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Der Zöllner der Malerei

Als "Père Rousseau" verehrten ihn die jungen Avantgarde-Künstler, als "Zöllner" titulierte der Dichter Guillaume Apollinaire liebevoll den kleinbürgerlichen Dilettanten. Heute gilt Henri Rousseau als Anreger vieler berühmter Künstler, etwa von Pablo Picasso, Fernand Léger, Franz Marc oder Max Ernst.

Von Carmela Thiele | 02.09.2010
    "Wir sind die zwei größten Maler der Epoche, du im ägyptischen Genre und ich im modernen Genre."

    Der französische Künstler Henri Rousseau, berühmt geworden mit seiner naiv wirkenden Malerei, litt nicht an mangelndem Selbstbewusstsein. Was er jedoch an Picassos Kunst ägyptisch fand, das kann heute niemand mehr nachvollziehen. Immerhin hatte Rousseau als einer der wenigen schon 1908 bemerkt, dass der junge Picasso Karriere machen sollte. Der verehrte nun wiederum den sehr viel älteren "Père Rousseau", dem er ein legendäres Bankett in seinem Atelier ausrichtete. Die Schriftstellerin Gertrude Stein schrieb über das Fest:

    "Rousseau spielte strahlend vor Glück auf seiner Geige und erzählte von den Stücken, die er geschrieben hatte und von seinen Erinnerungen von Mexiko."

    Mexiko? Henri Rousseau wurde 1844 als Sohn eines Klempners in Laval im Nordwesten Frankreichs geboren. Nach mehrjährigem Militärdienst trat er 1871 eine Stelle bei der städtischen Zollbehörde in Paris an. In jener Zeit begann Rousseau zu malen, zu komponieren und zu dichten. Frankreich hat er jedoch nie verlassen; er suchte Inspiration in Büchern, in den Zoologischen und Botanischen Gärten von Paris. Seine berühmtesten Bilder, die großformatigen Dschungelszenen, nährten allerdings die von seinem Freund und Bewunderer Guillaume Apollinaire – und offenbar vom Künstler selbst - in die Welt gesetzte Behauptung, er sei als Soldat in exotischen Ländern gewesen. In Wahrheit sind seine Bilder raffiniert aus unterschiedlichsten Vorlagen zusammen komponierte Collagen. Bekannt wurde Rousseau 1905 mit dem Bild "Der hungrige Löwe wirft sich auf die Antilope".

    "Der hungrige Löwe stürzt sich auf die Antilope, er zerfleischt sie; der Panther erwartet ängstlich den Augenblick, wo auch er seinen Anteil abbekommt. Raubvögel haben dem Tier, das eine Träne vergießt, oben ein Stück Fleisch herausgerissen! Sonnenuntergang!"

    Rousseau selbst beschreibt ein Geschehen, das im Bild jedoch von der gewaltigen Präsenz einer üppigen Vegetation überlagert wird. Die riesigen Blätter in den unterschiedlichsten Formen und Grüntönen verdecken nahezu die dramatische Szene. Kein Windhauch, kein Schatten. Der Künstler Robert Delaunay urteilte in einer Zeitschrift 1920 über die Malweise Rousseaus:

    "Rousseau kopiert nicht die äußere Wirkung eines Baums; er schafft ein inneres und rhythmisches Ganzes, das die wahre, reine, essenzielle Beziehung zwischen einem Baum und seinen Blättern im Wald darstellt."

    Was die Künstler der Avantgarde an der Malerei des "Zöllners" Rousseaus begeisterte, war seine primitive Darstellung der Dinge, die gepaart war mit einer virtuosen Malweise, die er sich selbst beigebracht hatte. Daraus ergab sich eine neue Form des gesteigerten Realismus und Wahrhaftigkeit. Rousseau malte Stadtansichten, Porträts, Dschungelbilder und traumhaft wirkende Szenen.
    Picasso erwarb als junger Mann mehrere Bilder Rousseaus. Ein Frauenporträt hielt er bis ins hohe Alter in Ehren.

    "Das erste Werk, des Zöllners, das ich mir verschaffen konnte, weckte eine nagende Sehnsucht in mir. Ich ging durch die Rue des Martyrs. Ein Trödler hatte entlang einer Ladenfront einen Haufen Bilder aufgestellt. Ein Kopf lugte hervor, das Gesicht einer Frau, harte Augen, ein durchdringender Blick, Entschlossenheit und Klarheit. Die Leinwand war riesig. Ich erkundigte mich nach dem Preis. "Hundert Sous" erwiderte der Händler, "Sie können sie übermalen"."

    Die Bilder des Zöllners waren damals wenig wert, heute erreichen sie Höchstpreise. Als Henri Rousseau am 2. September 1910 in Paris im Alter von 66 Jahren an einer Blutvergiftung starb, langte das Geld nur für ein Armenbegräbnis. Nach seinem Tode wuchs sein Ruhm schlagartig. Der Kunsthistoriker Wilhelm Uhde veröffentlichte ein Jahr darauf die erste Monografie über den Außenseiter. 1912 konnte Delaunay mit dem Verkauf zweier Bilder Rousseaus eine Grabstätte kaufen. Die Inschrift für den Stein dichtete Apollinaire, in den Block schlug sie einer der herausragenden Bildhauer des 20. Jahrhunderts, Constantin Brancusi.

    "Lieber Rousseau, wir grüßen dich / du hörst uns doch?/ Lass unsere Koffer zollfrei durch die Himmelspforte/ Wir bringen dir Pinsel, Farben und Leinwand/ Auf dass du deine heilige Freizeit im Lichte der Wahrheit verbringest/ Mit Malen – so wie du einst mein Porträt gemalt hast/ Im Angesicht der Sterne."