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Der Verzweiflung überlegen

In seinem 1964 erschienenen Buch klärt uns Vladimir Jankélévitch über die vielfältigen Wirkungen der Ironie auf. Der Schüler von Henri Bergson versucht, die Ironie in sein von Bergson inspiriertes lebensphilosophisches und auch teilweise mystisches Denken einzuordnen.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 10.04.2013
    Weil die Ironie heute zum Zeitgeist gehört, hat sie einen schlechten Ruf. Neigt sie nicht zur Oberflächlichkeit und zum Relativismus? Sie meidet große Ideen wie große Gefühle. Prompt stellt Jankélévitch fest:

    Ein Gefühl ist immer nur bis auf Weiteres ewig!

    Das geht auch an der Liebe nicht spurlos vorüber:

    Die ironische Liebe ist zum Beispiel ein ewiges Vorwort, die mit dem Vorspiel spielt, ohne sich gründlich zu engagieren.

    Daraus zieht der Ironiker seine Vorteile. Er isst nicht – um Goethe zu persiflieren – 'sein Brot mit Tränen' und meidet die 'kummervollen Nächte'. So bemerkt Jankélévitch wiederum:

    So ist die Ironie der Verzweiflung immer überlegen: Sie macht eine Pirouette, und in weniger Zeit, als nötig ist, um es zu sagen, hat sie bereits die Ursache unserer Qual beiseitegeschafft; (...) Der Ironiker will nicht tiefsinnig sein; der Ironiker will nicht an etwas haften noch es abwägen; (...); als Liebender liebt er, (...), nur mit einem kleinen Teil seiner Seele; wenn er böse wird, ist es sozusagen widerwillig

    Steht damit die Ironie nicht just im Dienst eines leichtlebigen Zeitgeistes, den Henri Bergson, der große französische Lebensphilosoph und Lehrer von Jankélévitch scharf kritisiert? Bergson fordert 1932 die Rückkehr zum einfachen Leben. Wie kann Jankélévitch dann feststellen?

    Statt sich allein am selben Wein zu betrinken, (...) zieht die Ironie vor, sich eine bunte Trunkenheit mit allen Essenzen der Leidenschaft zu brauen; aus jedem Liebestrank trinkt sie einen Schluck, und sie ist die Erste, die sich über ihre eigene Trunkenheit lustig macht. Nicht dass sie weniger töricht wäre als das leidenschaftliche Bewusstsein, aber ihre Torheit ist leichter: Sie ist töricht, weil sie ihre Lippen in tausend Gebräue getaucht hat. Ihre Devise wäre (...): Wenig von allem, und nicht: Alles von Einem.

    Der Zeitgeist erlaubt gelegentliche Volltrunkenheit, fordert zumeist aber den klaren Kopf. Doch dem hält Jankélévitch entgegen:

    Die Trunkenheit ist nicht mehr geisttötend, sondern begeisternd und fragend.

    Der Rausch befreit nicht nur von den Zwängen des Zeitgeistes, auch von den Forderungen der Weltbilder, die Welt allein aus deren jeweiliger Perspektive zu betrachten. So zeigt sich der Einfluss von Nietzsche, wenn Jankélévitch schreibt:

    Gerecht sein bedeutet dann, jede Sache für sich zu sehen, keinen 'Standpunkt' einzunehmen; oder noch besser: es bedeutet, nacheinander eine Unendlichkeit von Standpunkten einzunehmen, sodass sie sich gegenseitig berichtigen; so entgehen wir allen einseitigen 'Zentrismen', finden die Unparteilichkeit und die Gerechtigkeit der Vernunft wieder.

    Daher heißt es an anderer Stelle:

    Ironisieren ist die Gerechtigkeit wählen.

    Man wird der Welt in ihrer Komplexität nicht gerecht, wenn man blind seinem Land oder seiner Klasse dient, wenn die Frau ihren Mann vorbehaltlos liebt, oder man den eigenen Gott anderen aufdrängen möchte. Dagegen fördert die Ironie das Verständnis für andere Menschen:

    Die Ironie erfordert Verstandeshandlung; sie weckt im anderen ein brüderliches, verständnisvolles, intelligentes Echo. (...) Die Ironie ist ein Appell, den man hören muss; ein Appell, der uns sagt: ergänzen Sie selbst, berichtigen Sie selbst, urteilen Sie selbst!

    Ob Technologien, die Ökonomie oder Sozialsysteme - sie operieren mit einer starren Logik, die dem Leben – so schon Bergsons lebensphilosophische Kritik – nicht gerecht wird. Die Ironie stellt ein Mittel dar, sich gegen solche Mächte zu wehren. Jankélévitch 1964:

    Die Ironie protestiert gegen den statischen Rationalismus und ehrt die Zeitlichkeit des Lebens; die Ironie sagt auf ihre Weise, dass das ganze Wesen des Seins das Werden ist, (...)

    Wenn sich die Welt wie die Natur ständig verändert, dann muss man Kriege gegen Menschen wie gegen die Natur führen, will man am Status quo festhalten. Die Ironie dagegen lehrt, sich mit der Welt, wie sie im Werden ist, einzurichten – was letztlich auch für die Liebe gilt:

    Der CHARME ist, wie die IRONIE, der Zustand des Friedens; denn die IRONIE erwirkt, wie der CHARME, dieses Lächeln des Einverständnisses und der Freundschaft, (...).

    Der Ernst wird der Welt nicht gerecht, sowenig wie eine bestimmte biologisch und medizinisch festgelegte Vorstellung von Gesundheit, die den Menschen weitgehend auf seine Körperlichkeit reduziert. Sie vergisst nämlich Geist und Ironie, die sich ihr ständig widersetzen:

    Denn das ironische Bewusstsein treibt seinen Spaß mit der Welt.

    Wie die Ironie vom Ernst der Systeme befreit:

    Sie ist eine fordernde Kraft, die uns zwingt, nacheinander alle Formen der Respektlosigkeit auszuprobieren, alle Frechheiten zu sagen, den vollständigen Kreis der Gotteslästerungen zu durchlaufen.

    Gibt Jankélévitch damit die mystische Tradition auf, in der er Bergson eigentlich folgen will? Doch die Mystik trägt zwar nicht unmittelbar, aber zumindest mittelbar dazu bei, sich vom Ernst eines weltbeherrschenden Denkens zu befreien.

    Der Mystiker fühlt sich in der Unvernunft wohl, weil er weiß, dass diese Unvernunft das Vorspiel zur echten VERNUNFT ist, derjenigen, die wir bei unserer geringen Weisheit, Torheit nennen: Denn die göttliche Torheit, sagt Paulus, ist weiser, als die Menschen sind. Oder auch: Sei Sünder, wie Sankt Augustin, um dich richtig zu bekehren.

    Steht somit die Mystik der Trunkenheit wie der Ironie nahe, weil alle drei den Märkten dieselbe Lächerlichkeit wie den Millionären bescheinigen, wenn diese sich um ihr Vermögen sorgen? Jedenfalls fordert Jankélévitch wie Bergson eine Rückkehr zum einfachen Leben:

    Wenn wir die Verzweiflung, (...), heilen wollen, müssen wir uns vereinfachen und das Vertrauen in die Spontaneität des Herzens wiedergewinnen. Glücklicherweise stellt sich die Ironie nicht dieser Vereinfachung entgegen, und sie begünstigt sie nach allem sogar.

    Man könnte das frühökologisch nennen. Nur ist eine ökologische Umkehr ja überhaupt nicht absehbar. Just gegen solche alten wie neuen Dogmen der Einfachheit wie der Natürlichkeit wendet sich längst die Ironie, hat sie sich dem Ironiker Jankélévitch hinterrücks entzogen, zersetzt sie heute just das, was ihm Ernst ist, die allzu große Vision vom einfachen Leben.

    Vladimir Jankélévitch: Die Ironie (1964)
    Suhrkamp, Berlin 2012, 185 S.