Dienstag, 16. April 2024

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"Der Westen hilft uns nicht"

Anfang nächster Woche wird Detlev Mehlis seinen Bericht zum Mord an Libanons Ex-Ministerpräsidenten Hariri vorlegen. Das Ergebnis wird für Syrien vermutlich weit reichende Folgen haben. Denn sollten Mitglieder der syrischen Führung an dem Mordkomplott beteiligt gewesen sein und Mehlis dies beweisen können, wird es für Präsident Bashar Al Assad eng. Zu dem Druck von außen könnte dann auch noch Druck von innen kommen. Kristin Helberg berichtet aus Aleppo.

10.12.2005
    Aleppo am späten Freitagvormittag. Die Metropole der Händler und Geschäftsleute wird zu einer Stadt der Gläubigen. Statt von hupenden Autos sind die Strassen erfüllt von hundertfachen Gebetsrufen. Männer in bodenlangen weißen Galabias eilen zu den Moscheen. Samir Naschat, Oppositioneller und Unternehmer, steht am Fenster seiner fein möblierten Wohnung und blickt auf die Minarette der Umgebung.

    "Die Moscheen haben sich in den letzten 30 bis 40 Jahren unglaublich vermehrt. Hier steht eine, da vorne noch eine, dort drüben die nächste. Ich bin nicht gegen Religion. Ich frage mich nur, ob wir hier im Umkreis von 500 Metern vier Moscheen brauchen oder vier Krankenhäuser, Gesundheitszentren oder Schulen."

    Aleppos Moscheen sind gut besucht, vor allem von jungen Leuten. Für westliche Ohren klingt manche Freitagspredigt leidenschaftlich bis bedrohlich. Wer die Inhalte nicht versteht, vermutet Gewaltaufrufe und anti-westliche Polemik. Dabei geht es in der Regel um gesellschaftliche Themen: Ehrlichkeit, Respekt, Hilfsbereitschaft. Die laute Rhetorik muss leider sein, sagt Mahmoud Al Akam, einer der einflussreichsten Scheichs von Aleppo.

    "Ich spreche über fortschrittliche Themen, aber mit starken Worten. Ich weiß, so sollte man nicht reden, aber ich muss diese Sprache benutzen, um den Radikalen entgegenzutreten."

    Extremistische Gedanken existieren in Syrien offiziell nicht. Aus Angst vor staatlicher Verfolgung äußern sich Islamisten nur hinter vorgehaltener Hand, erklärt Al Akam:

    "Ich kenne sie durch meine Arbeit. Ich weiß Dinge, von denen die Regierung keine Ahnung hat, denn mir gegenüber sind sie offener. Nach den Anschlägen von London kamen einige junge Leute zu mir und freuten sich. Ich habe ihnen gesagt, dass diese Aktionen furchtbar sind und Gott die Attentäter verflucht. Dann waren sie still."

    Gewaltbereite Islamisten stellen in Syrien nicht mehr als 3 Prozent der Bevölkerung – darin sind sich Regierung, Religiöse und säkulare Oppositionelle einig. Die Mehrheit der syrischen Muslime ist moralisch konservativ, aber unpolitisch und tolerant gegenüber Andersgläubigen. Geschäftsmann Samir Naschat spricht von einer generellen Rückkehr zur Religion. Als überzeugter Liberaler will er deshalb gemäßigte Islamisten an der Politik beteiligen.

    "In Syrien gibt es keine organisierte Form von Islam, aber einen fruchtbaren Boden dafür. Viele meiner Freunde gehen in die Moschee – Ärzte, Ingenieure, Unternehmer – das sind keine Fundamentalisten. Sie beten und fasten, aber sie engagieren sich nicht politisch, solange es das Gesetz Nr. 49 gibt. Der politische Islam sollte unter demokratischen Bedingungen erlaubt werden, das ist die einzige Lösung."

    Gesetz Nummer 49 stellt die Unterstützung der Muslimbrüderschaft unter Todesstrafe. Anfang der 80er Jahre hatte die Organisation versucht, das syrische Regime zu stürzen, die Regierung ging damals mit aller Härte gegen die Islamisten vor. Tausende starben, kamen ins Gefängnis oder flüchteten ins Ausland. Der Chef der syrischen Muslimbrüder, Ali Sadr Ad-Din Al Bayanouni, lebt im Londoner Exil. Dort hat Abdel Razaq Eid, ein bekannter Intellektueller aus Aleppo, den Parteichef getroffen:

    "Er hat von einem gemäßigten demokratischen Islam geredet. In ihrem Programm steht, dass sie Pluralismus wollen, Gewalt ablehnen, demokratische Wahlen akzeptieren und so weiter. Wir hoffen, dass sich die Muslimbrüder entwickeln wie die Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei in der Türkei."

    Das türkische Modell ist in Syrien zur Zauberformel geworden, beweist es doch, dass sich der Islam in ein demokratisches System integrieren lässt. Die Regierung von Ministerpräsident Erdogan dient als Vorbild, wie islamische Vorstellungen in die Politik eingehen können, ohne die Religion selbst zum Programm zu erheben. Auch Syriens Großmufti Ahmad Hassoun schwärmt vom türkischen Weg, er besteht auf eine Trennung von Politik und Religion:
    "Eine Partei mit einem religiösen Motto macht ihre Gegner automatisch zu Ungläubigen. Wenn ich gegen die Muslimbrüder bin, werden mir die Leute unterstellen, ich sei gegen den Islam. Aber nein, ich bin gegen die Partei, nicht gegen den Islam. Oder bin ich gegen das Christentum, wenn ich nicht die CDU wähle? Eine Gesellschaft nach religiösen Kriterien zu ordnen, ist sehr gefährlich."

    Hassoun vertritt die offizielle Linie der Regierung. Sollte Damaskus irgendwann ein neues Parteiengesetz erlassen, blieben religiöse Parteien verboten. Um jeder Form von organisiertem Islam entgegenzuwirken, überwacht der syrische Geheimdienst genau, was in den Moscheen passiert, sagt Scheich Al Akam:

    "Die Regierung verlangt zwar nicht, dass wir unsere Predigten einreichen, aber sie schickt Geheimdienstler, die uns kontrollieren. Sollte ihnen eine Predigt nicht passen, kommen sie und verwarnen uns."

    Seine Kollegen und er wissen genau, wie weit sie sich in politischen Fragen vorwagen dürfen, so Al Akam. Die Besatzung Palästinas und Iraks anzuprangern, sei in Ordnung, das syrische Regime in Frage zu stellen, dagegen nicht. Ansonsten dürfen Syriens Scheichs sagen was sie wollen, behauptet Abdel Razaq Eid:

    "Es gibt konservative Scheichs, die alles mögliche predigen. Gegen die Frau zum Beispiel; wir müssen sie umbringen, wenn sie dies und jenes tut. Aber damit haben die Geheimdienstler kein Problem. Radikale Positionen in Glaubens- und Gesellschaftsfragen sind okay, Hauptsache sie richten sich nicht gegen das Regime. Syrien bekämpft den Islamismus sicherheitstechnisch, aber nicht gedanklich und kulturell."

    Das Problem ist, dass in Syrien überhaupt kein gesellschaftlicher Diskurs stattfindet, so der Oppositionelle. 40 Jahre Baath-Ideologie hätten das intellektuelle Leben erstickt. Die einzigen Orte, an denen sich die Syrer versammeln und reden können, sind die Moscheen, meint Eid:

    "Das totalitäre Baath-Regime, das sich als säkular bezeichnet, hat alle Türen zugeschlagen bis auf die der Moscheen. Die Islamisten haben Kanzeln, aber wir Säkularen haben keine Rednerpulte."

    Linke Intellektuelle wie Eid haben in Syrien kaum Rückhalt in der Bevölkerung. Für Scheich Al Akam gibt es deshalb nur ein wirksames Mittel gegen islamistische Fanatiker: die Förderung eines gemäßigten, aufgeklärten und fortschrittlichen Islam:

    "Die Radikalen werden mehr, aber gefährlicher als das ist die Tatsache, dass ich mich ihnen gegenüber schwach fühle. Der Westen hilft uns nicht. Die Regierung ist rückständig, die Islamisten sind rückständig und wir Gemäßigten in der Mitte kämpfen auf verlorenem Posten."

    Moderate Muslime sind in Syrien nur willkommen, solange sie regimetreu sind. Als Oppositionelle stellen sie für Damaskus eine Gefahr dar, da sie weite Teile der Gesellschaft ansprechen könnten. Mahmoud Al Husseini, Aleppos führender Sufi-Scheich, ist überzeugt, dass sich im Falle eines Regimewechsels ein demokratischer Islam durchsetzen wird. Der Extremismus sei eine Folge von Unterdrückung und Unfreiheit.

    "Sobald es hier Freiheit gibt, haben die Radikalen nichts mehr zu melden. Ich kenne die Syrer, sie sind nicht radikal, sondern ausgeglichen und friedliebend. Ich glaube, wenn sich der liberale Islam in Syrien durchsetzt, könnte das ein Beispiel für die ganze islamische Welt sein."