raum, eine erkennbare Geografie haben. Sie lebt ja von Einzelheiten, von Details, zwischen denen sich alles Wichtige abspielt. In diesem Buch erzähle ich vom Tod eines Jugendfreundes, der unheilbar an Krebs erkrankt ist. Zwischen dem Urteil der Ärzte und seinem Tod lagen etwa zwei Jahre, es war also ein ziemlich langes Sterben. Doch das Einzige, was ich – als Schriftsteller zumindest – für ihn tun konnte, war, dieses Sterben zu beschreiben. Und da wir unsere Kindheit zusammen in Grochów verbracht haben, musste auch der Ort in dem Buch auftauchen. Ich brauchte ihn, um die damalige Realität festzuhalten, um sie wiederzubeleben, um ihr den Schein einer Existenz zu geben."

    Die Erzählung über den Freund – das Kernstück des kleinen Bandes – gestaltet Stasiuk auf drei verschiedenen Zeitebenen. Da ist einmal die Vergangenheit, die in zwei parallel verlaufende Reisen zerfällt: Die eine liegt wenige Jahre zurück, dauert nur ein paar Tage und führt die beiden Männer an die Adria. Sie haben schon oft solche Eskapaden unternommen. Und auch an dieser wäre nichts Besonderes, hätte der Freund nicht plötzlich seine tödliche Krankheit offenbart – und so die Reise zu einem Verstellspiel gemacht.

    "Ich benutzte kein einziges Mal das Wort Tod oder das Wort sterben. Vielleicht tat er es auch nicht, aber er musste ja nicht, er wusste es einfach schon."

    Die andere Reise ist eine Konsequenz dieser Offenbarung und umfasst – in kaleidoskopischer Form – die ganze gemeinsame Jugend: den Alltag in Grochów, die ziellosen Reisen durchs Land, die Arbeit in der Fabrik, die für die Väter den Aufstieg und für die Söhne Langeweile und Perspektivlosigkeit bedeutete.

    Und da ist noch die Gegenwart, in der es dem Autor nicht immer gelingt, an das gemeinsame Damals so fest wie früher zu glauben. Der Freund ist gestorben und seine Asche in den Bergen verstreut worden – es gibt also nichts, was an seine einstige körperliche Präsenz erinnert.

    "Ich würde gern wissen, dass er in materieller Form irgendwo existiert. Dass er an einem bestimmten Ort anderthalb Meter unter der Erde liegt, den er nicht mehr wechselt. Dass irgendwo Beweise für seine Existenz und für die Existenz all dessen liegen, was das Gedächtnis bewahrt."

    Abschied, Verlust, Vergänglichkeit, der Moment, in dem der Tod sich anzukündigen beginnt: Um diese Themen kreisen auch die anderen drei Geschichten. In der zweiten erzählt Stasiuk von einem Nachbarn, der nach einem Schlaganfall das Gedächtnis und die Kontrolle über seinen Körper verloren hat. Selbst seine Augen wollen ihm nicht mehr gehorchen. Er sieht den Besucher an, aber es ist, als schaute er durch ihn hindurch. Anwesend und doch nicht mehr erreichbar.

    Hat der Mensch das Recht, das Leiden eines anderen zu beenden? Auch über diese Frage denkt der Autor nach. Für ein klares Ja kann er sich aber nicht entscheiden, auch nicht im Falle seiner Hündin, deren monatelanges Sterben er in der dritten Geschichte beschreibt. Er kürzt es nicht einmal dann ab, als er merkt, dass zusammen mit ihrem körperlichen Verfall seine guten Gefühle für sie schwinden.

    "Darin liegt etwas Grausames, das nicht dem Willen unterliegt. Ich beuge mich hinunter und streichle sie. Was früher ein Reflex war, wird jetzt zu einer bewussten Tätigkeit."

    Unsere Zivilisation sei seltsam, schreibt Stasiuk an einer Stelle. Sie rette und verlängere uns das Leben. Und zugleich mache sie uns dem Tod gegenüber hilflos. Er staunt auch darüber, wie sehr wir diesen natürlichen Umgang mit dem Tod verlernt haben, der einmal Teil der bäuerlichen Kultur gewesen ist. Davon handelt die vierte Geschichte, in der er über seine Großmutter erzählt: eine Bäuerin, die ein besonderes Erzähltalent hatte.

    "O ja, die Großmutter war am wichtigsten! Sie konnte wirklich fabelhaft erzählen. In dem Dorf, in dem sie lebte, gab es in den 60er-Jahren noch keinen Strom. Wenn die Nachbarn also zusammenkamen, wurde viel erzählt. Und in den Geschichten meiner Oma vermischte sich immer die Welt der Menschen mit dem Reich der Geister. Sie hatte damit nicht das geringste Problem. Dass ihr irgendein verstorbener Cousin über den Weg lief oder dass der Geist ihres Vaters sich kurz in ihrer Küche zu schaffen machte, war für sie das Natürlichste in der Welt. Sie war tief religiös, doch das gehörte eben zu ihrer Auffassung von Religiosität. Irgendwann begann auch ich, an die Geister zu glauben. Und ich finde, es ist ein sehr schöner Glaube, den ich immer noch kultiviere."

    Als die Großmutter starb, war der kleine Andrzej von ihr nur durch eine Wand getrennt. Was ihn aber am meisten erschreckte, war die schwarze Fahne, die später über der Schwelle des Hauses wehte. Der Tod der alten Frau war für ihn so natürlich wie ihre Geister. Und der eigene existierte noch nicht.

    "War er damals schon da? Stand er hinter uns und zählte mit dem knöchernen Finger ab? Ich weiß nicht. Vielleicht war er noch nicht da. Schließlich sind wir nicht von Anfang an sterblich. Damals waren wir es jedenfalls nicht. Und dann noch viele Jahre nicht."

    Wie viele Jahre? Oder anders gefragt: Wann wird dem Menschen eigentlich seine Sterblichkeit bewusst?

    "Wenn er zum ersten Mal den Tod von jemandem erlebt, der ihm wirklich nahe stand. Wenn er sieht, dass das nicht nur ein Stück Literatur ist. Und auch nicht jemand aus einer fremden Welt. Aus der Welt der Erwachsenen zum Beispiel – irgendein entfernter Verwandter, von dessen Existenz er zwar wusste, ihn aber nicht wirklich kannte. Sondern jemand aus seiner eigenen Welt, ein Mensch, mit dem er das Leben wirklich geteilt hat. Das Leben, die Zeit, die Ereignisse, die Empfindungen. Denn damit stirbt auch ein Stück von ihm. Und seine Welt beginnt, langsam zu schrumpfen. Und das ist der Moment, in dem er merkt: Aha, nun ist er also da. Er ist in dein Haus, in dein Leben gekommen. Nicht mehr als die weiße Gestalt aus den Märchen, sondern ganz real. Dann wird man sich seiner Sterblichkeit bewusst. Aber das kommt erst so gegen 40, schätze ich, früher nicht."

    Ganz so sicher ist sich Andrzej Stasiuk dessen aber nicht. Zumal ihm auch dieses kleine, schöne, nachdenkliche Buch keine Gewissheit verschafft hat.

    "Zu diesen Jahren kehre ich jetzt zurück. Oder kommen sie auf mich zu? Mitten am Tag, mitten in einer Tätigkeit. Jene Tage. Als uns nichts passieren konnte."

    Buchinfos:
    Andrzej Stasiuk: "Kurzes Buch über das Sterben", Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall, Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 110 Seiten, Preis: 8,00 Euro.