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Der Weg in den Ersten Weltkrieg
"Deutschland hatte 1914 nur für drei Monate Kriegsmaterial vorgesorgt"

Mit der Ukraine gibt es heute mitten in Europa einen Konfliktherd. Vor 100 Jahren lag er nur etwas weiter westlich. Mit einem Krieg habe damals niemand gerechnet, sagte der Historiker Gerd Krumeich im Deutschlandfunk. "Der Krieg gilt damals noch wirklich als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln."

Gerd Krumeich im Gespräch mit Christoph Heinemann | 25.07.2014
    Zu sehen sind jubelnde Soldaten am Fenster eines Zuges, der sie im August 1914 an die Front des Ersten Weltkrieges bringt.
    Mobilmachung im August 1914 in Deutschland: Bayerische Soldaten winken in euphorischem Glauben an einen schnellen Sieg aus den Fenstern eines Zuges, der sie an die Front bringt. (dpa)
    Vor 100 Jahren hatte die Juli-Krise mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien den Weg zum Ersten Weltkrieg geebnet. Nach dem Attentat auf den Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand, mühten sich Diplomaten tagelang um eine Lösung der Krise. "Niemand rechnet damit, dass es zum Krieg kommen könnte", sagte Gerd Krumeich, Historiker und Autor des Buches "Juli 1914 - eine Bilanz", im Deutschlandfunk.
    "Der Krieg gilt damals noch wirklich als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln. Ist die Politik in der Sackgasse, darf ich Krieg führen." Krumeich sagte weiter, gerade die Deutschen hätten damals ihre Zukunftsperspektive als düster empfunden. "Zukunftsangst. Das ist auch das Wort, das darf man nicht unterschätzen. Man ist der Meinung, in Deutschland, aber auch in anderen Ländern damals, ein großer Staat muss ein Empire werden. Man kann nur überleben im Konkurrenzkampf der Großen, wenn man selber sehr groß ist. Deshalb ist eine Größer-werden-Idee immer verbunden mit einer Niedergangsidee, wie das damals gesagt wird: Weltmacht oder Untergang."
    "Die Steinmeiers aller Länder wissen heute genau, um was es geht."
    Deutschlands Vorgehen sei von Hybris und Arroganz getragen gewesen, sagte der Historiker. Vier Wochen seien für die Einnahme Frankreichs eingeplant gewesen. "Deutschland hatte 1914 nur für drei Monate Kriegsmaterial vorgesorgt." Die Generäle hätten außerdem erklärt, eine Katastrophe Europas verhindern zu können. Damals habe sich niemand einen Krieg mit Millionen von Toten vorstellen können.
    Die Erfahrung von zwei Weltkriegen und vielen Konflikten habe die Bereitschaft der Politiker zur Konfliktlösung geschärft, sagte Krumeich. "Die Steinmeiers aller Länder wissen heute genau, um was es geht." Solche Außenminister würden heute "schon versuchen, dem anderen zuzuhören, eine Politik zu machen, wo der andere sein Gesicht bewahren kann - das war damals nicht der Fall".

    Das Interview mit Gerd Krumeich in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Hätten die beiden Herren gewusst, welchen Sprengstoff das Stück Papier enthielt, wer weiß: Vielleicht hätten sie es zerrissen, oder die Übergabe oder die Annahme verweigert. Heute vor genau 100 Jahren übergab der serbische Ministerpräsident Pasic dem österreichischen Gesandten in Belgrad, Baron Giesl, die Antwort auf das österreichische Ultimatum. Wien hatte gefordert, Beamte der Doppelmonarchie müssten in Serbien an der Untersuchung des Mordes am österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seiner Frau beteiligt werden. Die Regierung in Belgrad lehnte das in einer Note ab, die bis heute als diplomatische Meisterleistung gilt. Und dann marschierte, schlitterte, glitt Europa oder torkelte schlafwandlerisch in die "Götterdämmerung der bürgerlichen Welt", wie August Bebel den kommenden Krieg Jahre vor dem Juli 1914 bezeichnet hatte.
    Vor dieser Sendung habe ich darüber mit dem Historiker Professor Gerd Krumeich gesprochen. Bis zu seiner Emeritierung lehrte er Neuere Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Gerd Krumeich gilt als einer der besten Kenner der Geschichte des Ersten Weltkrieges und er hat in diesem Jahr ein Buch vorgelegt mit dem Titel "Juli 1914 - eine Bilanz". Mit ihm habe ich vor dieser Sendung das folgende Gespräch geführt: Professor Krumeich, bildete dieser 25. Juli 1914 den endgültigen Wendepunkt hin zuerst zum Krieg und dann zum Weltkrieg?
    Gerd Krumeich: Nein, auf keinen Fall den endgültigen Wendepunkt. Eigentlich fängt die Krise ja zu diesem Zeitpunkt erst richtig an. Wenn man von der Julikrise spricht, gut, das ist der Anfang. Am 28. Juni war das Attentat und dann geht es richtig los ab dem 24., 25. Juli, als das österreichische Ultimatum bekannt wird. Dann wird das auch ein öffentliches Problem, dann erregen sich die Menschen. Vorher ist zwar viel Geschiebe hinter den Kulissen der Diplomatie, aber wenig öffentliche Aufregung. Niemand rechnet damit, dass es zum Krieg kommen könnte.
    Heinemann: Haben die Serben das österreichische Ultimatum auch deshalb abgelehnt, weil sie wussten, dass Russland Serbien militärisch unterstützen würde?
    Krumeich: Jein. Auf der einen Seite ist Serbien schon lange vorher entschlossen, demütigenden Bedingungen zu widerstehen. Das hat die serbische Regierung mehrfach bekannt gegeben. Auf der anderen Seite weiß Serbien überhaupt nicht, wie weit Russland sie beschützen will. Jedenfalls was die Reaktion auf das Ultimatum angeht, die Serben haben es gemacht, ohne dass sie in irgendeiner Weise von den Russen dazu direkt ermutigt worden wären.
    Ich sage das mit besonderer Klarheit, weil es gerade in der deutschen oder deutschfreundlichen Historiografie immer anders geschoben wird. Christopher Clark hat ja in seinem berühmten Buch jetzt gesagt, dass ein Telegramm aus Sankt Petersburg die Serben erst zu diesem Widerstand angeheizt hätte. Nein! Dieses Telegramm aus Sankt Petersburg ist ein Bericht des serbischen Botschafters - das hätte er auch sagen können -, des serbischen Botschafters in Petersburg, der sagt, er hat schon Truppenbewegungen gesehen. Die haben andere auch gesehen, auch der deutsche Militärattaché in Russland. Man weiß nicht mal, ob dieses Telegramm rechtzeitig angekommen ist. Es gibt kein Dokument, was zeigen könnte, dass die Russen, sagen wir, was oft behauptet worden ist, den Serben den Text diktiert hätten, oder ihnen gesagt hätten, ihr müsst das unbedingt ablehnen. Nein!
    Heinemann: Christopher Clark - Sie beziehen sich auf das Buch "Die Schlafwandler". Er sieht ja den Panslawismus und den Druck Russlands auf Österreich-Ungarn als hauptverantwortlich für den Kriegsausbruch. Wie weit teilen Sie diese Bewertung?
    Krumeich: Ja, irgendwie sind alle für diesen Kriegsausbruch verantwortlich: der Panslawismus, das Alldeutschtum, der überall vorhandene Sozialdarwinismus. Wenn ich so weit gehe, dann bin ich wirklich wieder an dem Punkt zu sagen, damals gibt es dermaßen viele Ismen, dermaßen viele Zukunfts- und antagonistische feindselige Zukunftsvorstellungen, dass es zum Clash kommen konnte.
    "Zorn genug war überall"
    Aber jetzt in besonderer Weise den Panslawismus dafür verantwortlich zu machen, wenn ich das sage - ich kann das sagen -, dann muss ich aber auch gleichzeitig sagen, welche Eingrenzungspolitik Österreich-Ungarn gegenüber Serbien durchgeführt hat in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Das wird dann leicht vergessen, dass Österreich-Ungarn ja auch noch 1908 Bosnien und die Herzegowina, die die Serben als doch ihre Gebiete betrachten, einfach schlicht annektiert hatte gegen jedes Völkerrecht. Zorn genug war überall.
    Heinemann: Annexionskrise. - Professor Krumeich, war einer der Staaten so sehr in seiner Existenz gefährdet, dass er zum Krieg als letztem Hilfsmittel hätte greifen müssen?
    Krumeich: Man muss eins wissen, um die damaligen Menschen richtig beurteilen zu können: Der Krieg gilt damals noch wirklich als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln. Ist die Politik in der Sackgasse, darf ich Krieg führen. Man kann sagen, dass Endzeitvorstellungen oder Katastrophenvorstellungen überall herrschen, besonders stark in Deutschland, in Österreich-Ungarn und in Russland. Das sind auch die drei Großreiche, die durch Demokratisierung von innen her, durch Revolutionen und so weiter am meisten bedroht sich fühlen, und für Deutschland kommt noch eins hinzu: Die Zukunftsperspektive ist düster.
    Heinemann: Die Sie als Zukunftsangst beschrieben haben.
    Krumeich: Ja, Zukunftsangst. Das ist auch das Wort, das darf man nicht unterschätzen. Man ist der Meinung, in Deutschland, aber auch in anderen Ländern damals, ein großer Staat muss ein Empire werden. Man kann nur überleben im Konkurrenzkampf der Großen, wenn man selber sehr groß ist. Deshalb ist eine Größer-werden-Idee immer verbunden mit einer Niedergangsidee, wie das damals gesagt wird: Weltmacht oder Untergang.
    Die Groteske des Schlieffen-Plans
    Heinemann: Militärische Grundlage der Außenpolitik war auf deutscher Seite der Schlieffen-Plan, der ja einen raschen Sieg in Frankreich voraussetzte, um dann die russische Armee, den Bären, die Dampfwalze, die nur sehr langsam mobilisiert werden konnte, schlagen zu können. Wie sehr, Herr Professor Krumeich, war die deutsche Außenpolitik in diesem militärischen Plan gefangen?
    Krumeich: Sie war vollständig in ihm gefangen. Sie war vollständig von ihm abhängig, mit der ganzen Ironie, dass die Außenpolitiker nicht einmal richtig wussten, was denn drin stand im Schlieffen-Plan. Jagow, der "Außenminister", in Anführungszeichen, Staatssekretär des Auswärtigen - wir hatten ja keinen Außenminister damals -, fragte im April 1912 bei den Generalen an: Hört mal, ich habe gehört, ihr habt da so einen Plan, dass wir durch Belgien gehen, und dann sagt man ihm, da brauchst du dich nicht drum kümmern, das ist nicht deine Angelegenheit, das ist Angelegenheit des Kaisers und der Militärs. Das ist die Krux.
    Wir haben einen Schlieffen-Plan gehabt, einen Plan, der eine ungeheuere Arroganz gegen Frankreich verströmt. Vier Wochen will man brauchen, um Frankreich zu schlagen. Und das geht natürlich, wenn man bis Paris in vier Wochen rennen will, 35 Kilometer am Tag. Na ja, aber dann darf nicht viel Widerstand sein. Und im Schlieffen-Plan steht drin: Wesentlicher Widerstand ist nicht anzunehmen. Man hält die Franzosen für dekadent und für Hasenfüße. Das ist die eine Groteske des Schlieffen-Plans und die andere ist, dass er eben darauf aufbaut, Russland macht ganz langsam mobil. Und wenn die Russen dann mit ihrer Mobilmachung fertig sind, nach ungefähr drei Wochen, sind wir so weit mit den Franzosen fertig, dass wir ganz uns gegen Russland wenden können, und das ist der große Irrtum. Die Russen wissen das auch und die Franzosen, dass es den Schlieffen-Plan gibt, und die Franzosen tun alles, um die Russen darin zu bestärken, ihren Aufmarsch zu beschleunigen. Tun die Russen auch. Und je schneller das geht, desto mehr Angst bekommen die Deutschen, weil der Schlieffen-Plan sakrosankt ist.
    Drei Monate, maximal
    Heinemann: Gibt es diese Fehleinschätzungen auf allen Seiten? Oder anders gefragt: Welche Vorstellungen vom kommenden Krieg hatten die Entscheider im Juli 1914?
    Krumeich: Es ist eine entscheidend wichtige Frage, wenn man von der Urkatastrophe spricht, die die damals losgemacht haben. Haben sie auch, aber sie wussten es nicht. Sie hatten keine Vorstellung von einem Krieg mit Gas, mit Panzern, mit so weittragenden Geschützen, mit Millionen von Toten. Das hatten sie nicht. Sie hatten Ahnungen.
    Man sprach oft und gerne von der Katastrophe, die möglich ist. Aber dann kamen wieder die schlauen Generale und sagten, wir wissen genau, wie wir die Katastrophe Europas verhindern. Wir machen schnelle, entschiedene Offensivschläge und dann ist das ganze Spektakel in maximal drei Monaten vorbei. Deutschland hatte 1914 nur für drei Monate Kriegsmaterial vorgesorgt. Keinerlei Bewirtschaftung der Lebensmittel, keinerlei Propaganda, nichts für einen längeren Krieg. Drei Monate hat man gedacht, und das haben die Generale den Politikern gesagt, maximal.
    Heinemann: Wieso hielt kein Staat die Erhaltung des Friedens für so vordringlich, dass er dafür Macht- oder auch einen Prestigeverlust hingenommen hätte?
    Krumeich: Für niemanden unter den damaligen Staaten ist der Frieden irgendwie ein höchstes Gut. Ein höheres vielleicht. Man will schon friedlich bleiben. Die wollen keinen Krieg im Juli. Es gibt welche, die Kriegshetzer sind, weil sie sagen, der Krieg ist natürlich und die Menschheit braucht den Krieg. Das sind wenige. Aber wichtiger ist es, dass die Politik den Krieg in ihr politisches Kalkül noch einbezieht, weil man nicht weiß - man hätte es wissen können -, wie weit der Krieg sich entwickelt.
    Heinemann: Herr Professor Krumeich, wir erleben gerade wieder in der Ukraine, im Nahen Osten, dass dort, wo Krieg herrscht, Propaganda nicht weit entfernt ist. Stefan Zweig hat im August 1914 geschrieben: Wie nie fühlten Tausende und Hunderttausende Menschen, was sie besser im Frieden hätten fühlen sollen, nämlich dass sie zusammengehörten. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl ist ja oft beschrieben worden, der berühmte August '14. War diese Begeisterung tatsächlich vorhanden, oder war das auch nur Propaganda?
    Krumeich: Begeisterung ist ein weites Wort. Es gab Städte wie München, wie Hamburg, wie Berlin, wo die durchziehenden Regimente aufeinanderschlugen, wo die Soldaten auch getrunken hatten und zu trinken bekamen, und da wurde geschrien und gejohlt. Das ist rübergekommen mit Massen, die dabeistanden. Das ist dann bis heute rübergekommen als die sogenannte August-Begeisterung.
    Wenn man etwas tiefer schaut ins ländliche Deutschland, und damals sind weit über 80 Prozent der deutschen Städte ländliche Gegend, also wenn man ins wahre Deutschland reinguckt, dann ist eine große Besorgnis da. Dann ist ein Abschiednehmen da, dann sind sehr viele Tränen da und es ist eine Art von, ich möchte mal sagen, heiliger Stimmung, wie man damals sagte, Begeisterung in diesem kirchlichen Sinn. Hoch die Herzen, wir sind begeistert von der Aufgabe, die da kommt. Wir müssen Deutschland schützen. So sind die Soldaten rausgezogen, die allermeisten, nicht jubelnd und grölend. Die paar Bilder, die wir haben, mit "Auf nach Paris, mich juckt die Säbelspitze", das sind ein paar Propagandabilder. Die spiegeln leider nicht die wirkliche Situation, die es damals überall gegeben hat, übrigens in Frankreich genau wie in Deutschland.
    "Wir haben 100 Jahre mehr Erfahrung mit Politik und mit Krieg"
    Heinemann: Machen wir einen Exkurs 100 Jahre später. Sehen Sie heute - Ukraine, Naher Osten - wieder Schlafwandler unterwegs?
    Krumeich: Eigentlich denke ich nicht, dass Geschichte sich wiederholt, und unsere Staatsleute - das sieht man ja jeden Tag - haben von denen damals enorm viel gelernt. Die Steinmeiers aller Länder wissen ganz genau, um was es geht. Und wir haben natürlich auch die Drohung, viel massiver als damals, dass jeder Krieg zu einem atomaren Krieg und zu einem Vernichtungskrieg werden kann. Das haben sie zwar damals auch schon ein bisschen gewusst, aber sie hatten ja noch keine Atombomben, und die haben wir. Das ist der qualitative Unterschied.
    Außerdem ist man heute durch die Erfahrung von zwei Weltkriegen und vielen anderen Konflikten so weit, schon zu versuchen, dem anderen zuzuhören, eine Politik zu machen, wo der andere sein Gesicht bewahren kann. Das war damals nicht der Fall. Deshalb telefonieren die den ganzen Tag. Die hatten damals, 1914, auch Telefone. Kein Mensch hat telefoniert damit. Zwischen Wien und Berlin wurde nicht telefoniert, wäre auch möglich gewesen. Also da ist die Stimmung anders. Wir haben 100 Jahre mehr Erfahrung mit Politik und mit Krieg, und das ist ein entscheidender Unterschied.
    Heinemann: Der Historiker Professor Gerd Krumeich, Autor des Buchs "Juli 1914 - eine Bilanz", in dem einer ausführlichen historischen Analyse auch die wichtigsten Dokumente dieses Juli 1914 beigefügt sind.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.