Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Der Zauber chinesischer Exotika

Seit dem 16. Jahrhundert gibt es ein wechselseitiges Interesse zwischen China und der westlichen Welt. Es ist nicht gleichbleibend stark, aber doch kontinuierlich und seit einigen Jahren wieder besonders ausgeprägt. Zwei Münchner Ausstellungen und die beiden begleitenden außergewöhnlichen Katalogbücher erlauben einen umfassenden kulturgeschichtlichen Rückblick.

Von Martina Wehlte | 02.09.2009
    Jedes Jahr im März finden auf Taiwan Mazu-Prozessionen statt, die einen jahrhundertealten Kult lebendig halten: Die Verehrung Mazus, der Göttin der Seefahrenden, der zahllose prächtige Tempel auf der Insel geweiht sind. Darin dokumentiert sich eine tiefe Religiosität, die der taiwanesische Künstler Lin Chih-hsin in fast zwanzigjähriger Arbeit mit einer grandiosen Holzschnittfolge dokumentiert hat.

    In dem Band "Mazu, Chinesische Göttin der Seefahrt" wird dieses 124 Meter lange und 1995 vollendete Werk vorgestellt. Claudius Müller schreibt hierzu:

    "Die Vollendung der Bilderserie ist das Ende eines Pilgerweges, in dem sich Legende, Geschichte, Ritual und fromme Verehrung der Göttin Mazu durch die Teilnehmer der Prozession in ihm selbst widerspiegeln. Es ist ein Pilgerweg, auf den sich Lin Chih-hsin lange Jahre zuvor begeben hatte und der ihn mit viel Mühsal, körperlicher Belastung und wohl auch künstlerischen Zweifeln belastet hat."

    Zum tausendjährigen Jubiläum der Himmelfahrt dieser Göttin war das Werk fertig und es wurde 1996 der chinesischen Öffentlichkeit vorgestellt. Seither wurde es vom National Museum of History Taipeh nach Litauen, Lettland und - derzeit - nach München ausgeliehen, wo es noch bis zum 4. Oktober im Staatlichen Museum für Völkerkunde zu sehen ist. Der Betrachter taucht in eine für Europäer faszinierende fremde Welt ein, wenn er das Holzschnittband von rechts nach links "liest", wie es der Bildfolge alter chinesischer Bücher entspricht und wie auch das Katalogbuch es erfordert von hinten zur Mitte hin zu blättern.

    'Mazu' heißt "Mütterchen" oder "mütterliche Ahnfrau" und bezeichnet eine Himmelsgottheit, die besonders im religiösen Leben des südlichen China lebendig war. Sie weist Parallelen zur christlichen Muttergottes Maria auf, insofern sie als leidgeprüfte und trostreiche Frau um Hilfe in großer Not angerufen wird. Frauen bitten um Fruchtbarkeit, Seeleute um Schutz auf dem Meer und die Bewohner der Küsten- und Flussregionen um die Abwehr von Flutkatastrophen, wie sie in China häufig drohten.

    Mazu ist neben Miaoshan und Linshui eine der überregional bedeutsamen Gottheiten, die als junge Frauen eine ähnliche Lebensgeschichte hatten und nach ihrem Tode in den Himmel aufgenommen wurden. Der Überlieferung nach wurde sie im Jahre 960 in der Provinz Fuijan geboren, in den daoistischen Geheimlehren unterwiesen und schließlich mit magischen Fähigkeiten ausgestattet. So konnte sie ihren Landsleuten aus Bedrängnis helfen, die Brüder, schicksalhaft aber nicht den Vater vor dem Ertrinken retten, ein Umstand, der sie ins Spektrum der Wassergottheiten einreiht.

    Dieser Synkretismus ist typisch für den lebendigen Volksglauben in Taiwan und kennzeichnet auch andernorts volkstümliche Frömmigkeit und Brauchtum.

    Den Textausführungen zu Lin Chih-hsins Bilderfolge liegen zwei chinesische Kataloge zugrunde, die für die deutsche Ausgabe übersetzt und bearbeitet wurden. Darin heißt es erklärend:

    "Die religiösen Vorstellungen der chinesischen Bevölkerung auf Taiwan setzen sich aus dem Glauben an im Himmel und auf Erden waltende Gottheiten, der Verehrung historischer Volkshelden und lokaler, oft legendärer Persönlichkeiten sowie konfuzianischem, daoistischem und buddhistischem Gedankengut zusammen."

    Tainan, die ehemals südliche Metropole Taiwans und Heimat Lin Chih-hsins ist mit seinen architektonisch charakteristischen Tempeln, den Tempelfesten und Umzügen das Zentrum des Mazu-Kults und das Fest zu Ehren der Göttin ist eines der drei größten religiösen Feste weltweit. Lin Chih-hsins Holzschnittfolge beginnt mit der Himmelfahrt Mazus, die, umgeben von musizierenden weiblichen Gestalten, in den Wolken schwebt. Umzüge von Gläubigen in traditionellen Volkstrachten mit Lampions und beschrifteten Bannern, reich verzierte Pagoden, geschmückte Altäre, Kriegsschiffe mit donnernden Kanonen begegnen ebenso wie Gottheiten, mythologische Figuren und Heroen der Geschichte. Als Tausendfüßlergruppe verkleidete Jungen und Mädchen werden auf geschmückten Brettern getragen, ein Kampf zwischen Bullen ist dargestellt, Stelzenläufer und Drachentänzer bevölkern die übervollen Bilder der "Feierlichen Begrüßung der Mazu", wie der Titel des monumentalen Werkes lautet. Mit ihm hat sich der Künstler als ein "Historiograf mit Schneidemesser und Pinsel" erwiesen, wie es im Begleittext heißt, weil er den großen Umzug zu Ehren der Mazu in der Form festgehalten und der Nachwelt überliefert hat, wie er ihn in seiner Jugend in den 50er-Jahren erlebt hat. Eine Herkulesarbeit, wie sie nur wenige Künstler auf sich nehmen, die wie Lin Chih-hsin oder der deutsche Maler Werner Tübke mit seinem Bauernkriegspanorama gegen den zeitlichen Wandel und das Vergessen mit ihren je eigenen Mitteln angegangen sind.

    Ein Apercu zu dem vorgestellten Werkkomplex, aber auch ein taugliches Bindeglied zwischen den Kulturkreisen ist eine Reihe von vierunddreißig bemalten, kostbar verzierten Pilgerstäben, die der Münchner Künstler Ludwig Denk gestaltet hat. Sie schlagen den Bogen zu religiöser Verehrung, Pilgerschaft und Wallfahrten von Christen, Juden, Hindus, Muslimen oder Buddhisten. Weltweit gehen etwa 40 Millionen Menschen im Jahr auf Wall- oder Pilgerfahrt.

    Künstlerisch wurde das Thema "Pilgerstäbe" bisher noch nicht behandelt, haben die Stäbe doch in erster Linie einen funktionellen Charakter. Ludwig Denk hat sie durch eine aufwendige Gestaltung mit Knaufen in Form eines Fisches, einer Feder, eines Horns oder einer Figur zu mehr als nur einem Pilgerattribut gemacht. Sie symbolisieren ihre Träger als Reisende mit einem konkreten Ziel wie auch als Reisende auf einem mehr oder weniger mühsamen Lebensweg. Fantastisch sind nicht nur die Objekte selbst, sondern auch ihre Zuordnung an einen Kirchenfürsten, einen Hopi-Indianer, eine Marketenderin oder eine Eva.

    Die europäische Tradition der Pilgerfahrten zu Ehren von Heiligen ist beispielhaft in einem illustrierten Kapitel über Santiago de Compostela, die Grabeskirche in Jerusalem, Lourdes oder die Trachtlerwallfahrt im Chiemgau dargestellt.

    Das Reisen zum Zweck der religiösen Bereicherung, der Wissenserweiterung und des interkulturellen Austauschs war Grundlage für die vierhundertjährigen Beziehungen zwischen China und Bayern und es ist das Stichwort für eine weitere schwergewichtige Publikation zu einem ostasiatischen Thema: "Die Wittelsbacher und das Reich der Mitte". Das Interesse an China als aufstrebender Wirtschaftsmacht wird seit einigen Jahren von einer intensiven Auseinandersetzung mit Chinas Kunst in Vergangenheit und Gegenwart begleitet. So ist die zeitgenössische chinesische Malerei hierzulande durch mehrere profunde Darstellungen bekannt gemacht worden. Diese allgemeine Aufmerksamkeit hat China für das Bayerische Nationalmuseum zu einem naheliegenden Ausstellungsthema gemacht, wie die Generaldirektorin Renate Eikelmann erkärt:

    "China war in aller Munde. Wir machen grundsätzlich Ausstellungen, die von unserem Bestand ausgehen, und da wir ostasiatische Dekore, Porzellane und chinoise Möbel haben, so wurde die Idee letztlich geboren und das Konzept wurde immer größer. Also ausgehend von chinesischem Porzellan wurde das schließlich 400 Jahre Kunsthandwerk"

    Dass es eine lebendige Partnerschaft zwischen Shandong und Bayern gibt, spielte für die rein wissenschaftliche und kulturhistorische Motivation des Projekts zwar keine Rolle. Die Tatsache lässt aber ohne Weiteres Parallelen ziehen zu den Anfängen der chinesisch-bayerischen Beziehungen. Sie standen zwar im Zeichen der Jesuitenmission Mitte des 16. Jahrhunderts, doch die Intentionen waren weitergehend. Zumal sich eine christliche Missionierung in dem östlichen Reich schon bald als wenig erfolgreich herausstellte. 1617 übersandte der bayerische Herzog Maximilian I. dem chinesischen Kaiser kostbare Geschenke und bald darauf nahmen bayerische Jesuiten einflussreiche Stellungen am Kaiserhof, am Astronomischen Amt und in den kaiserlichen Werkstätten ein. Hierzu Renate Eikelmann:

    "Einmal war es für Maximilian I., wir haben die Briefe schon erwähnt, die auch im Katalog veröffentlicht sind, sicher ein religiöser Hintergrund – er war den Jesuiten sehr zugetan – aber auf der anderen Seite, wie er in seinem ersten Entwurf an den Kaiser von China entwirft und sagt: Es sollte ein Bündnis der Freundschaft und des Handelsverkehrs werden."

    Aus den im Katalogbuch erst mals veröffentlichten Briefen Maximilians und seiner Frau Elisabeth von Lothringen an das chinesische Kaiserpaar spricht eine tiefe persönliche Frömmigkeit, die unter anderem von Maximilians sorgfältiger jesuitischer Erziehung herrührte und sich in seiner Unterstützung namentlich des Paters Nicolas Trigault niederschlug. Eine chinesische Übersetzung der Vita Domini nostri Jesu Christi, die als Gastgeschenk nach Peking ging, zeugt davon.

    Wie wurde Pater Trigault am Kaiserhof aufgenommen?

    "Trigault hat es sehr weit gebracht; natürlich insbesondere durch die Geschenke; die Geschenke wurden – vermutet man jedenfalls – von ihm mit ausgesucht, gerade Uhren, astronomische Instrumente der Jesuit wusste, wie spannend das für den chinesischen Hof bzw. für den chinesischen Kaiser war und das öffnete ihm Tor und Tür, wie späteren Missionaren auch."

    Die Geschenke und der Wissenstransfer gingen bis ins 18. Jahrhundert hin und her, wie die opulent bebilderte Publikation vor Augen führt. Da ist die Äquatorialsternkarte von Ignaz Kögler aus dem Jahre 1723, das Forschungsergebnis eines bedeutenden Astronomen, wie Renate Eikelmann ausführt:

    "Ignaz Kögler, der berühmte Jesuit am Hof, Mandarin zweiter Klasse, hat allein 1600 neue Sternformationen gefunden, die übrigens bis heute in China gültig sind, und diese Sternkarte entwickelt, die dann nach Bayern geschickt wurde; sie ist bis heute in der Staatsbibliothek verwahrt."

    In China wiederum wurden die Drechselarbeiten mit in Glaskugeln verschlossenen Figuren aus Berchtesgaden sehr geschätzt. Aus den Palastsammlungen Peking stammt eine Armillarsphäre mit Sonnenuhr. Kostbare Lackarbeiten, Kupferstiche, Fächer und chinesisch inspiriertes Meißner Porzellan oder eine aus Elfenbein geschnitzte Pagode geben ein umfassendes Bild vom wechselseitigen Einfluss auf die künstlerische, kunsthandwerkliche und wissenschaftliche Produktion in Ost und West.

    Eine regelrechte China-Mode kam im 17./18. Jahrhundert auf:

    "Einmal kam sie an den Münchner Hof durch den Kurfürsten Max Emanuel der chinesische Objekte kaufte, um seine Räume oder Pagodenburgen, wie man sie heute noch sieht, in Nymphenburg einzurichten. Das war der höfische Einfluss der Chinamode. Dann im 18. Jahrhundert, ab 1727, machte sich das sehr breit. Durch Reiseberichte hatte man bestimmte Vorstellungen und das wurde kopiert auf Möbel, Fayencen und Porzellan und somit kam es einer breiteren Bevölkerungsschicht auch zugute."

    Andererseits wurden europäische Kunstrichtungen oder Kunstattribute nach China exportiert, beispielsweise die Rokokopaläste, die sich der chinesische Kaiser einrichten ließ, oder die Glaswerkstätten. Von den Jesuiten lernten die Chinesen, wie man Glas herstellt und bemalt oder auch Vorstufen des Emails, des berühmten chinesischen Cloisonnée-Emails. Europäische Automaten wurden nachgebaut und die in Peking entstandenen Uhren sahen – bis auf einige Schmuckattribute – den Augsburger Uhren ganz ähnlich.

    Obwohl das Katalogbuch fast 600 Seiten hat, erlaubt es durch seine Untergliederung in fünf übersichtliche Sektionen ein selektives Lesen über den Zauber der chinesischen Exotika, den regen Wissensaustausch und die Chinoiserie bis hin zur Reise Prinz Rupprechts von Bayern nach Tsingtau und Pelking 1903. Es ist ein schöner Zufall, dass genau hundert Jahre nach der ersten großen Münchner Ausstellung ostasiatischer und japanischer Kunst in diesem Jahr ein voluminöses kulturhistorisches Kompendium zu den Wechselbeziehungen zwischen Europa, hier: Bayern, und dem Reich der Mitte vorliegt, das auch über die beeindruckende Ausstellung des Bayerischen Nationalmuseums hinaus breite Geltung haben wird.

    Die Wittelsbacher und das Reich der Mitte. 400 Jahre China und Bayern. Katalogbuch zur Ausstellung im Bayerischen Nationalmuseum München 2009. 588 S. Preis: 55,- Euro

    Mazu, Chinesische Göttin der Seefahrt. Dargestellt an der Holzschnittfolge Die feierliche Begrüßung der Mazu von Lin Chih-hsin, begleitet von Pilgerstäben des Künstlers Ludwig Denk. Katalogbuch zur Ausstellung im Staatlichen Museum für Völkerkunde München 2009. 143 S. Preis: 34,90 Euro.